Ihre musikalischen Vorlieben entwickeln die meisten in der Pubertät. Dieses Sich-Erarbeiten des eigenen Musikgeschmacks lässt sich als ein klassischer Bildungsprozess beschreiben.
Offen für das Erlebnis des Unbekannten
Der Begriff „Bildung“ ist eine sehr deutsche Angelegenheit und nur schwer in andere Sprachen zu übersetzen. Philosophische Gedanken der Antike (Platon, Aristoteles) und des deutschen Idealismus (Humboldt, Kant), aber auch Einflüsse einer kritischen Moderne (Horkheimer, Heydorn) haben über Jahrhunderte unsere Bildungsidee geprägt. Allen diesen Ansätzen gemeinsam ist das Verständnis von Bildung als „Menschen-Bildung“ – als ein Prozess, der über (bzw. unter, vor, neben) einer schulischen, beruflichen und fachlichen Ausbildung ablaufen sollte. Bildung erreicht man, indem man sich bildet – man erwirbt sie durch geistige Arbeit. Bildung wird nicht durch andere vermittelt oder gelehrt. Sie ist stets Selbst-Bildung – und der Sich-Bildende ein „Werk seiner selbst“ (Fichte). Ziel und Zweck solcher Bildung ist weder die Wissensanhäufung noch der berufliche Erfolg, sondern eine „Erziehung zur Persönlichkeit“ (Kant). Der gebildete Mensch, so die Idee, ist mündig, informiert, kritisch und selbstkritisch, sensibel, mitfühlend und innerlich frei. Ein gefestigter Charakter, ein glückliches Individuum, ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft. In den Worten Wilhelm von Humboldts: „ein guter, anständiger, aufgeklärter Mensch und Bürger“.
Die „Bildungsdiskussion“, wie sie bei uns in den letzten 20 bis 30 Jahren geführt wird, trägt ihren Namen zu Unrecht. Wenn es um den Kompetenzerwerb von Schülern oder die Digitalisierung des Unterrichts geht, sollte man besser von einer Schul- oder Ausbildungsdebatte sprechen. Die PISA-Tests zum Beispiel, die immer wieder die Diskussion befeuern, haben mit einer Bildungsidee nichts zu tun. Hinter PISA steckt vielmehr der Wunsch, die schulische Ausbildung auf methodische Fertigkeiten zu konzentrieren, die im Sinne des Marktes wertvoll sind. PISA-Tests begreifen Schule als Trainingslager für den ökonomischen Wettbewerb, Schüler als funktionales Humankapital, Ausbildung als Erhöhung der Arbeitsmarktchancen. In den englischsprachigen Ländern spricht man im PISA-Kontext nicht von „Bildung“, sondern von „education“ – dieses Wort kommt ursprünglich aus der Tierdressur. Es ist skandalös, dass sich eine freie, demokratische Gesellschaft ihre „Bildungsdiskussion“ überhaupt von einer internationalen Wirtschaftsorganisation wie der OECD diktieren lässt. Der Kunstpädagoge Jochen Krautz nennt das Auftreten der PISA-Tester eine glatte „Kompetenzanmaßung“.
Wahre Bildung dagegen erwirbt man nicht durch methodische Fertigkeiten, sondern durch die Beschäftigung mit Inhalten. „Gebildet wird man einzig in der Hingabe an die Sache“ (Horkheimer). Wer sich auf geistige Zusammenhänge einlässt – Kunstwerke, Theorien, Biografien, Texte oder historische Sachverhalte –, wer sie mit Neugier und Interesse durchdringt, sie in alle Verästelungen verfolgt, Querverbindungen schlägt, nebenbei auch völlig Nutzloses lernt, sich all dieses Wissen zu eigen macht, es reflektiert, abwägt und kreativ umsetzt, verändert damit auch sich selbst. Persönlichkeitsentwicklung ist ein Ergebnis des Sich-Bildens. Eine solche „Hingabe an die Sache“ benötigt allerdings Zeit, Kontemplation, Muße – das ist der ursprüngliche Sinn des Wortes „Schule“ (griech. scholé): Muße haben für das wirklich Wichtige, allein und in der Gruppe. Man bildet sich, indem man Dinge produktiv miteinander verbindet, Eigenes daraus entwickelt, die Lust am Lernen entdeckt und sich darin selbst entfaltet. Selbstbildung ist ein Prozess ohne kurzfristiges und vordergründiges Ziel und ohne zeitliches Ende.
