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Noch ein Unwort: Musikalische Kompetenz

Untertitel
Wenn musikalische Fertigkeiten und Fähigkeiten zum Gradmesser für Bildungsstandards werden
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Ende 2010 haben die Leser der nmz entschieden: „Grundmusikalisierung“ ist das Musik-Unwort des Jahres, gefolgt von „JeKi“ und „(Musik-)Vermittlung“. Schlimm genug, dass alle drei „Sieger“ mehr oder weniger dem musikpädagogischen Bereich entstammen! Es steht zu befürchten, dass man die Liste solcher Kandidaten auch für 2011 noch problemlos vergrößern könnte, und leider ist auch die Musikpädagogik wieder dabei. Das Problem ist ja nicht, oder jedenfalls nicht in erster Linie, dass solche (Un-)Wörter zumeist dem Ohr weh tun, und dass sie zur bloßen bildungspolitischen Floskel verkommen (das allein wäre natürlich schon schlimm genug). Sie können auch erheblichen Schaden anrichten, was ich am Beispiel des schon länger kursierenden Begriffes „Musikalische Kompetenz“ hier kurz andeuten möchte.

 

Worum geht es? Nach dem schlechten Abschneiden deutscher Schüler in der PISA-Studie von 2001 erschien als Reaktion 2003 im Auftrag des damaligen Bildungsministeriums die so genannte Klieme-Expertise, in der eine Gruppe namhafter Wissenschaftler radikale Veränderungen im deutschen Schulsystem vorschlug. Im Mittelpunkt dieser Veränderungen soll die Orientierung schulischen Lehrens und Lernens am Ergebnis stehen, am so genannten Output. Dieser Output wiederum soll in Form von „Bildungsstandards“ beschrieben werden, die möglichst präzise festlegen, was bis zu einem bestimmten Zeitpunkt von möglichst allen Schülern gelernt werden soll. Damit dies möglich ist, müssen die Bildungsstandards so formuliert werden, dass sie auch überprüfbar sind. Überprüfbar sollen sie sein, indem sie in Form von „Kompetenzen“ beschrieben werden, deren Erwerb wiederum in geeigneten Testverfahren nachgewiesen werden kann. Diese Testverfahren sollen dazu dienen, ganz gezielt bestimmte Schwächen innerhalb des Schulsystems aufzuzeigen und damit auch Wege zu ihrer Überwindung zu eröffnen.

Begriffsunschärfen

Zu diesem Ansatz insgesamt könnte man nun eine Menge schreiben, was ja auch schon getan wurde. Bleiben wir aber hier beim zentralen Begriff der Kompetenz. Kompetenz kann zunächst einmal alles Mögliche bedeuten. Juristisch gesehen ist jemand kompetent, wenn er befugt ist, dies oder jenes zu tun. In der Linguistik unterscheidet man seit Noam Chomsky zwischen Kompetenz und Performanz. Und in der Berufspädagogik spricht man von Sach-, Methoden-, Sozial- und Personalkompetenz1. In Deutschland hat man sich nun entschlossen, das gesamte Schul- und auch Hochschulwesen am Vorschlag der OECD auszurichten, und „Kompetenz“ als Ersatz für den Begriff der Leistung zu benutzen. Maßgeblich ist hier die Definition geworden, die vom Psychologen Franz E. Weinert stammt. Unter einer Kompetenz verstehen die Autoren der Klieme-Expertise im Anschluss an Weinert „die bei Individuen verfügbaren oder von ihnen erlernbaren kog­nitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“2. Zur Kompetenz gehören weiterhin noch unter anderem Aspekte wie Wissen, Verstehen, Handeln und Erfahrung3.

Man muss jetzt gar nicht en detail auf diese Bestimmung eingehen, um feststellen zu können, dass es sich hier nicht um eine Definition von „Kompetenz“ handelt, die strengen Anforderungen an eine wissenschaftliche Definition genügen würde. So wäre beispielsweise über die Bedeutung der Adjektive „erfolgreich“ oder „verantwortungsvoll“ erst einmal ein Konsens herzustellen, und es ist auch nicht sehr hilfreich, so umstrittene Begriffe wie „Verstehen“ oder „Erfahrung“ zur Klärung eines anderen Terminus heranzuziehen. Man kann sich nur darüber wundern, dass eine solche Definition die Grundlage für Bildungsstandards darstellt, die wiederum ein „zentrales Gelenkstück“ für die „Sicherung und Steigerung der Qualität schulischer Arbeit“ sein sollen4. Alles in allem handelt es sich hier eher um eine Sammlung von sicherlich nützlichen Eigenschaften, die jemand besitzen muss, wenn er oder sie bestimmte Probleme lösen möchte. Und dies ist denn auch, lässt man die kognitive Engführung einmal beiseite, der entscheidende Punkt: Kompetenz ist hier immer nur Problemlösungskompetenz. Alle anderen denkbaren Auffassungen von Kompetenz (siehe oben) spielen gar keine Rolle – dafür mag es Gründe geben, die aber nicht weiter ausgeführt werden.

