Der Gitarrist Heiko Ossig absolvierte sein Studium am Konservatorium Osnabrück, an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg und an der Musikhochschule Malmö. Nach Lehraufträgen in Rostock und Hamburg hat er nun ein Promotionstudium an der HfMT Hamburg aufgenommen. Für die nmz hat Juan Martin Koch den Musiker und Pädagogen zu seinem Forschungsvorhaben befragt.
Offenheit und Neugierde entfachen
neue musikzeitung: Wie verlief Ihre musikalische Sozialisation in Sachen Gitarre?
Heiko Ossig: Die Musik der Beatles hat meine Liebe zur (Pop-)Musik entfacht. Bald war der Wunsch da, selbst Musik zu machen. Ich überredete meine Eltern, mir eine Gitarre zu kaufen. Die Bedingung, die an den Kauf des Instruments geknüpft war: Ich sollte Unterricht nehmen. Mein Lehrer in Osnabrück brachte mir anhand der Sagreras-Gitarrenschule Noten und klassische Spieltechniken bei. Da er von meiner Beatles-Leidenschaft wusste, spielte ich sehr bald auch Songbegleitungen mit Akkorden. Den Wert einiger Aspekte des Unterrichts habe ich erst später erkannt: Er hat mich mit den verschiedensten Musikstilen in Kontakt gebracht. Ich lernte erste klassische Stücke kennen, aber auch Ragtimes, jazzige Stücke und Intros zu Pop-Songs. Zudem bestand meine Hausaufgabe regelmäßig darin, Akkorde aus Pop-Stücken herauszuhören, was mir anfangs Schwierigkeiten bereitet hat. Das war aber ein super Hör-Training. Ich könnte noch auf zahlreiche Details meiner Sozialisation eingehen, angefangen bei den verschiedenen Lehrerpersönlichkeiten, über die Instrumente, die ich nach meiner ersten Höfner-Gitarre gespielt habe, bis zu meinem intensiveren Ausflug zur E-Gitarre und meiner Zeit als Support eines Liedermacher-Duos. Später kamen dann am Gymnasium der Musik-Leistungskurs, die Studienvorbereitende Ausbildung am Konservatorium Osnabrück, die Nächte vor dem Fernseher, wenn wieder einmal der WDR-Rockpalast live übertragen wurde… Ich habe diese Zeit sehr intensiv erlebt, mein Musikgeschmack war eklektisch. Allerdings habe ich mich durch den Unterricht fast unmerklich auf die klassische Gitarre spezialisiert und denke heute, dass das für mich persönlich nicht unbedingt die perfekte Entwicklung war.
Auf dem Weg zum „GuitarLab“
nmz: Auch Ihr Studium war dann ein klassisches, wie haben Sie sich Ihre stilistische Vielseitigkeit bewahrt?
Ossig: Während meines Studiums – bis einschließlich zum Konzertexamen – war ich auf die klassische Gitarre fixiert. Diese Spezialisierung wurde durch das Umfeld während des Studiums gefordert. Ich habe mich aber auch für spezielle Facetten der E-Musik interessiert, zum Beispiel für Steve Reichs „Minimal Music“. Außerdem habe ich immer sehr viel Kammermusik gespielt, unter anderem Sängerinnen begleitet und dabei Songs von Dowland und Lieder von Schubert erarbeitet. Rückblickend denke ich, dass meine Leidenschaft für Liedbegleitung und Kammermusik möglicherweise ein Stück weit meinen Wunsch kompensiert hat, Songs und in einer Band zu spielen.
nmz: Welche Erfahrungen haben Sie als Lehrbeauftragter in Rostock und Hamburg gemacht?
