Die Debatte um Inklusion hat gerade im letzten Jahrzehnt Fahrt aufgenommen, und der moralische Druck lässt durch den Kontext einer Menschenrechtsdiskussion gar keine offene Diskussion zu den sich hier stellenden Fragen mehr zu. Inklusionslogiken sprechen vom Drinnen und Draußen, von geschlossenen Systemen, in die zu inkludieren sei und die sich so gastfreundlich geben, dass man ihren Einladungen gerne folgt. Vorausgesetzt wird dabei, dass alle Menschen die Aktivierungsversuche zur Hebung ihres Potenzials auch dankbar annehmen. Allein die Aussicht auf Teilhabe scheint hier schon die gute Tat zu sein. Aversionen gegen solche Konformitätserwartungen bleiben jedoch in allen Lebensbereichen bestehen, ein Gefühl der „Abgetrenntheit“ kann bereits entstehen, wenn man das Gefühl hat, nur „wenige Schritte abseits der Herde“ zu stehen (Erich Fromm).
Es dürfte eben auch eine einseitige und stark leistungszentrierte Perspektive sein, die stigmatisiert und alle Bildungsverlierer zur Problemgruppe des intelligenten Europas erklärt. Inszenierte Pseudo-Vereinigungen werden Teil einer großen „Inklusionslüge“ (Uwe Becker). Wenn sich in den Schulen die Frage stellt, Kindern mit geistigen Beeinträchtigungen den Zugang zum Gymnasium zu ermöglichen, während man jenen, die ‚nur‘ schlecht rechnen, den Weg in Nachfolgeeinrichtungen der Hauptschulen zuweist, braucht es mehr als eine sich nur perspektivisch verändernde Regelschule. Diese Unebenheiten lassen ich in allen Lebensbereichen ausmachen: Wer ernst machen möchte mit Inklusion, um diese als ein gesellschaftliches Totalphänomen zu verstehen, der müsste nicht nur die Selektionsmechanismen und Entsorgungsmentalitäten unseres mehrgliedrigen Schulsystems abschaffen, sondern alle Grenzlinien sozialer Ungleichheiten überschreiten, allen Ausgrenzungsprozessen entgegenwirken und für ein Kulturangebot eintreten, das sich nicht nur an einen exklusiven Feudalpool richtet.
Auch mit Blick auf die Kaderschmieden unserer für den Musikbetrieb zuständigen Ausbildungseinrichtungen könnte das revoltierende Potenzial dieser Diskussion ins Feld geführt werden, wenn sich die Barrierefreiheit der Musikhochschulen nicht nur auf Fahrstühle und Rollstuhlrampen vor den Eingängen ihrer Kammermusiksäle bezöge, sondern auch auf den Zutritt in die Violinklasse. Wie ließe sich dies aus der Exzellenzperspektive solcher Dienstleistungseinrichtungen rechtfertigen, wenn hier der Eintritt mit einer zugangsbeschränkenden Eignungsprüfung verbunden ist und der hart umkämpfte Weg ins Berufsorchester an einem Probespiel hängt, das allen Probanden mit geistigen oder spieltechnischen Beeinträchtigungen den Weg in die Geigengruppe eines jeden Berufsorchesters verwehrt? „Jeder Mensch ist ein Künstler“, diese These vertrat einst der Inklusionsvordenker Joseph Beuys, sein erweiterter Kunstbegriff hilft aber kaum weiter, wenn für den Abend Mahlers Achte auf dem Programm steht. Ist mit Inklusion immer der Einschluss in die Normierungen eines schon bestehenden Systems verbunden und hat dies für alle Lebensbereiche zu gelten? Oder führt Inklusion durch die Ermöglichung von Vielfalt zu dessen Erweiterung? Mit Blick auf Hochschulen ergäben sich neue und andere Möglichkeiten der kulturellen Teilhabe. Ein erster Schritt etwa wären partizipative Veranstaltungen, in denen Hochschulen zumindest der ihnen auch eingeschriebenen Verpflichtung zu gesellschaftlichem Transfer nachkämen. Dann würde Inklusion nicht in jenem Prozess steckenbleiben, der Menschen mit Behinderung in ein System einpflegt, sondern zu etwas, was alle Menschen in der Gesellschaft und ihren Institutionen praktizierten. Schließlich offenbart sich in der Kunst ein für alle Menschen elementares Interesse an der Welt, das jeden von uns zu eigenen Formen des Ausdrucks führen kann. Die Musik kann zu einer Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung dieses Strebens führen, sie kann dieses Verlangen aber auch ersticken lassen. Es gilt für Menschen mit und jene ohne Beeinträchtigungen, dass sie ihre bedürfnisbefriedigenden Orte nicht immer finden.
