Der Mann steht am Rande des Kreises und spürt doch, wie die Menschen um ihn herum sich bewegen. Leise stampft er von einem Fuß auf den anderen und klinkt sich dann in den Klang der Gruppe ein, jeden seiner rauhen Basstöne mit einem fröhlichen Aufschwung seines Instrumentes unterstreichend. Er scheint völlig hingegeben an das eigene Tun inmitten des gemeinsamen Musizierens.
Es ist Donnerstag Abend und im Konzerthaus Dortmund lädt das Team der Community Music zur Jam Session ein. Seit 2019 ermöglichen Matthew („Matt“) Robinson, Marleen Kiesel und Elisa Beck mit dem Brückviertel Jam, einer Streetband und diversen Singangeboten für Jung und Alt allen Interessierten das Erlebnis musikalischer Teilhabe. Erklärtes Ziel, so Intendant Raphael von Hoensbroech im Gespräch mit der nmz, sei es, „dass wir Musik als Tool nutzen und damit Menschen erreichen“. In der in England vor etwa 50 Jahren entstandenen Community Music geht es darum, mittels Musik das Selbstvertrauen und die Lebensqualität von Menschen zu fördern, Verbindungen zu stiften, ungleiche Communities zusammenzubringen und neue zu bilden. Die Tätigkeit der zum Musizieren animierenden „Facilitators“ ist daher vorrangig auf die Beziehungsqualität ausgerichtet: „Proaktiv auf die Menschen zugehen und eine Atmosphäre aufbauen, in der sich alle wohlfühlen“, so beschreibt Marleen Kiesel die Haltung, mit der sie sich den Teilnehmenden des Community Choirs zuwendet.
Wie gut das gelingt, zeigt sich am Beispiel der Frau, die inmitten der 15 Teilnehmer*innen sitzt und zunächst nur lauschend und etwas scheu um sich blickt; es umwogt sie eine bunte Klangmischung aus Akkordeon, Kontrabass, Posaune, Gitarren, Geigen, Klavier, Cajon und Trommeln. Irgendwann beugt sie sich vor und angelt aus der Fülle an einladenden Instrumenten, die in der Mitte des Kreises ausgebreitet sind, eine Rassel heraus. Damit gleitet sie in das Metrum der Gruppe hinein und ihr Gesicht überzieht ein glückliches Strahlen, als sie hört, wie ihr Klang zum Teil des Gesamtklanges wird.
Es ist diese „Resonanzerfahrung“ (so der Begriff Hartmut Rosas), die Community Music einzelnen Menschen ermöglichen will, die in der zunehmenden Individualisierung unserer Gesellschaft vereinsamen, ebenso wie Gruppen von Menschen, denen gesellschaftliche Mitbestimmung und Teilhabe erschwert wird. Wichtige Voraussetzung dafür ist, die Menschen in ihren Communities zu erreichen, über Schlüsselpersonen Vertrauen aufzubauen und Kontakt herzustellen. „Das heißt auch, dass wir im ersten Schritt die Leute gar nicht zu uns ins Haus einladen, sondern erstmal woanders hingehen“, so Raphael von Hoensbroech. Matt Robinson und seine Kolleginnen besuchen Kindergärten und Seniorenheime, Obdachlose und Geflüchtete, und sie gehen „Klinken putzen“: 572 Wohnungen in der unmittelbaren Umgebung des Konzerthauses haben sie mit der Ukulele in der Hand und einem Lied auf den Lippen abgeklappert, denn, wie der Intendant zu Beginn seiner Dortmunder Tätigkeit 2018 erkennen musste, „wir fanden das Umfeld schwierig, aber das Umfeld findet uns genauso schwierig“.
Perspektivwechsel
Ein Perspektivwechsel sei nötig, um die erwünschte Augenhöhe in der Begegnung mit anderen zu ermöglichen, ein Perspektivwechsel auf die Rolle der Musik, die vom passiv-konsumierbaren Kulturobjekt zum Medium aktiven, gemeinsamen Handelns wird, aber ebenso ein Wechsel des Blickes auf andere Menschen: weg von einer kalibrierenden, hierarchisierenden Einordnung des Gegenübers, hin zu einer „Gottesperspektive“, aus der man erkennt, „dass jedes Kind, dass jeder Mensch aufgrund von Lebensumständen da gelandet ist, wo er ist“.
Während Raphael von Hoensbroech in Dortmund diese Worte formuliert, spielt das Ensemble des Schauspielhauses in Bochum Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“. Die im gehobenen Bürgertum lebende Hauptfigur Protassow ruft angesichts der ihn bedrohenden Unruhen im Volk aus: „Zwischen uns und den gewöhnlichen Leuten ist in der Tat eine weite Kluft … und es muss etwas geschehen, um das Volk uns näherzubringen“. In diesem aus der Ignoranz des Elfenbeinturms heraus geäußerten Satz sind die Problematik und die Herausforderung der Community Music und jeder anderen sozialen Arbeit enthalten: Wie kann Augenhöhe gelingen, wenn man aus unterschiedlichen Höhen aufeinander zugeht? Wer spricht die Einladung zur Augenhöhe aus, wer folgt ihr? Aus welcher Richtung kommend wird die Schwelle zwischen den Communities überschritten? „Musik für Alle“, wie es das Nashorn vor dem Konzerthaus Dortmund postuliert, wird es erst geben, wenn ‚alle‘ wirklich ‚alle‘ bedeutet, wenn in der Jam Session Geflüchtete Dortmunder Urgesteinen begegnen, wenn Rotarier mit Obdachlosen musizieren, wenn Jugend-musiziert-Gewinner*innen von Mitgliedern der Streetband lernen, was auf ihrem Instrument alles möglich ist.