Was, so müsste man zumindest fragen, sind denn aber nun musikspezifische Probleme, zu deren Lösung eine oder mehrere Kompetenzen beitragen sollen? Dass es solche Probleme gibt, ist unbestreitbar, ebensowenig, dass in der Schule permanent Probleme konstruiert werden, auch wenn diese, wie etwa im Projektunterricht, möglichst lebensnah inszeniert werden sollen. Es bleibt aber äußerst fraglich, ob dieser problemorientierte Ansatz in den Mittelpunkt musikdidaktischer Überlegungen rücken sollte5, oder ob nicht die Musikdidaktik gut daran täte, einen ganz eigenen, fachspezifischen Begriff von „Musikalischer Kompetenz“ zu entwickeln. Mit Verblüffung muss man allerdings feststellen, dass diese Frage in der musikpädagogischen Literatur so gut wie gar nicht diskutiert wird. Wirft man zum Beispiel einen Blick in aktuelle Lehrpläne, so fällt auf, dass die von Klieme unter anderem geforderte Problemlösungskompetenz, die sich in unbestimmter Form durch bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten et cetera aufbaut, kurzerhand durch eine bloße Aufzählung einzelner musikalischer Tätigkeiten ersetzt wird! Die Orientierung an Problemlösungen wird also einfach fallen gelassen, so dass lediglich musikalische Fähigkeiten und Fertigkeiten übrig bleiben. Dies wäre nun an sich vielleicht kein Schaden, aber diese Reduzierung zieht noch beträchtliche Folgen nach sich: Wissen, Verstehen, Handeln, Erfahrung – also allesamt gewichtige und komplexe Zielvorstellungen musikpädagogischen Lehrens und Lernens – werden auf diese Weise zu bloßen Hintergrundaspekten des Kompetenzerwerbs und verlieren in den Lehrplänen ihren zentralen Platz.

Die Kompetenzen – die eigentlich gar keine sind −, denen man nun begegnet, sind in aller Regel alte Bekannte: Produktion, Reproduktion, Rezeption, Transposition und Reflexion (und ihre Varianten) existieren als Umgangsweisen mit Musik seit Dankmar Venus’ „Unterweisung im Musikhören“ (1969) und haben weiteste Verbreitung in den deutschen Lehrplänen gefunden. Problematisch war aber immer schon, dass diese Umgangsweisen oftmals genauso isoliert nebeneinander aufgeführt wurden, wie momentan die Kompetenzen. Von Heinz Antholz stammte daher seinerzeit der sinnvolle Vorschlag, solche Umgangsweisen unter einer bestimmten, nämlich pädagogischen Zielperspektive als so genannte Unterrichtsfelder zusammenzuführen („Unterricht in Musik“, 1976), was allerdings wenig Wirkung in Lehrplänen und Unterrichtsmaterialien hinterließ. So besteht schon lange zwischen der pädagogischen Ziel-Lyrik der Lehrplanpräambeln und den aufgeführten Umgangsweisen nicht nur eine logische, sondern vor allem auch eine didaktische Lücke: Welche Beziehung zum Beispiel zwischen ästhetischer Erfahrung (als Ziel) und bestimmten Umgangsweisen herrscht, wurde von den Lehrplänen niemals geklärt, ja, es bleibt sogar unbestimmt, in welchem Verhältnis die einzelnen Umgangsweisen eigentlich zueinander stehen.

Diese Lücke existierte nur dort nicht, wo die Umgangsweisen selbst zugleich Ziel und Inhalt des Unterrichts sein sollten, also vor allem im falsch verstandenen Handlungsorientierten Unterricht. Vertreter dieses Ansatzes können nun aufatmen, denn die neue Kompetenzorientierung des Musikunterrichts schreibt jetzt das fest, was sie ohnehin schon immer gedacht und getan haben: Wenn Umgangsweisen mit Musik als Kompetenzen beschrieben werden, und diese wiederum die einzige Erscheinungsform von Bildungsstandards darstellen, vereinfacht sich das musikdidaktische Geschäft in Theorie und Praxis erheblich: Sollten die Kompetenzen ursprünglich eigentlich nur Mittel zum Zweck sein, so sind sie jetzt selbst schon das Ziel des Unterrichts; Mittel und Zweck fallen hier also zusammen. Dass es so einfach zumindest in der musikdidaktischen Theorie nicht ist, sollte deutlich geworden sein. Isolierte musikalische (oder musikbezogene) Fähigkeiten und Fertigkeiten sind nicht nur gar keine Kompetenzen; sie sind auch kein Ersatz für Bildungsziele des Musikunterrichts in der allgemein bildenden Schule.

