Großes Musikvergnügen mit Phantasie, Energie, langem Atem und kulturpolitischer Weitsicht verbindet man in Hamburg mit dem Namen Stephan von Löwis of Menar. Nach zweijähriger pandemiebedingter Pause lud er vom 23. bis 25. April erstmalig wieder für drei Tage auf sechs Kampnagel-Bühnen und das Areal darum herum zum „klangfest“ein.
Musikerinnen und Musiker aus acht Ländern hatten den Weg dorthin gefunden, um für Kinder, deren Familien und Schulklassen eine vielfältige Mischung an performativen Konzertformaten zu präsentieren. Darüber hinaus ist es ein fester, konzeptioneller Bestandteil des Festivals, dass die Kinder auf frei zu bespielenden Exponaten und Hörstationen des „Mobilen Musik Museums“ von Michael Bradtke selbst musikalisch aktiv werden und darüber hinaus auch klassische Musikinstrumente ausprobieren können.
Über mehr als drei Jahrzehnte hat Stephan von Löwis of Menar die Kinder- und Jugendkultur in Hamburg mit seinem Verein „kinderkinder e.V.“ maßgeblich beeinflusst und vorangebracht; nun gibt er den Staffelstab altersbedingt an Nehle Mallasch weiter. Im Rahmen des klangfestes wurde er während eines Festakts von der Hamburger Kulturbehörde mit der Senator-Biermann-Ratjen-Medaille für sein Lebenswerk geehrt. Diese ist Personen oder Institutionen zugedacht, die sich mit ihren künstlerischen und kulturellen Leistungen für Hamburg nachhaltig verdient gemacht haben.
Im deutschsprachigen Raum sucht das Hamburger klangfest in seiner Dichte an thematischer Vielfalt und internationalen Produktionen seinesgleichen. In diesem Jahr kamen die Ensembles aus europäischen Ländern, individuell ausgewählt bei Festivals oder in großen Konzerthäusern. Umso näher lag es, die Veranstaltung auch für ein Fachpublikum der Musikvermittlung zu öffnen. Aus dem norddeutschen Umland kamen, eingeladen von kinderkinder und dem netzwerk junge ohren (njo), Interessierte, um sich Produktionen anzusehen und anschließend in einem Expertenforum über ausgewählte Gelingensbedingungen kritisch zu diskutieren.
Nachhaltigkeit und Fluchterfahrung
Für einen Eindruck soll das breite Spektrum an künstlerischer Vielfalt nun exemplarisch in komprimierter Form aufgezeigt werden: „Le son de la sève“ (Der Saft der Bäume), ist eine Co-Produktion des Musikers Benoît Sicat und des bildenden Künstlers Nicolas Camus, welche im französischen Raum bereits vielfach aufgeführt wurde. Das Programm ist für ganz junge Menschen ab zwei Jahren konzipiert und gewinnt im Zuge zunehmender Nachhaltigkeitsstrategien und Initiativen wie beispielweise „Orchester des Wandels“ topaktuell an Bedeutung. Vier bizarre Baumskulpturen, welche gleichzeitig Klangskulpturen sind, bilden gleichermaßen die Bühne und das Auditorium. Zwei Musiker leiten eine einzige große improvisierte Klangmetamorphose zum Zuhören, Fühlen, Tasten, Spüren, Wahrnehmen und Mitspielen an.
„Fünf gewinnt“ ist eine neue, vollständig durchchoreografierte, Produktion der Elbphilharmonie GmbH für Menschen ab 5, in der die fünf für vier Musiker und eine Tänzerin steht. Fünf große Kisten in bunten Farben und individuellen Formen füllen die Bühne. Nach und nach erwacht in ihnen ein Instrument samt einem dazugehörigen Musiker. Über Improvisationen, folkloristische Stücke und Arrangements komplexer Best-of-Werke wie Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ und Mozarts „Alla Turca“ entwickelt sich ein Spiel, bei dem sich die vier Instrumentalisten mit ihren zwei Geigen, einem Akkordeon und einem Kontrabass zusammentun, um eine tanzende Kiste, deren Bewohnerin sich erst spät heraustraut, gegenseitig zu locken, zu foppen, herauszufordern und auch immer mal wieder ein wenig einzuschüchtern.