Ossig: Während meiner Zeit als Lehrbeauftragter an den Musikhochschulen in Rostock und Hamburg habe ich regelmäßig stilistisch vielseitige Gastdozenten eingeladen, etwa den Jazz-Gitarristen Kalle Kalima, den Neue-Musik-Spezialisten Seth Josel, den wirklich großartigen Mats Bergström aus Schweden oder Kevin Gallagher aus New York. Außerdem habe ich dafür gesorgt, dass das Angebot E-Gitarre für Bachelor-Studierende im Bereich Klassik neu eingeführt wurde. Zu meinem großen Bedauern wurde mein Engagement von den Klassik-Hauptfachlehrern nicht unterstützt. Da sich die Studierenden sehr am Vorbild ihrer jeweiligen Hauptfachlehrer*innen orientieren, zeigten diese ebenfalls oftmals kein großes Interesse an diesen Angeboten. 2019/20 habe ich an der HfMT Hamburg ein Seminar unter dem Titel „GuitarLab“ initiiert. Dieses Angebot war als Experimentierfeld für moderne Spielformen, softwarebasierte Effekte wie Max/MSP et cetera für die Klassikgitarristen konzipiert. Am Ende hat an diesem Seminar fast die komplette Jazz-Gitarrenklasse der HfMT teilgenommen, allerdings nur ein einziger Student aus der Klassikabteilung. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass hier ohne den Rückhalt von Seiten der Hauptfach-Lehrenden kaum Entwicklung möglich ist.
Die Lebenswirklichkeit zählt
nmz: Wenn Sie Ihr eigenes Studium und Ihre Lehrerfahrung zusammennehmen: Ist die Gitarrenausbildung in Deutschland gut aufgestellt?
Ossig: Wenn ich mir anschaue, wie die Lebenswirklichkeit der Absolventinnen und Absolventen im Bereich Klassikgitarre nach dem Studium aussieht, wünsche ich mir Veränderungen im Curriculum. Es sollte definitiv eine größere stilistische Offenheit geben, Improvisation und Komposition sollten eine größere Rolle spielen und die Bereiche „digitale Medien“ und „Recording“ stärker Berücksichtigung finden. Absolventinnen und Absolventen mit dem Hauptfach Gitarre, die mit einer rein klassischen Ausbildung zum Beispiel eine Laufbahn als Lehrerin oder Lehrer an Musikschulen starten, werden es zukünftig voraussichtlich schwer haben.
nmz: Mit dem Sommersemester 2023 haben Sie ein Promotionsstudium an der HfMT Hamburg begonnen und forschen zum Thema „Ein neues Curriculum“ für die Gitarre. Was genau ist dabei Ihr Ziel und wie wollen Sie es angehen?
Ossig: Mein Doktorvater in Hamburg ist der Präsident der Hochschule, Prof. Dr. Sprick, der glücklicherweise meine Ansicht teilt, dass es im Bereich der Gitarre an Musikhochschulen Entwicklungspotenzial gibt. Mein Ziel ist es, mir zunächst einmal den Status Quo anzuschauen. Es gibt bereits Hochschulen, die eine stilistische Offenheit ermöglichen und sogar fordern. Immer hängt es – wie bereits erwähnt – stark von den jeweiligen Hauptfach-Lehrenden und davon ab, welche Möglichkeiten diese ihren Studierenden aufzeigen und welche stilistische Offenheit zugelassen wird. Im Rahmen meiner Arbeit möchte ich Studierende befragen, inwieweit sie mit dem Unterrichtsangebot während des Studiums zufrieden sind und was sie von ihrem späteren Berufsleben erwarten. Eine ähnliche Befragung plane ich mit Absolventinnen und Absolventen durchzuführen, die bereits einige Zeit aus dem Studium raus sind: Wie bewerten diese rückblickend ihre Ausbildung? In einem praktischen Teil der Promotion arbeite ich außerdem mit Komponistinnen und Komponisten zusammen, die neue Werke für Gitarre schreiben. Dafür konnte ich bisher den Avant-Pop-Komponisten JacobTV gewinnen, aber auch Steven Mackey, Bill Ryan oder Anthony de Ritis.
nmz: Welche Vorgaben haben Sie hier gemacht beziehungsweise was erwarten Sie sich von diesen neuen Stücken?