Falsches Versprechen

Alte Debatten über musikalische Bildung werden auf diese Art und Weise mit einem Schlag ad acta gelegt: Musikalisch gebildet ist, wer über bestimmte musikalische Kompetenzen verfügt: Kompetenzen hat man, sie werden im Laufe der Schulzeit kontinuierlich („kumulativ“) gesteigert, und sie können auch bei nächster Gelegenheit überprüft und getestet werden. Auf die Frage der Überprüf- und Testbarkeit musikalischer Kompetenzen möchte ich hier gar nicht weiter eingehen; die Argumente dafür und dagegen sind seit den Zeiten des lernzielorientierten Unterrichts und der Forderung nach Operationalisierbarkeit der Lernziele grundsätzlich die gleichen geblieben. Entscheidender scheint mir zu sein, dass hier unter der Hand das Bildungs-Subjekt durch das Kompetenz-Subjekt ausgetauscht wird6, nur dass es in der Musikpädagogik weniger um das Problemlösen geht, sondern vor allem um das Verfügen über bestimmte musikalische Fertigkeiten. Musikalische Bildung hat man aber nicht, sondern sie ist als fortwährender Prozess der Transformation von Wissens- und Könnensbeständen aufzufassen, bei dem es fraglich ist, ob er überhaupt noch als Prozess permanenter Steigerung – und schon gar der Kumulation − beschreibbar ist7.

Dass zur musikalischen Bildung unabdingbar auch das Können gehört, ist sicher unstrittig; vermutlich trifft auch die Beobachtung zu, dass es mit dem musikalischen Können im Musikunterricht besser stehen könnte. Problematisch ist es allerdings, wenn Bildung bereits konzeptionell durch Können ersetzt wird8. Flankiert wird dies alles noch durch hausgemachte (musik-)pädagogische Theoreme wie die Substituierung von Bildung durch Lernen im neurodidaktischen Diskurs oder die programmatische Kumulation von musikalischen Fertigkeiten im so genannten „Aufbauenden Musikunterricht“. Wenn alles schief geht, werden auf diese Weise dann aus den allgemein bildenden Schulen schlechte Musikschulen − wer könnte so etwas wirklich wollen? Fazit: Der Begriff „Musikalische Kompetenz“ verspricht mehr, als er zu halten imstande ist. Darüber hinaus richtet er Schäden an, deren Folgen derzeit noch gar nicht abzusehen sind. Also: Daumen runter − ein Kandidat mehr für das musikalische Unwort des Jahres 2011!

 

1 Vgl. ausführlich hierzu Müller-Ruckwitt, A. (2008): „Kompetenz“ – Bildungstheoretische Untersuchungen zu einem aktuellen Begriff, Würzburg
2 Klieme, E. u.a. (2009): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise (2003), Berlin, S. 72
3 Vgl. Klieme 2009, S. 73
4 Klieme 2009, S. 19
5 Vgl. dazu etwa Orgass, S. (2008): „Entwicklung von Problemlösungskompetenzen“ als schlechte Trivialisierung der Aufgabe des Musikunterrichts. Überlegungen zu einem musikpädagogischen Leistungsbegriff, in: Schäfer-Lembeck, H.-U. (Hrsg.), Leistung im Musikunterricht, München, S. 153–225
6 Vgl. z.B. Höhne, T. (2007): Der Leitbegriff „Kompetenz“ als Mantra neoliberaler Bildungsreformer. Zur Kritik seiner semantischen Weitläufigkeit und inhaltlichen Kurzatmigkeit, in: Pongratz, L.A., Reichenbach, R., Wimmer, M. (Hrsg.), Bildung – Wissen – Kompetenz, Bielefeld, S. 30–43
7 Vgl. Vogt, J. (2008): Musikbezogene Bildungskompetenz – ein hölzernes Eisen?, in: Zeitschrift für Kritische Musikpädagogik (ZfKM), http://www.zfkm.org/sonder­08-vogt.pdf, Rolle, C. (2008): Musikalische Bildung durch Kompetenzerwerb?, in: Zeitschrift für Kritische Musikpädagogik (ZfKM), http://www.zfkm.org/sonder08-rolle.pdf
8 Kritisch dazu schon Kaiser, H. (2001): Kompetent, aber wann? Über die Bestimmung von „musikalischer Kompetenz“ in Prozessen ihres Erwerbs, in: Musik & Bildung, H. 3/2001, S. 5–10

 

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