„Bis jetzt wart Ihr Komponisten und konntet Eure Kreativität entfalten. Ab jetzt seid Ihr Performer, Ihr bereitet ein Konzert für Euer Publikum vor. Das bedeutet: Schluss mit Händen in den Hosentaschen, Auf-den-Stühlen-Fläzen, überkreuzten Beinen. Ich will keine überkreuzten Beine mehr sehen.“ Es ist Freitag Nachmittag, der heiße Spätsommer hat auch das 750 Seelen fassende Gebirgsdorf Imsterberg in Tirol erreicht, und Cathy Milliken steht vor 52 Kindern und Jugendlichen mit den unterschiedlichsten Instrumenten. Seit sieben Tagen haben sie gemeinsam Musik erfunden, improvisiert, mit Klängen experimentiert, Texte geschrieben, Auftrittsrollen verteilt und geprobt. In zwei Tagen soll das, was in der Kompositionswerkstatt „Lautstark“ erarbeitet wurde, konzertreif sein. Und noch sieht es nicht nach einer präsentablen Performance aus. Übergänge misslingen, Texte klingen unverständlich, es wird diskutiert, Reihenfolgen werden verwechselt. Kurz: Es gibt noch viel zu tun.
Dabei ist bis zu diesem Zeitpunkt bereits intensiv gearbeitet worden. Zum vierten Mal findet die Musizier- und Kompositionswerkstatt Lautstark nun im Rahmen der „Klangspuren Schwaz“ statt. Die Vorbereitungen für das „große“ Festival laufen auf Hochtouren. Dennoch lässt es sich Festivalleiterin Marie-Luise Mayr nicht nehmen, „Lautstark“ persönlich zu begleiten. Die Idee: Kinder so früh wie möglich an zeitgenössische Musik heranzuführen, Hörerfahrungen zu erweitern und die eigene musikalische Kreativität junger Musiker zu fördern. Cathy Milliken, bei den Berliner Philharmonikern verantwortlich für das Education-Programm und als Ensemble-Modern-Mitglied selbst bei den Klangspuren aktiv, war sofort zu begeistern, als Marie-Luise Mayr mit der Idee an sie herantrat. Von Beginn an ist sie die „tragende Säule“, sagt Mayr. In diesem Jahr hat sie zwei Dozenten aus Berlin mitgebracht, die anderen neun Dozentinnen und Dozenten kommen aus der Region Tirol. Darauf hat Mayr Wert gelegt; sie wünscht sich einen Rückfluss in die Musikschulen der Region. „Die Auswirkungen merkt man jetzt schon“, berichtet sie. In den Musikschulen wird inzwischen mehr in Gruppen gearbeitet, hier und da wird auch das Fach Komposition angeboten. Und: Seit wenigen Jahren gibt es im österreichweiten Wettbewerb „Prima la Musica“ – gegenläufig zu „Jugend musiziert“ – ein Pflichtstück aus dem Bereich zeitgenössische Musik. Die Auswahl der Dozenten beweist eine glückliche Hand: Sie sind vor allem vielseitig, offen für Neues. Sie sind Musikpädagogen, als Musiker decken sie so unterschiedliche Bereiche wie Barockmusik, Jazz, Klezmer oder eben Neue Musik ab. Innerhalb der „Klangspuren“ ist „Lautstark“ ein eigenes Projekt, für das zusätzliche Finanzmittel eingeworben werden mussten. Neben den Ländern Tirol und Südtirol und dem Bundesministerium in Wien sorgt vor allem der Hauptsponsor Swarowski Kristallwelten für die wirtschaftliche Basis der Werkstatt.
Dass „Lautstark“ auch für die inzwischen recht zahlreichen „Wiederholungstäter“ unter den Teilnehmern nicht langweilig wird, liegt einerseits an der Vielseitigkeit der täglichen Kursinhalte, andererseits auch daran, dass für jede Werkstatt neue Schwerpunkte festgelegt werden. Entsprechend unterschiedlich sind Jahr für Jahr die Ergebnisse. In diesem Jahr ging es vor allem um die Wechselwirkung von Musik und Text. Speziell für dieses Thema war aus Berlin Michael Schiefel, Liedermacher und Sänger, als Dozent angereist, der im Vorfeld ein Rahmenlied zum übergeordneten Thema geschrieben hatte: „Freunde und was wir mit ihnen machen“. Dazu entwickelten die Teilnehmer zwischen 7 und 18 Jahren, eingeteilt in fünf jeweils gleichaltrige „Freundegruppen“, ihre eigenen Songs. Strukturell leisteten die Dozenten Hilfestellung, die kreative Leistung kam von den jungen Musikern. Wurden zunächst Ideen, Einfälle, Assoziationen zum Thema gesammelt, so entstand mit der Zeit ein Liedtext, die Musik, die aufführungsreife Performance. Parallel erarbeiteten die Teilnehmer, diesmal in altersmäßig durchmischten Gruppen, Zwischenspiele. Hier war die ordnende Hand des Dozententeams stärker gefragt, gewisse Klangelemente waren vorgegeben. Den Rahmen für diesen musikalischen Komplex bildete Schriefels Lied „Meine Freunde und ich“.