Modellfall Musikgeschmack
Ein Musterbeispiel und Modellfall des Sich-Bildens ist die Entwicklung des persönlichen Musikgeschmacks. Dabei kommt alles zum Zuge, was einen Bildungsprozess ausmacht: Neugier auf die Sache, Interesse an der Differenzierung, Vertiefung der Zusammenhänge, Wertung und persönliche Positionierung, Durchdringung und Selbstentfaltung, Lust an der Erkenntnis und emotionale Beteiligung. Die Entwicklung des eigenen Musikgeschmacks verlangt Zeiten des Rückzugs und der Muße, ist aber zugleich sozial eingebunden in gemeinschaftliche Musikerlebnisse, Meinungsaustausch und wechselseitige Anregungen. Meine musikalischen Vorlieben werden Teil meiner Persönlichkeit und meiner Selbstverwirklichung, sie sind personalisiertes Wissen – „also Wissen, das für mich irgendwie wichtig geworden ist, das mir etwas gesagt hat, mich beeinflusst, mich gar geprägt hat, mit dem ich mich beschäftigt habe, an dem ich mich abgearbeitet habe. [...] Wissen, für das man sich begeistert, das einem etwas bedeutet, über das man nachdenkt, das man kritisch hinterfragt, über das man streitet, das man immer wieder im Geiste hin und her wendet“ (Jochen Krautz, „Ware Bildung“). Die Ausbildung des eigenen Musikgeschmacks setzt gewöhnlich in der Pubertät ein und erlebt da auch ihre Hochphase. Pubertierende machen einschneidende soziale Erfahrungen, erleben ungekannte Gefühle, denken neue Gedanken. In diesem Alter sind die Lernfähigkeit, die intrinsische Neugier, die emotionale Sensibilität besonders groß. Anders als in der Schule erforschen Pubertierende die Welt der Musik ohne einen extrinsischen Zwang oder eine Benotung. Der Musikjournalist Christoph Dallach hat einmal beschrieben, wie er mit 15 Jahren den Krautrock entdeckte und sich ihm „eine neue Welt“ öffnete. Er geriet geradezu ins Lernfieber, durchforstete Plattenläden und Radioprogramme, Flohmärkte und Fachliteratur. Ganz ähnlich erleben das viele Jugendliche: Man entwickelt musikalische Vorlieben, vertieft sie, forscht ihnen nach, schlägt Querverbindungen, revidiert Urteile, sammelt Informationen, erweitert den eigenen Horizont. Meistens sind es die Gleichaltrigen, mit denen zusammen man sich über musikalische Funde begeistert, austauscht und streitet, von denen man sich Anregungen holt oder distanziert. Aber auch ältere Schüler und Geschwister, Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, Plattenverkäufer, Radiomoderatoren oder Musikjournalisten können für den individuellen musikalischen Bildungsprozess wichtig werden.
Gerade in der Pubertät ist die persönlichkeitsfördernde Wirkung musikalischer Erfahrungen kaum zu überschätzen. Musik gibt in diesen entscheidenden Jahren Trost und Orientierung und hilft, sich über schwierige Emotionen klarzuwerden. Konzentriertes Hören weckt die Lust an geistiger Anstrengung und schult die Geduld für kreative Prozesse. Die Arbeit am eigenen Musikgeschmack kann dabei durchaus zu einem „studium generale“ anwachsen. Denn bei der Durchdringung der Sache erwirbt man nicht nur Wissen über musikalische Abläufe, Instrumente, Spieltechniken, Klangformen und Theorien, sondern entwickelt ebenso ein tieferes Verständnis für Struktur und Räumlichkeit, für mathematische Proportionen und physikalische Gesetze, für biografische, literarische und historische Kontexte oder psychologische und soziale Realitäten. Nicht zuletzt fordert und fördert die musikalische Geschmacksbildung auch die sprachliche Äußerung im sozialen Austausch oder in der subjektiven Positionierung – Abstraktes und Emotionales will in Worte übersetzt werden. Bei alledem ist das Eintauchen in Musik kein stures Lernen im Sitzen, sondern eines, das in vielfacher Weise die körperliche Bewegung anregt.
