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Offene Ohren für Klassisches bewahren

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Eine Langzeitstudie zu den Auswirkungen des Klassenmusizierens auf den Musikgeschmack
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Bisherige Untersuchungen zur Offenheit von Kindern gegenüber verschiedenen Musikstilen zeigen übereinstimmend, dass die Akzeptanz ungewohnter Stile – auch der Klassik – im Verlauf der Grundschulzeit rapide abnimmt. Eine vierjährige Langzeitstudie an Grundschulkindern mit Streicherklassen-Unterricht weist hingegen nach, dass das Interesse für klassische Musik bei den Streicherkindern nicht nachlässt.

Spezifische musikalische Vorlieben, Vorurteile und Abneigungen gehören zu den prägenden Aspekten unserer musikalischen Persönlichkeit und beeinflussen grundlegend unseren Umgang mit Musik jeglicher Art. Wie andere persönlichkeitsprägende Aspekte, so unterliegen auch unsere musikalischen Präferenzen lebenslangen Entwicklungs- und Veränderungsprozessen unter dem Einfluss unserer individuellen Erfahrungen.(1) In einer kulturell vielfältigen, ständig sich wandelnden Gesellschaft gilt dabei ein offener, toleranter, Neuem gegenüber aufgeschlossener, gleichwohl aber von Traditions- und kritischem Qualitätsbewusstsein getragener Umgang mit Musik als erstrebenswerte Grundhaltung. Problematisch hingegen erscheint eine dogmatische Enge, die die eigenen Vorlieben und Abneigungen absolut setzt und alles Unbekannte oder Ungewohnte von vornherein ablehnt.

Der Grundstein für die Entwicklung individueller musikalischer Präferenzen wird durch die Erfahrungen in der Kindheit gelegt. Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass kleine Kinder (etwa im Kindergartenalter) auf unbekannte Musik im allgemeinen noch unbefangen, neugierig und offen reagieren. Der britische Musikpädagoge David Hargreaves prägte 1982 für diese kindliche Offenheit gegenüber ungewöhnlichen oder unbekannten Musikstilen den sehr bildhaften Begriff der „Open-Earedness“ und formulierte die viel beachtete Vermutung, dass diese „Offenohrigkeit“ altersabhängig ist.(2) Bereits während der Grundschulzeit ist nach Hargreaves eine Abnahme der Offenohrigkeit zu erwarten, und es beginnt sich ein standardisierter (Pop-)Musikgeschmack durchzusetzen. Hargreaves’ These konnte seit 1982 in einer Reihe von empirischen Forschungsarbeiten grundsätzlich bestätigt werden. In jüngerer Zeit sind hier insbesondere die seit 2003 mit deutschen Grundschulkindern durchgeführten Untersuchungsreihen von Gembris und Schellberg sowie Nachfolgestudien von Kopiez und Lehmann zu erwähnen.(3)

Um die musikalische Offenheit der Kinder zu untersuchen, entwickelten Gembris und Schellberg einen klingenden Fragebogen mit acht Musikbeispielen aus den Stilbereichen Pop, Klassik, Ethno und Avantgarde von je circa 80–90 Sekunden Dauer. Die Kinder konnten auf einer fünfstufigen Skala aus Smiley-Bildern (für 1 = sehr gut bis 5 = sehr schlecht) ankreuzen, wie gut ihnen das einzelne Musikbeispiel gefallen hatte. Die Ergebnisse zeigten deutlich, dass sich die Zustimmung zu den verschiedenen Stilen im Verlauf der Grundschulzeit sehr unterschiedlich entwickelt. Während die Pop-Beispiele in der Regel am besten beurteilt wurden, erfuhren andere Stile – auch die Klassik – eine mit den Jahren zunehmende, teils schroffe Ablehnung. Insbesondere im Alter von etwa acht bis neun Jahren, in Deutschland also entsprechend im 2. bis 3. Schuljahr, scheint diese Entwicklung in eine kritische Phase einzutreten, in der entscheidende Weichenstellungen für den späteren Umgang mit Musik stattfinden. Insgesamt konnten die Ergebnisse klar als Bestätigung für Hargreaves’ These einer Altersabhängigkeit der Offenohrigkeit und eine fortschreitende Standardisierung der Musikpräferenzen gedeutet werden.

Im Jahr 2006 wurde an der Friedrich-Fröbel-Grundschule in Kempen/Ndrh. ein Projekt „Streicherklassen“ ins Leben gerufen. Mit Sponsorenhilfe konnte ab dem Schuljahr 2006/07 zunächst für das komplette 1. Schuljahr, ab dem Folgejahr dann auch für das komplette 2. Schuljahr Streicherklassen-Unterricht nach der von Paul Rolland entwickelten Methode angeboten werden. Die Streicherklassen wurden jeweils für zwei Stunden pro Woche durch ein Team von zwei gleichzeitig in der Klasse anwesenden Musik-Fachlehrkräften der Schule unterrichtet. Dabei profitierte das Projekt davon, dass eine der beiden Lehrerinnen auch ausgebildete Instrumentalpädagogin für Violine ist und die zweite eine zertifizierte Weiterbildung in der Rolland-Methode absolviert hat.
So konnte unmittelbar aus dem Kollegium der Schule mit dem Hintergrund der Erfahrungen in der Grundschulpädagogik hochqualifizierter Streicherklassen-Unterricht angeboten werden, ohne den zur Zeit im Zusammenhang mit dem JeKi-Programm auch in der nmz viel diskutierten Rückgriff auf externe Lehrkräfte. Neben den Streicherklassen werden an der Schule seit längerem für die Kinder des 3. und 4. Schuljahres freiwillige Streicher-AGs angeboten.