Neben der Beschäftigung mit Songs und Zwischenspielen, die eher der Sparte Pop zuzuordnen sind, legt Cathy Milliken großen Wert darauf, mit den Kindern auch improvisatorisch zu arbeiten, mit Akkorden, Klängen und Clustern zu experimentieren. Der erste Teil des Konzerts soll deshalb aus Improvisationsstücken bestehen, einige der Teilnehmer dürfen sich hier selbst als „dirigierende Komponisten“ betätigen. „Kinder erleben die Spartengrenzen zwischen ‚E und ‚U nicht so stark“, sagt Cathy Milliken. „Es ist für sie kein Problem, in eine Welt einzutauchen, in der es um erweiterte Klänge und Techniken geht. Im Songteil führt das dann wieder stark zurück in die Popmusik.“ Aber, so erklärt sie, die gut durchgeplante Struktur der Werkstatt führt dazu, dass die neuen Hör- und Klangerfahrungen, die die Kinder hier machen dürfen, letztendlich auch Eingang in ihre Song-Kompositionen finden. Und tatsächlich: Vor allem in den Liedern der Älteren lässt sich U von E kaum noch trennen.
Überhaupt zeichnet sowohl die Gruppen- als auch die Ensemblearbeit ein genau tariertes Wechselspiel zwischen Struktur und „Chaos“ aus. Glaubt man sich bei der ersten Beobachtung einer Gruppenprobe eher im Umfeld von Summerhill, so wird schnell die Balance – fast eine Gradwanderung – aus Disziplin und Loslassen spürbar, die von allen Dozenten mitgetragen wird. „Selbst, wenn die Disziplin nicht immer perfekt ist: Man muss die Energie auch einfach manchmal laufen lassen“, erklärt Milliken. Das ist anstrengend bei 52 quirligen Kindern. Millikens Art im Umgang mit ihnen ist ruhig, freundlich, bestimmt. Und sie beschäftigt sich mit jedem einzelnen, wenn es eine Frage, ein Problem, eine neue Idee gibt. Dass es nun auf ein öffentliches Konzert zugeht, vermittelt sie den jungen Musikern sehr deutlich. Als Ziel- und Schlusspunkt der neuntägigen Arbeit hat dieser öffentliche Auftritt eine wichtige Bedeutung. Angefangen vom Stimmen in den Stimmzimmern, über den Auftritt bis zum Schlussapplaus wird alles professionell geprobt.
Und dann ist Konzerttag. Imsterberg quillt aus allen Nähten. Eltern, Geschwister, Verwandte der Kinder sind gekommen, um sich das Ergebnis der Werkstatt anzuhören. Auch Bewohner des Orts, die in den ersten Jahren eher skeptisch reagierten, verlieren langsam ihre Scheu und interessieren sich zunehmend für das Fremde, das die Kinder in ihr kleines abgelegenes Dorf treibt. Und plötzlich wird aus den Einzelteilen, aus Improvisationen, Songs, Zwischenspielen ein stimmiges Konzerterlebnis, das – wenn auch längst nicht alles perfekt ist – die Zuhörer vom ersten bis zum letzten Ton in seinen Bann zieht. Am Morgen hat Milliken noch einmal an der Aussprache gearbeitet, so dass jetzt gut zu verstehen ist, was die Kinder und Jugendlichen „mit ihren Freunden machen“: Sie erleben Abenteuer, sie helfen alten Menschen, sie chillen. Auch das Handy spielt eine wichtige Rolle. Das musikalische Spektrum der beiden Konzerthälften reicht von Minimal-Elementen und rhythmischen Patterns über alle denkbaren Stile der Popmusik. Da werden 13- oder 14-jährige Jungen plötzlich zu Blues-Sängern oder Rappern. Manchen Kindern merkt man an, dass das Heraustreten aus der Menge, das Ins-Mikro-Singen und Sich-Selbst-Darstellen, eine echte Herausforderung, ein Wagnis darstellen. Andere sind in ihrem Element, wie der 13-jährige E-Gitarrist, der seinen Auftritt rockkonzertmäßig gestaltet. Beim Schlussapplaus ist den jungen Musikern und Komponisten der Stolz aufs Gesicht geschrieben. „Im Konzert kommen mir immer die Tränen“, hat Mayr im Gespräch am Vorabend gestanden. Am Ende des Konzerts weiß man, was sie meint.