Eine lebenslange Aufgabe
Das Sich-Erarbeiten und Weiterentwickeln des persönlichen Musikgeschmacks kann ein komplexer und lebenslanger Bildungsprozess sein. Durch eine immer weiter gehende Vertiefung unserer musikalischen Vorlieben vergrößern wir nicht nur unser Verständnis für künstlerische, historische oder physikalische Fragen, sondern erhalten uns auch unseren Wahrnehmungs- und Empfindungsreichtum, unsere Erlebnis- und Genussfähigkeit, unsere Fantasie und geistige Beweglichkeit. Musikalische Bildung fördert die „Bereitschaft, sich auf Komplexität einzulassen“ (Holger Noltze). Wer mit der Lust am Dazulernen in die Welt der Musik eintaucht, wird auch viele Überraschungen, Erschütterungen und Befremdungen erleben. Wenn ich ständig neuen Verästelungen und Querverbindungen nachgehe, wachsen die Vielfalt und Komplexität der Sache scheinbar immer weiter an. Musikalische Bildung hält mich offen für das Erlebnis des Unbekannten und stärkt meine Akzeptanz für Fremdes, Komplexes, schwer Erklärliches, Transkulturelles und Ungewohntes. Sie stärkt meine „Ambiguitätstoleranz“, wie der Arabist Thomas Bauer es nennt. Durch musikalische Bildung können wir uns zu aufgeklärten, toleranten Menschen entwickeln, wie eine pluralistische Gesellschaft sie braucht.
Wie alle Bildung sollte auch die Verfeinerung des personalisierten Musikgeschmacks immer weitergehen und zu keinem Abschluss kommen. Doch leider spielt im Leben vieler Menschen die musikalische Bildung nach der Pubertät kaum mehr eine Rolle. Der Neuropsychologe Daniel Levitin schreibt: „Die meisten Menschen haben ihren Musikgeschmack im Alter von 18 oder 20 Jahren ausgeformt. Grundsätzlich sind Menschen mit zunehmendem Alter weniger offen für neue Erfahrungen. In der Adoleszenz entwickeln und formen unsere Gehirne in explosivem Tempo neue Nervenverbindungen – aber nach unseren Teenager-Jahren kommt es da zu einer deutlichen Verlangsamung.“ Doch wenn wir unseren Musikgeschmack nicht immer weiterbilden, ihn vertiefen, auch in Frage stellen, korrigieren oder erweitern, lassen wir unsere musikalische Bildung verwahrlosen. Ein wichtiger Aspekt unserer Persönlichkeit droht dann verlorenzugehen – und damit eine lebendige Quelle von Glück, Begeisterung, Neugier, Selbstentfaltung, Lebensbewältigung, geistiger Regheit, Kreativität und Emotionalität.
Auch die fortschreitende Digitalisierung kann für die musikalische Bildung eine Gefahr sein. Junge Menschen sind heute nicht mehr gezwungen, ihren Musikgeschmack durch aufwendigen Lerneifer und Forschergeist zu bilden. Sie müssen sich Hörbeispiele und Informationen nicht mehr mühsam in Plattenläden, auf Flohmärkten und aus schwer auffindbaren Büchern zusammensuchen – es gibt ja das Internet. Die Digitalisierung böte zwar viele neue Möglichkeiten, am eigenen Musikgeschmack zu arbeiten, lässt diese Arbeit aber zunehmend als überflüssig erscheinen, weil musikalisch alles verfügbar und damit irgendwie gleichgültig ist. Fragt man Jugendliche nach ihren musikalischen Vorlieben, erhält man immer häufiger die Antwort: „Ich mag alles“.
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