Musikvermittlung – lange war dies das Zauberwort im klassischen Musikbereich, das Antwort auf rückläufige Besucherzahlen, Überalterung des Publikums, museale Erstarrung der Betriebe geben und der „Krise“ der klassischen Musik Einhalt gebieten sollte. Dass es sich bei diesen Bestrebungen nicht nur um ein Trendphänomen handelte, zeigt der Blick ins Organigramm der meisten deutschen Musikinstitutionen: In allen großen Opernhäusern, etablierten Orchestern, bekannten Fes-tivals und vielen freien Ensembles ist Musikvermittlung längst als eigenständige Abteilung fest integriert.
Der gleiche Blick auf die internationale, professionelle Chorszene überrascht, sucht man hier Education-Abteilungen oder innovative Musikvermittlungsprojekte – mit wenigen, jedoch ausgezeichneten Ausnahmen – meist vergebens. Dem Eindruck, dass das Thema noch recht stiefmütterlich behandelt wird, widerspricht Babette Greiner, Geschäftsführerin von Tenso, dem europäischen Netzwerk für Profikammerchöre: „Es gibt eine Menge Chöre, die sich engagieren. Leider gehen in der Öffentlichkeit die Bemühungen und Projekte oft unter und bleiben unbemerkt. Wir als Netzwerk wollen sie sichtbar machen, sodass auch weitere Chöre inspiriert werden.“ Denn gerade für Chöre liegt in diesem Bereich gro-ßes Potential: Während für Orchestermusiker inszenierte Konzerte eine Herausforderung darstellen können, müssen sich Chorsänger keine Gedanken darüber machen, wie sie Kontrabass, Pauke oder gar eine Harfe szenisch in Bewegung setzen. Auch müssen für Schulprojekte nicht erst teure Klassensätze an Instrumenten besorgt werden; alles was benötigt wird, hat jedes Kind schon mit dabei.
Herausforderung Chormusik
Das Anleiten zum fach- und kindgerechten Gebrauch der Stimme und auch die Kunst, junge Menschen für Chormusik zu begeistern, stellt allerdings vor ganz eigene Herausforderungen. Gerade für Kammerchöre kann dies organisatorisch, personell sowie finanziell an strukturelle Grenzen führen, weshalb die fehlenden Musikvermittlungsabteilungen nicht verwunderlich sind. „Wir wollen unseren Mitgliedern und der Chorszene Impulse geben, ihnen Werkzeuge an die Hand geben, um mehr Projekte zu entwickeln, die Kinder und Jugendliche begeistern. Werkzeuge, die den Chören zeigen, dass dieses Engagement nicht ihr Wirken auf musikalisch hohem Qualitätslevel beeinträchtigt“, insistiert Geschäftsführerin Greiner und stellte das Thema Musikvermittlung auf die Agenda des alljährlichen Tenso Professionals Meeting. Mit diesem Schritt setzte das Netzwerk, welches sich neben der Vernetzung ihrer Mitglieder sowohl der zeitgenössischen Chormusik, als auch der Nachwuchsarbeit verschrieben hat, ein bewusstes Zeichen.
Dass der Tagungsort dabei auf Porto fiel, war sicher nicht dem Zufall geschuldet. Das Konzerthaus Casa da Música feierte sein zehnjähriges Bestehen und demonstrierte programmatisch mit einem überwältigenden Angebot den bereits in der Architektur des Hauses angelegten Gedanken der gesellschaftlichen Öffnung. Im Rahmen der Konferenz gewährten Rui Pereira, Programmchef des Bereichs Klassik, und Jorge Prendas, Leiter der Education-Abteilung, Einblicke in die Arbeit ihres Hauses. Dass die europaweit renommierten Projekte institutionell der künstlerischen Direktion zugeordnet sind, ließ aufhorchen. Während Musikvermittler oft ein satellitartig abgeschottetes Dasein innerhalb ihrer Organisation fristen und für ihr Anliegen sogar innerbetrieblich kämpfen müssen, scheint diese institutionelle Verankerung in der hierarchisch gleichwertigen Artistic and Education Direction ein fruchtbarer Boden zu sein. Wenngleich die vokale Musikvermittlung eine eher untergeordnete Rolle spielt, versetzten die Breite, die Qualität und Innovation der Education-Projekte in Staunen und gaben eine Vorstellung davon, was Musikvermittlung sein und leisten kann. Wie sich die Arbeit im Konkreten bei einem Chor gestaltet, wurde an weiteren Best Practice Beispielen des englischen Kammerchors „The Sixteen“ gezeigt. Dass England in Sachen Musikvermittlung zu den Vorreitern gehört, ist längst kein Geheimnis mehr. Kulturpolitisch tief verankert, setzt die englische Musik- und Vermittlungsszene insbesondere auf Kooperationsarbeit. So werden fast alle Vermittlungsprojekte des Chors in Partnerschaft mit anderen Institutionen umgesetzt, was eine breitere Wirkung ermöglicht.