Unser Leiden am Primat des Effizienten
Investitionen in die Biograpfeverläufe unserer Kinder konzentrieren sich auf deren spätere Erwerbsfähigkeit, bereits die frühkindliche Betreuung steht hier im Fokus, um unproduktive Zeitgestaltungen im häuslichen Umfeld zu vermeiden. Lebenslang werden wir an normativen Maßstäben gemessen und in vielen Fällen disqualifiziert, wenn Anomalien den Konstruktionen einer reibungslosen Entwicklung im Wege stehen und Ergo-, Musik-, Gestalt-, Paar- oder Psychotherapeuten zu Rate gezogen werden müssen, um in deren Obhut solche Defekte zu beheben. Störungen im Betriebsablauf passen nicht in das Gefüge einer arbeitsteilig und funktional ausdifferenzierten Gesellschaft. Möchte man Inklusion ernst nehmen, dürfen solche Normen unseres Zusammenlebens nicht ungeschoren bleiben.
Absonderlichkeiten einer „Störung“ sind genau das, wozu die Kunst uns geradezu herausfordert: Jenseits der selektiven Filter unserer Normalitätserwartungen einer sich hörig gebenden Gesellschaft und ihrer rationalen Dauerunternehmungen findet in der Kunst das Unerhörte und Ungehörige ihren Raum: Kunst entlässt die an die kapitalistische Scholle gebundenen Hörigen zumindest temporär aus ihrer Leib- und Grundherrschaft. Schon für Schiller ist die Kunst ein wirksames Schutzschild gegen die zweckrationalisierte Welt und ihre optimierenden Maßnahmen, nur in den Refugien der Kunst finden alle Menschen Platz.
„Meine Musik versteht die ganze Welt“, behauptete einst Joseph Haydn und meinte hier ein ausgewähltes Volk im Volke, dem seine Musik zugänglich war. Dass Musik jenseits eines eingeschränkten Kulturbegriffs viele Sprachen in ganz unterschiedlichen Dialekten spricht, dürfte sich heute herumgesprochen haben, hat aber für die Aufklärung ein wirkliches Problem dargestellt, denn sie geht in ihren Überlegungen von einer Gleichheit der Menschen, ihrer Empfindungen, Gefühle und Urteilskriterien aus. Musik ist eine Sprache, die jedem etwas sagt, dürfte man aber auch mit Blick auf eine „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz) behaupten, für die sich keine gemeinsame Mitte, kein gemeinsamer Erfahrungshorizont mehr ausmachen lässt. Wie lässt sich in solch einer soziokulturell inszenierten Einzigartigkeit der Individuen von Inklusion sprechen, wenn in dieser neuen Logik von einer Markierung der Differenzen gesprochen wird und eine unüberschaubare „Kulturmaschine“ (Reckwitz) immer neue Formate produziert, die sich zum Einzigartigen erheben, wenn von etwas Verbindendem gar nicht mehr gesprochen werden kann? „Der Gleichheitsgedanke hat sich in eine ferne Gottheit verwandelt, deren routinierte Verkehrung von keinem lebendigen Glauben mehr gespeist wird. Sie äußert sich nur noch als negative Beschwörung, […] ohne ein positives Bild einer wünschenswerten Welt zu entwerfen“ (Pierre Rosanvallon).
Inklusion erfordert gesellschaftlichen Klimawandel
Für ein utopisches Gelände entwirft Adrienne Goehler eine „Kulturgesellschaft“, in der jeder im Beuysschen Sinne an der „sozialen Plastik“ mitwirken kann und mit seinem kreativen Potenzial Verantwortung für die Gestaltung von Veränderungsprozessen übernimmt. In solch einer Welt der „Verflüssigungen“ dürfte nicht nur Bildung auf ganz neue Weise „komponiert“ werden müssen. Wenn Kunstwerke die „beständigsten und weltlichsten aller Dinge“ (Hannah Arendt) sind und unser Weg „vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft“ unumgänglich erscheint, dürfte das Ziel längst vorgezeichnet sein: In der Kunst treffen sich die Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Lebensentwürfe, sie belehrt uns eines anderen, öffnet uns neue und andere Wege. In einer Gesellschaft, die an ihren Großlösungen weiterhin festhält, dürfen wir bisher nur an den Inseln der Kunst partizipieren. Eine Kulturgesellschaft, die sich gegen ein kapitalistisches Wirksamkeitsgefüge stellt, kann zu einem neuen gesellschaftlichen Zusammenhalt führen. Sie beantwortet die Frage nach Inklusion auf ganz spezifische Weise, benutzt die Sprache der Kunst. Vielleicht müssen nur mehr Menschen den Mut aufbringen, die Alternativen des „Ungehörigen“ und „Unerhörten“ einer sich am Horizont bereits abzeichnenden Kulturgesellschaft zu leben.