Die deutsche Erstaufführung von „Bach in the Street“ ist eine schwedische Produktion für Menschen ab 5, deren Protagonisten Semmy Stahlhammer und Maele Sabuni ihre individuellen biografischen Fluchterfahrungen auf gleichermaßen virtuose, subtile und poetische Weise präsentieren. Die musikalische Basis bilden Ausschnitte aus Bachs Sonaten und Partiten für Violine solo, welche in Kombination mit Street Dance und „leichteren“ Werken des 20. Jahrhunderts eine faszinierende Beziehung eingehen. Allein schon, wie Semmy dabei Bach spielend auf dem Rücken liegend von Maele an den Füßen über die Bühne gezogen wird, spricht für den Gewinn des niederländischen Young Audience Music Award (YAMaward) im Jahr 2018.
„Engelchen und Teufelchen“ ist ein kleinformatiges Programm von Moritz Eggert und Luise Enzian, das von einer sich arglos neckenden Story mit einem virtuos präsentierten Mix an Musik von Barock und Traditionals bis zu Eggerts Hämmerklavier lebt. Die Kombination von Barockharfe, Kazoo, Toy-Piano, Obertongegurgel und Beat-Boxing sucht dabei weltweit vermutlich seinesgleichen. Wie bereichernd könnte es für das ein oder andere Werk der Neuen Musik sein, wenn es mehr Komponisten-Kolleginnen und -Kollegen von Moritz Eggert gäbe, die den Drive hätten, sich mit ihren Werken selbst als Protagonist*innen von performativen Konzerten für junge Menschen zu präsentieren und auf den anhaltenden Applaus des Publikums mit Eigenkompositionen in Form der drittkürzesten, zweitkürzesten und kürzesten Zugabe der Welt (Eggert) zu reagieren.
Welches Instrument könnte unter dem Titel „Belgian Rhapsody“ besser zum Einsatz kommen als eine Kiste belgischer Bierflaschen in Kombination mit einer Loop-Station? Max Vadervorst spielt die Flaschen höchst präzise in der Haptik einer Panflöte und kombiniert diese mit einer querflötenartigen Einlage in der Gestalt eines durchlöcherten Stahlrohr-Stuhlbeins eines zuvor noch gewöhnlich zum Einsatz gekommenen Stuhls.
Der Schlagzeuger Thomas Sandberg aus Dänemark sammelt in dem Stück „Looping“ mit Hilfe seiner Loop-Station Sounds aus dem Publikum, während der Hamburger Tänzer Franklyn Kakyire zunächst in einer riesigen Papiertüte ausharrt. Nach und nach entstehen kleine Motive, die den Tänzer zu einer akrobatischen Performance über gängige und alle bekannte Aktivitäten des täglichen Lebens motivieren.
Das tönende Mitmach-Orchester „Taschenpercussion“ arbeitet mit allem Klang-, Ton- und Geräuschmaterial, das das Publikum spontan in seinen Taschen findet. Am Ende entsteht eine große Klangcollage. „toons’n’tunes“ ist eine schwarz-weiße-Stummfilmproduktion in charakteristischer Kino-Atmosphäre, welche von improvisierten Klängen und Geräuschen zu Cartoon-Kurzfilmen aus den 1920er-Jahren lebt. Der Titel „Vier Hände“ spielt auf die Hände des Pianisten Filipe Raposo und des Digital-Malers António Jorge Gonçalves an. Zwei Portugiesen präsentieren auf subtile Weise von Musik und digitaler Malerei kleine Szenen des Alltags. Im klangfest-Programm heißt es dazu treffsicher „Eine Geschichte von Freundschaft und farbigen Gefühlen, ein Spiel ohne Worte“.
Weltallreise und Rassismuskritik
Die deutsche Erstaufführung von „Rhythms from Space“ entpuppte sich als eine wilde Performance zweier dänischer Schlagzeuger an zwei Set-Ups, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, mit dem Publikum ins Weltall zu reisen, um einen auf die Erde zukommenden Asteroiden zu stoppen. Laser-Licht, zahlreiche Audio-Effekte, Nebel, Seifenblasen sowie oft lautes, virtuoses Musizieren sorgen für ein intergalaktisches Programm, dem sich das Publikum ob seiner visuellen und akustischen Intensität zu keinem Moment entziehen kann.