Auch bei „The Sixteen“ ist Musikvermittlung integraler Teil des Managements. Der Chor bietet verschiedenste Projekte für eine Altersspanne von 0 bis 18 Jahren an. Das Projekt Schools’ Matinee – der nationalen Singbewegung SingUp! untergeordnet – weist hierbei in vielen Punkten eine hohe strukturelle Vergleichbarkeit mit dem großangelegten Singprojekt Cantània des Konzerthauses L’Auditori de Barcelona auf. Beide vorgestellten Projekte streben ein substantielles wie nachhaltiges Wirken an und setzen auf die Aus- und Weiterbildung der vokalen Kompetenz von Grundschullehrern. Das L’Auditori blickt dabei auf eine 26-jährige Erfahrung zurück und exportierte das Modell bereits nach Deutschland, Italien, Belgien, Mexiko und Venezuela. Diese Form der grundständigen vokalen Bildungsarbeit markiert eine erfreuliche Tendenz, denkt man allein an die zahlreichen Projekte in Deutschland wie etwa Primacanta, Carusos, SMS – Singen macht Spaß. Wobei diese Tendenz sicher in ihrer Balance kritisch beobachtet werden sollte, birgt sie doch die Gefahr, dass sich politische Verantwortungskompetenzen verschieben und Trennlinien verwischen. Sollte nicht verstärkt in die Ausbildung von Musiklehrern investiert werden, statt Bildungsfördertöpfe für Musikklangkörper bereit zu stellen, tönt hier oft die kritische Frage. Die Antwort könnte in einer guten wie bewussten Balance liegen, da beide Bereiche symbiotisch verbunden sind.
Die Einladung des jungen finnischen Musikvermittlers und -unternehmers, Jussi Rauvola, zeugt von der Breite der Konferenzthemen und dem Weitblick der Organisatoren: Sein Unter-nehmen Kipinä Productions, übersetzbar mit dem metaphorischen Begriff des Funkens, richtet sich mit Workshops zur pädagogischen Weiterbildung, Teambuilding und Leadership, Konzeptentwicklung und Marketingstrategien an Profimusiker und Ensembles. Gerade im Musikvermittlungsbereich fühlen sich Orchester- und Chormusiker oft vor den Kopf gestoßen, wenn sie plötzlich, nach jahrelangem Schutz im Gemeinwesen des Ensembles, alleine vor 30 Schulkindern beispielsweise Guillaume de Machauts „Messe de Nostre Dame” eben Funken überspringend vermitteln sollen. „Eigentlich versuchen wir unsere Klienten so zu unterstützen, dass sie unsere Dienste nicht mehr brauchen, was wohl nicht sehr unternehmerisch ist“, scherzte der Finne und referierte mit analytischer Klarheit über sich verändernde gesellschaftliche Bedürfnisse und hierarchische Kommunikationsstrukturen des tradierten Konzertformats.
Inszenierte Konzerte
Der holländische Regisseur und Sänger Marc Pantus öffnete ein weiteres großes Feld der Musikvermittlung: inszenierte Konzerte. Obwohl es dem Vortrag im Vergleich zu den Vorreden bisweilen an klarer Struktur fehlte, wurde die angerissene These, dass inszenierte Konzerte vornehmlich zum Ideal des kontemplativen Hörens führen sollen, intensiv aufgegriffen. Die Diskussion zeugte von verschiedenen grundlegenden Musikkonzepten, die sich in der Annahme, dass die Autonomie der Musik durch die Erweiterung zusätzlicher Erlebnisebenen nicht angegriffen, sondern auch bereichert werden kann, kontrastiv gegenüber standen. Als Referenzbeispiel solcher sinneserweiternden Inszenierungen wurde zu Recht auf die Pionierarbeit des Berliner Rundfunkchors verwiesen, der etwa mit einer szenischen und räumlichen Interpretation des Johannes Brahms’schen „Ein deutsches Requiem“ als human requiem seinen Konzertbesuchern neue Erlebnisdimensionen eröffnet.
Durch solche Diskussionen und die Konferenz insgesamt führte die sonore Bass-Stimme des Moderators Neil Wallace. Mit seiner fachlichen Expertise als Programmdirektor des Konzerthauses De Doelen und Mitbegründer der International Choral Biennale in Haarlem forderte er die Teilnehmer auch auf, anhand einer SWOT-Analyse über die Alleinstellungsmerkmale und Herausforderungen der Chormusik nachzudenken. Transfereffekte wie das Stiften von Gemeinschaftssinn oder die Persönlichkeitsentwicklung, welche im Diskurs von Musikvermittlung und kultureller Bildung immer präsent sind, wurden auch bei dieser Übung für die Chormusik geleistet. Fast progressiv hingegen war die Idee, Komponisten mit Aufträgen stärker einzubinden, um den Vorteil der räumlichen Beweglichkeit von Chören sowie das niederschwellige Potential des Singens durch die kompositorische Zusammenführung von Laiensängern und Profiensembles auszunutzen und somit dem Aschenputtel-Dasein der Chormusik innerhalb der von Orchestern dominierten Szene entgegenzuwirken.
„Für unseren Chor ist die wichtigste Botschaft aus Porto eigentlich etwas Essentielles: Musikvermittlung kann ein integraler Teil deiner Organisation werden, wenn du bereit bist, sie als eine Haltung zu begreifen. Dann kann sie eine Quelle der Möglichkeiten, der Inspiration und Kreativität sowohl für Sänger, Mitarbeiter und Publikum werden. Und Kreativität ist schließlich der Samen aller Antworten, egal wie schwierig die Fragen oder Herausforderungen sein mögen“, resümiert Tido Visser, Manager des international renommierten Nederlands Kamerkoor. Und tatsächlich, wenn diese Botschaft selbst die für die Ausrichtung eines Chores entscheidende Managerebene durchdringt, kann man gespannt sein, was aus den Samen, die bei der Kon-ferenz gesät wurden, in der Zukunft wachsen wird. Eines ist sicher: Das Feld ist bestellt.