Von Anfang an konnte das Streicherklassen-Projekt an der Fröbel-Schule durch den Autor wissenschaftlich begleitet werden. Damit war erstmals die Möglichkeit gegeben, die Entwicklung der „Open-Earedness“ in einer mehrjährig angelegten Längsschnittstudie unter dem Einfluss speziellen Musikunterrichts und gemeinsamen Musizierens zu untersuchen. In den Jahren 2006 bis 2009 wurden daher die Musikpräferenzen der gesamte Schülerschaft jährlich mit einem an Gembis und Schellberg angelehnten klingenden Fragebogen ermittelt. Die von Gembris und Schellberg verwendeten Musikbeispiele wurden weitgehend übernommen und insbesondere um zwei Streichmusik-Beispiele von Mozart und Cowell ergänzt. Da die Studie bereits während der Startphase des Projekts einsetzte, konnten im Untersuchungszeitraum in den Schuljahren zwei bis vier sowohl Streicher- als auch Nicht-Streicher-Kinder berücksichtigt werden. Daher ermöglichen die Daten sowohl die Längsschnitt-Dokumentation der Entwicklung der Offenohrigkeit bei Streicher- und Nicht-Streicher-Kindern, als auch den unmittelbaren Vergleich altersgleicher Streicher- und Nicht-Streicher-Populationen als Versuchs- und Kontrollgruppe.

Insgesamt wurden 2006 bis 2009 547 Fragebögen erhoben (303 Streicher, 244 Nicht-Streicher). Es zeigt sich zunächst, dass die Kinder stilistisch ähnliche Beispiele auch ähnlich beurteilten (Faktorenanalyse: 3 Faktoren mit 60 % Varianzaufklärung), so dass für die weitere Analyse jeweils die Pop-, Klassik- und Avantgarde-/Ethno-Beispiele zusammengefasst werden konnten. Insgesamt zeigen sich bei den Beurteilungen der Stile in den verschiedenen Jahrgängen deutliche Unterschiede zwischen den Streichern und Nicht-Streichern (siehe Abbildungen).

Bei den Nicht-Streichern ist Pop mit Abstand am beliebtesten, während sich Avantgarde/Ethno und Klassik statistisch nicht unterscheiden. Bei allen Stilen zeigt sich der in anderen Studien oft beobachtete, typische Verlauf eines drastischen Abfalls der Zustimmung, insbesondere in der kritischen Phase vom 2. zum 3. Schuljahr. Bei den Streichern hingegen zeigt sich dies nur bei Avantgarde/Ethno. Bei Klassik und Pop hingegen bleibt das Absinken aus: Im Rahmen der normalen statistischen Schwankung bleibt das Gefallen an diesen Stilen konstant hoch. Dies führt dazu, dass Pop von den anfangs kritischeren Streicherkindern im 3. und 4. Schuljahr statistisch genau so hoch geschätzt wird wie von den Nicht-Streichern.

Bei der Klassik bewahren die Streicherkinder das Interesse auf gleich hohem Niveau, während die Nicht-Streicher das Interesse verlieren. Der Streicherklassen-Unterricht scheint demnach nicht nur das Interesse an Musik überhaupt zu befördern, sondern insbesondere die offenen Ohren für klassische Musik zu erhalten, ohne die Kinder deswegen zu Pop-Verächtern zu erziehen.

Prof. Dr. Christoph Louven ist Professor für Systematische Musikwissenschaft an der Universität Osnabrück. Eine ausführlichere Darstellung der Studie und ihrer Ergebnisse ist in Vorbereitung. Nähere Auskünfte hierzu gerne auf Anfrage!

E-Mail-Adresse: Christoph.Louven [at] uni-osnabrueck.de (Christoph[dot]Louven[at]uni-osnabrueck[dot]de)

1    Gembris, Heiner; Hemming, Jan (2005): Musikalische Präferenzen. In: Stoffer, Thomas & Oerter, Rolf (Hrsg.): Spezielle Musikpsychologie (S. 279–342). Göttingen: Hogrefe (= Enzyklopädie der Psychologie. Musikpsychologie; 2)
2    Hargreaves, David J. (1982): The development of aesthetic reactions to music, Psychology of Music (Special issue): S. 51–54.
3    vgl. Gembris, Heiner; Schellberg, Gabriele (2007): Die Offenohrigkeit und ihr Verschwinden bei Kindern im Grundschulalter. Musikpsychologie Bd. 19, S. 71–92. Kopiez, R. & Lehmann, M. (2008): The „open-eardness“ hypothesis and the development of age-related aesthetic reactions to music in elementary school children, in: British Journal of Music Education 25/2, S. 121–138.

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