„Colonialism“ ist ein politisch motiviertes, rassismuskritisches Stück, in dem sich musikalische Improvisationen mit der Kunstform des Story-Telling verschmelzen. Grace Wangari aus Kenia, eine international bekannte Geschichtenerzählerin, und der deutsche Schlagzeuger Sven Kacirek spielen eine musikalische „Oral History Performance“ über die Kolonialzeit in sechs afrikanischen Ländern von 1870–1960. Erzählt wird aus der Perspektive unterschiedlicher afrikanischer Kulturen. Das Stück wurde beim klangfest in zwei Fassungen präsentiert, in einer für Kinder ab 8 und einer für Menschen ab 14. Die Thematik der erzählten Episoden ist komplex und anspruchsvoll, die Präsentationsform hingegen gut nachvollziehbar, recht analog gestaltet, musikalisch unkompliziert und an vielen Aufführungsorten vorstellbar.
Über die Konzerte in den Kampnagel-Hallen hinaus bot das klangfest vor dem Gebäude das ganze Wochenende über zahlreiche musikalisch vielfältige halbstündige Open-Air-Konzerte mit Musik aus verschiedenen Kulturen für die ganze Familie.
Zentrale Lebensthemen
„Aufregend anders“ lautet das Motto des diesjährigen ,klangfest‘. Um herauszufinden, worauf sich dieser Slogan konkret beziehen könnte, müssten Vergleiche angestellt werden. Hier setzt das Potenzial für weitere Expert*innendiskussionen an. Ohne Zweifel, die zunehmende Digitalisierung ist auch in der Welt der Kinderkonzertkultur angekommen. Fast jedes zweite Programm arbeitet mit Loop-Stations, zahlreiche Musiker bedienen ihre Computer selbst von der Bühne aus und digitales Malen und Zeichnen ist in der gesehenen Perfektion zwar hoch faszinierend, technisch aber für jeden Tablet-User vorstellbar. Dass auf Kampnagel hervorragende Technikerinnen und Techniker zu Werke sind, spürt das Publikum allein dadurch, dass alles perfekt aufeinander abgestimmt ist. Dass beim klangfest alle Musikerinnen und Musiker auswendig spielen und performen, wäre vielerorts „aufregend anders“, ist auf Kampnagel aber mittlerweile Standard. Nicht zwingend aufregend, jedoch hoch aktuell sind die in den Konzertprogrammen mehr oder weniger direkt oder indirekt bearbeiteten Themen der Zeit wie Rassismus, Kolonialismus, Gender, Antisemitismus und anderes. „Aufregend anders“ werden die Stücke dann allerdings meist erst durch eine „Trägermasse“ in Form eines ständigen Aushandelns von vollkommen zeitlosen Themen des menschlichen Alltags wie Freundschaft, Ablehnung, Unsicherheit, Distanz und Nähe, Gewalt, Angst, Hoffnung, Scheu und nicht zuletzt immer auch wieder Zuwendung.
Festhalten lässt sich also, dass auch beim klangfest 2022 zentrale Lebensthemen allgegenwärtig sind, dass als musikalisches Repertoire bewährte Klassiker der Musik in Kombination mit improvisierter, arrangierter und Neuer Musik Bestand haben, dass sich bis auf die Form des Story-Tellings eine vollkommen nonverbale Sprache der Inszenierung etabliert hat, dass sich kurze, dichte Formate durchgesetzt haben, dass Requisiten und Dekorationen häufig sparsam und konzentrationsfördernd zum Einsatz kommen und dass neue, sozialkritische Themen hinzugekommen sind. Dank des Höchstmaßes an künstlerischer, technischer und inszenierungstechnischer Qualität kann das Publikum mit dem Gefühl nach Hause gehen, dass ihm der Blick und das Gehör auf eine sich mitunter dramatisch verändernde Welt „aufregend anders“ geöffnet wurden.