Ossig: Die neuen Stücke stehen teilweise an der Schwelle zwischen traditioneller klassischer Musik und den populären Stilen. Es wird Werke für E-Gitarre geben, aber natürlich auch für die klassische Gitarre. Von JacobTV habe ich bereits ein Werk erhalten, in dem Motive aus Franz Schuberts „Der Leiermann“ verwendet werden, während man zugespielte Fragmente aus einer Rede von Steve Jobs hört. Andere Werke werden softwarebasierte Techniken wie Max/ MSP verwenden oder andere digitale oder analoge Effekte integrieren. Die Gitarre verdient neue Werke, um dem Repertoire vergangener Blütezeiten etwas hinzuzufügen. Junge Gitarristen brauchen heute Stücke, die ihre eigenen musikalische Erfahrungen einbeziehen und eine Brücke zu früheren Epochen schlagen.
nmz: Seit 2021 produzieren Sie den Podcast „Guitar Talk“. Inwieweit haben diese Gespräche Einfluss auf Ihr Forschungsvorhaben?
Ossig: Im Rahmen des Podcasts habe ich mit zahlreichen namhaften Hochschullehrern aus den USA und Europa gesprochen, unter anderem mit Alvaro Pierri (Uni Wien), David Tanenbaum (San Francisco Conservatory), Ben Verdery (Yale University), Göran Söllscher (Malmö Musikhögskolan), Thomas Offermann (hmt Rostock) und Frank Bungarten (Hochschule für Musik und Medien Hannover). Jeden Gesprächspartner konfrontiere ich mit der Frage, ob die Ausbildung der jungen Gitarristinnen und Gitarristen noch zeitgemäß ist und welche „skills“ in der Ausbildung stärker gefördert werden sollten. Ich frage die Interviewpartner immer nach ihrer persönlichen Sicht, was die Zukunft der Gitarre im Hochschulkontext und im Musikmarkt betrifft, sowie was sie ihren Studierenden in Karrierefragen raten. Die Antworten darauf sind – wie man sich vorstellen kann – äußerst unterschiedlich, immer aber auch erhellend im Hinblick auf das Thema meines Promotionsvorhabens.
Bach allein reicht nicht
nmz: Können Sie ein paar Beispiele nennen?
Ossig: Nun, die meisten Interviewpartner sehen, dass die Gitarre im Hinblick auf die Ausbildung an Musikhochschulen an einem Scheideweg steht. Die Gitarre spielt in vielen Stilen eine bedeutende Rolle, sei es im Jazz, in der Weltmusik, in der Folklore, vor allem in der Pop- und Rockmusik. In dem Musikstil, den wir als „Klassik“ bezeichnen, spielt die Gitarre nur eine untergeordnete Rolle. Trotzdem ist dies die Musik, die nahezu exklusiv an Musikhochschulen unterrichtet wird. Es gibt Interviewpartner, die dieses traditionelle Repertoire verteidigen und andere, die hier eine größere stilistische Offenheit wünschen. Diese Diskrepanz wird in den Interviews deutlich. Vor kurzem hat mir ein bekannter Hochschullehrer am Telefon gesagt: „Wir brauchen die stilistische Öffnung nicht. Wer gut Bach spielen kann, kann auch gut unterrichten.“ Was diese Aussage betrifft, bin ich – vorsichtig formuliert – eher skeptisch.
nmz: Was wäre Ihr Wunsch für die Zukunft des Gitarrenstudiums?
Ossig: Ich träume davon, dass es zukünftig einen Studiengang Contemporary Guitar gibt und einen Masterstudiengang Kammermusik Gitarre. In dem völlig unübersichtlichen und nahezu undurchschaubaren Pool an Möglichkeiten, als Musiker und Musiklehrer kreativ zu arbeiten, kann eine Ausbildung nicht jede Facette abdecken. Allerdings ist es Aufgabe der Ausbildungsinstitute, Möglichkeiten aufzuzeigen und bei den Studierenden eine größtmögliche Offenheit und Neugierde zu entfachen.
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