Ein Anfang dazu ist in Dortmund bereits gemacht. Zum Community Choir findet sich eine Dame ein, die sich selbst als „regelmäßige Konzerthausbesucherin und langjähriges Mitglied in diversen Kirchenchören“ beschreibt, aber zunehmend unzufrieden mit der Wiederholung des immer gleichen Repertoires war und unter einer „Angst vor falschen Tönen“ litt. „Ich wollte einfach mal schallern!“, fasst sie ihren Wunsch, unbeschwert und frei singen zu dürfen, kurz und knapp zusammen und das tut sie nun hier mit voller Inbrunst. Auch die Ermutigung von Marleen Kiesel, sich zum besseren Halten der Melodiestimme im Kanon „ruhig mal wie ein Rudel zusammenzurudeln“ und die sich dadurch sprachlich zeigende Nähe zum „Rudelsingen“ macht deutlich, was Menschen in Community-Music-Aktivitäten suchen und finden und was sie offensichtlich im traditionellen Musikbetrieb vermissen. „Großartige Musik machen, Spaß haben, inspirieren und etwas verändern“, benennt Matt Robinson seine Wünsche; die man, die entsprechende Haltung und Hingabe vorausgesetzt, mit Community Music ebenso wie mit hochprofessionellen Symphoniekonzerten und Liederabenden erfüllen kann.
So sind denn auch die Lebensläufe der drei in Dortmund wirkenden Community Musicians so vielfältig wie die Verortung von Musik in unserer Gesellschaft. Elisa Beck studierte Musikjournalismus und Musikpädagogik, bevor sie als Volontärin zum Community Music Team des Konzerthauses kam, Marleen Kiesels Weg verlief vom Bayerischen Landesjugendorchester über den Schuldienst im Lehramt Musik, einer Berufstätigkeit als Chorleiterin bis zur Musiktheatervermittlung an der Staatsoper Hannover und bildet damit einen großen Teil der Bandbreite von Community Music Aktivitäten ab. Matt Robinson schließlich entdeckte als 15-jähriger Jugendlicher in einem industriell geprägten Teil von England durch den Kontakt zu einer Community Music Gruppe die Klarinette und darüber die Welt der Musik für sich. Inzwischen führen ihn seine Projekte von Lancaster nach Hongkong und Norwegen und wieder zurück nach Dortmund. Um auch anderen jungen Menschen die Perspektiven einer Berufstätigkeit im Bereich Community Music aufzuzeigen, gibt es einen regen Austausch zwischen dem Dortmunder Team und Alicia de Bánffy-Hall, die an der Hochschule Düsseldorf den Studiengang Musik in der sozialen Arbeit / Community Music leitet (siehe das Interview auf Seite 15). Dessen Studierende sammeln in Dortmund erste Praxiserfahrungen, die durch Lehrveranstaltungen von Matt Robinson an der Düsseldorfer Hochschule ergänzt werden.
Wer zieht nach?
Denn auch wenn man in Dortmund mit einem gewissen Stolz darauf blickt, dass die am Konzerthaus eingerichtete Stelle für Community Music die deutschlandweit erste ihrer Art war, ein Engagement, für das die Commerzbank Stiftung für Kulturvermittlung das Haus mit einem Preis für erfolgreiche institutionelle Kulturvermittlung im urbanen Raum auszeichnete, so möchte man doch auch, dass die erfolgreich umgesetzte Idee „Kinder bekommt“, wie Raphael von Hoensbroech es ausdrückt, dass also auch andere Institutionen, etwa die Elbphilharmonie Hamburg, vergleichbare Angebote einrichten. Damit an immer mehr Orten in Deutschland Menschen in einer Community zusammenfinden um miteinander zu musizieren und damit sich Momente ereignen wie dieser:
Nach einer langen, klangerfüllten und aktiven Zeit geht während der Jam Session „ein Engel durch den Raum“; alle horchen in die unvermittelt entstandene Stille. Sie klingt nach, bis jemand eine Saite zupft und ein neuer Ton entsteht. Ein zweiter Ton kommt als Quinte hinzu einmal, zweimal, dreimal. Die Cajón stimmt ein, macht aus dem melodischen Intervall ein rhythmisches Motiv. Der Pianist fragt kurz „Tonart?“ dann kommen die Harmonien hinzu, die Geige erhebt sich zu einer Melodie, die Gitarren sind nun auch dabei und da ist er wieder, der Klang aller, der den Raum erfüllt. Als die Session begann, schauten viele der Teilnehmenden auf den Boden, mieden Blickkontakt, waren auf sich und ihr eigenes Instrument konzentriert, die Gesichter ernst, die Körper leicht angespannt. Nun, eine Stunde später, wenden sie sich mit offenen Gesichtern einander zu, schauen sich in die Augen, tauschen Blicke und ein Lächeln, bewegen sich gemeinsam zur Musik. Matt Robinson: „That’s what is so wonderful about this work: you really see people transform.“
In diesem Potenzial, Menschen und damit die Gesellschaft zu verändern, liegt der Bildungsaspekt von Community Music und es ist dem Dortmunder Team, diesen „wunderbaren Menschen“ (R. v. Hoensbroech) ebenso wie der Dortmunder Bevölkerung zu wünschen, dass private und kommunale Geldgeber*innen dies erkennen und die zunächst auf drei Jahre ausgelegte Pilotphase der Community Music in eine Verstetigung überführen.