„Statt das Kunstwerk in den Mittelpunkt zu stellen, wird das eigene Erleben zum leicht narzisstischen Erfahrungszentrum“, schreibt ein Musikkritiker nach dem Konzert des britischen Gildas Quartet im Dezember 2019 in Graz, das sein Publikum durch den Eindruck von Surround Sound in das musikalische Innenleben von Janácek, Britten und Purcell führen wollte. Die vier jungen Musiker des Quartetts verteilten sich immer wieder neu im Publikum und riefen durch neue Hörachsen, fragile Klangfarbenmischungen und -differenzierungen immer wieder überraschende Eindrücke und neue Interpretationen hervor, die – dem Kritiker sei dabei durchaus gefolgt – das subjektive Erleben des Publikums stärken wollten.
Ist das narzisstisch? Führt eine neue Konzertdramaturgie, die den Raum, eine ungewohnte Nähe zwischen Ausführenden und Hörenden und die Akustik zu Mit-Interpreten der Aufführung macht, automatisch vom Werk weg? Kann man das Werk überhaupt von seiner jeweiligen Interpretation und Rezeption in einer Live-Performance „trennen“? Sichtlich gibt es dazu immer noch erhöhten Diskussionsbedarf, den die Tagung „Das Konzertpublikum der Zukunft“ der Hochschule der Künste Bern am 22. und 23. November 2019 aufgriff, umsichtig kuratiert von Barbara Balba Weber und Irena Müller-Brozovich.
„Ob wir das Konzertmoment als Ritual der Bourgeoisie, als Möglichkeit zur Selbsterkenntnis, als quasi-schamanisches Abtauchen in die Welt alter Klänge oder als soziale Fließplastik verstehen – immer geht dabei um drei Perspektiven: die Performance, die Rezeption und den Dritten Raum, der alles miteinander in Beziehung setzt“, gibt Graziella Contratto als Fachbereichsleiterin Musik der Tagung mit auf den Weg.
Aus forschendem Blickwinkel eröffneten Martin Tröndle und Susanne Keuchel die Tagung mit zwei unterschiedlichen Zugängen zum Thema: Tröndle mit der These, dass erst eine erhöhte Aufmerksamkeit das ästhetische Erleben im Konzert steigern würde. Deshalb hätten sich im Laufe der Zeit diejenigen Konzertvariationen durchgesetzt, die dazu auffordern, die Aufmerksamkeit zu erhöhen. Heute seien Publikumsbedürfnisse allerdings fragmentiert, deshalb gäbe es kein ideales Konzertformat mehr. Umso mehr würden Veranstalter, Musiker und Musikvermittler nach Wirkungen rund um veränderte Bedingungen im Konzert fragen: „Empirische Forschung zu Konzerterfahrungen, den Auswirkungen von Musikvermittlungsprojekten und alternativen Konzertformaten gibt es bisher kaum. Es gibt keinen Konsens darüber, was ein Konzert ist und welche Mechanismen hier zum Tragen kommen, und wir wissen nicht, was alternative Konzertformate erreichen können.“ Deshalb startet Tröndle ab August 2020 eine Versuchsreihe mit insgesamt 1.400 Probanden im Radialsystem Berlin, um diesen Fragen empirisch auf den Grund zu gehen. Nähere Infos dazu unter: experimental-concert-research.org
Susanne Keuchel brachte wichtige Daten über das Rezeptionsverhalten von jungen Menschen in die Diskussion und zeigte dem Publikum deutlich, dass sich dieses durch die Digitalisierung grundlegend verändert beziehungsweise auf digital-analoge Räume hin erweitert. Musik wird vorrangig online oder via Streaming gehört, nur 31 Prozent der Musik, die von jungen Menschen rezipiert wird, findet für sie live in kulturellen Einrichtungen statt.
In die gelebte Praxis der Musikvermittlung führte der Vorarlberger Hans-Joachim Gögl: Er berichtete vom Festival „Montforter Zwischentöne“, das er gemeinsam mit Folkert Uhde dreimal im Jahr in Feldkirch kuratiert. Im Zentrum stehen überwiegend klug inszenierte Eigenproduktionen, die die lokale Bevölkerung einbeziehen und gleichzeitig künstlerisch relevante Aussagen treffen: So können die Besucher des Messias zum Beispiel entscheiden, ob sie den Eingang für Gläubige oder für Ungläubige in den Konzertsaal wählen. Für ehrenamtliche Betreuer im Hospiz findet ein Konzert statt, bei dem auf der Bühne ein Arzt, ein Priester, ein Sterbebegleiter und eine Angehörige über ihre Erfahrungen berichten, während ein Cellist dazu aus dem Publikumsraum heraus improvisiert.
Dass dafür andere Räumlichkeiten als in herkömmlichen Konzerthäusern notwendig sind, versteht sich von selbst. Deshalb fragte die Kunsthistorikerin Maren Polte zu Recht, wo denn in Zukunft (Hoch-)Kultur überhaupt stattfinden soll. Kritisch reflektierte sie die Architektur der Elbphilharmonie, die allein durch ihre Erscheinung ähnlich kathartische Konzerterlebnisse versprechen würde wie die Musentempel des 19. Jahrhunderts. Im Gegensatz dazu stellte sie das Konzerthaus Harpa in Reykjavík als einen Ort für Kunst vor, der durch die Unterstützung aller Isländer gemeinsam ermöglicht wurde, nachdem das Baumanagement in die Finanzkrise von 2008 geschlittert war.
In die abschließende Podiumsdiskussion hinein meldete sich ein Besucher aus dem Publikum: „Bei mir ist es 50 Jahre her, dass ich Musik studiert habe – und ich habe den Eindruck, es hat sich nichts verändert.“ Mit diesem Statement hat er Recht und Unrecht zugleich. In kaum aushaltbarer Gleichzeitigkeit rekrutieren große Orchester ihren Nachwuchs hinter dem Vorhang, während die Camerata Bern überhaupt keine Probespiele mehr macht, sondern Gäste ins Ensemble einlädt und anschließend gemeinsam beratschlagt, ob daraus ständige Mitglieder werden sollen. Große Opernbühnen spielen immer noch „Pippi Langstrumpf auf der Probebühne und alle sind glücklich“, wie der Berner Studiengangsleiter für Music Performance Lennart Dohms konstatiert, aber die Tiroler Festspiele in Erl beweisen seit 2019, dass man Programme für Kinder mit dem Programm für Erwachsene verknüpfen kann und zeigten im Dezember eine „Rusalka“ für Kinder im Kammermusik-Saal für 3- bis 6-Jährige, während im großen Haus „Rusalka“ für Erwachsene Premiere feierte.
Musikvermittler, Manager, Pädagogen und Kuratoren waren sich in Bern jedenfalls einig, dass der Wettbewerb härter würde und junge Musiker zu Entrepreneurs origineller eigener Ideen werden müssen. Konsequenterweise endete die Tagung mit interaktiven Workshops für Musiker und Musikvermittler, um gemeinsam über aktuelle Themen des Konzertbetriebs nachzudenken und zu diskutieren: Was tun wir für das Konzertpublikum der Zukunft? Wie interagieren wir mit dem Publikum auf der Bühne? Wie kommunizieren wir als Veranstalter und wie kann ein diverses Publikum am Konzertleben partizipieren?
Wie immer bei guten Tagungen gab es darauf keine abschließenden Antworten, sondern viele neue Fragen.