Seit mittlerweile 15 Jahren bereichert die Junge Oper Dortmund die Theaterszene. Aktuell überzeugt eine besondere Produktion von Georges Bizets „Carmen“.
Carmen – diese Frau kennen wir doch als diese erotisch anziehende Exotin in wallendem rotem Kleid mit Blüte im Haar. Reihenweise verdreht sie den Männern den Kopf. Und legt jeden von ihnen flugs wieder ab, sobald sich ein neuer Lover findet. Im Verlauf der langen Rezeptionsgeschichte dieser höchst erfolgreichen Oper von Georges Bizet, 1875 in Paris uraufgeführt, blieb Carmen weitgehend diese starke, selbstbewusste Frau, die nichts kennt als ein Leben in völliger Freiheit. Das klischeehafte Bild einer rücksichtslosen femme fatale also! Aber stimmt das wirklich? Ist Carmen damit hinreichend charakterisiert?
In Dortmund schaut man hinter dieses Klischee, dringt durch Carmens äußere Erscheinung hindurch und versucht einen Blick hinein in ihr tiefstes Inneres. Und dies im Rahmen der höchst ambitionierten, seit Jahren gepflegten Reihe von Inszenierungen der „Jungen Oper“. Ein bemerkenswertes, ein faszinierendes, ein berührendes Projekt. „Inside Carmen“ – schon der Titel signalisiert, dass es hier um mehr als „nur“ den Stoff der Oper geht; es geht auch um Carmen und ihr Innerstes.
„Junge Oper Dortmund“: Da engagieren sich die „OpernYoungsters“ und die „OpernKids“, Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, dazu noch Profis, die zum Solist*innen-Ensemble des Hauses gehören und ihre Bühnenerfahrung einbringen. Alle zusammen stemmen eine Produktion mit durch und durch professionellem Anspruch. „Inside Carmen“ löst ihn in jeder Hinsicht voll ein.
Um es kurz zu machen: Georges Bizets „originale“ Carmen wird von vorn bis hinten erzählt, gar keine Frage. Hier aber als eine Art (leicht gekürztes) Theater auf dem Theater, präsentiert von vier Moderator*innen, die ihrem überwiegend jungen Publikum im Operntreff (der kleinen, intimen Spielstätte im Dortmunder Opernhaus) die Geschichte rund um Carmen, den feschen Torero Escamillo und den Sergeanten Don José als Oper schmackhaft machen. Immer wieder werden just diese Moderator*innen im Verlauf des Stückes aktiv, mit mal bissigem, mal genervtem, mal geradezu komödiantischem Ton. Denn rund um die eigentliche Opernaufführung passieren immer wieder unvorhergesehene Dinge: Ein Darsteller verpennt in der Garderobe seinen Auftritt, oder irgendetwas anderes läuft aus dem Ruder… Die Moderator*innen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Vorstellung. So wie in jenen Momenten, in denen die Musik eine Zäsur macht, die Hauptfiguren mal eben aus ihrer Rolle heraustreten und – wie in einer Probe – Fragen stellen, Situationen kommentieren, irgend etwas am bisherigen Verlauf der Aufführung „echt scheiße“ finden oder Kolleg*innen in die Mangel nehmen.
Da ist also viel Witz mit im Spiel. Aber auch sehr viel Nachdenklichkeit. Viel unbändige Spielfreude, aber auch lange Augenblicke des Innehaltens. „Inside Carmen“ transportiert zwar die bekannte turbulente Erzählung, in der es neben Gefühlen von Liebe auch um Mord und Totschlag geht. Doch Carmen, die zentrale Figur, zeigt sich nicht als femme fatale, nicht als eiskalt Berechnende, im Gegenteil: Die Inszenierung öffnet ihr einen Raum zur Selbstreflexion. Eigentlich will sie gar nicht dieser dominierende Mensch sein, nicht den Männern den Daumen nach unten oder oben zeigen. Sie wurde von ihnen dazu gemacht. Aber ein „Entweder-Oder“ gibt es für Carmen eigentlich nicht, denn für sie zählt nur grenzenlose Freiheit. Die aber wird nie erreichbar sein, also sucht sie fortwährend nach dem, was sie eigentlich will: einer zweckfreien Liebe ohne Bedingungen. In einer Welt voller (von Männern dominierten) Regeln ist dies nicht zu haben. Deshalb zeigt „Inside Carmen“ alles andere als eine überstarke Frau.
Dieser Aspekt ist Motor der Inszenierung und „Bearbeitung“ der „Carmen“, die Regisseur Alexander Becker in Dortmund erarbeitet hat. Mit äußerst motivierten jungen Leuten und einem tollen Projektorchester. Dies alles auf einer zwar begrenzten, jedoch optimal genutzten Spielfläche. Mit blitzschnell veränderbaren, sehr ansprechend gestalteten Kulissen, mit effektvoll eingesetztem Licht und fantastischen Akteur*innen von Klein bis Groß.
Andres Reukauf, der musikalische Leiter des Projektorchesters, hat Bizets Original raffiniert instrumentiert, neu arrangiert und um Pop-Songs erweitert. Diese Musik zündet vom ersten Takt an. Selbstverständlich mit sämtlichen spektakulären Carmen-Highlights. Gleichwohl verdichtet sich bis zum Ende der Eindruck, die Geschichte einer Frau erlebt zu haben, die ein zerbrechlicher Mensch voller Zweifel ist. „Inside Carmen“ reiht sich ein in die lange Liste jener Produktionen, an deren Beginn die Eröffnung der „Kinderoper Dortmund“ stand: eine eigene Theaterspielstätte für junges Publikum. Dass sich die Pforten zu diesem Haus mit 99 Plätzen und einem Orchestergraben für ein 30-köpfiges Ensemble erstmals öffneten, liegt nun schon 15 Jahre zurück und fiel in die Zeit der Intendanz von Christine Mielitz. Seitdem hat sich viel getan: Etliche Auftragskompositionen wurden vergeben, orientiert an den Ansprüchen und Möglichkeiten der „Kinderoper“. Immer waren es sowohl eine stationäre als auch eine mobile Produktion – mit der letzteren konnten Schulen sowie Kinder- und Jugendeinrichtungen bespielt werden.
Von Anfang an ging es darum, die Zielgruppe aktiv mit einzubeziehen, sprich: den partizipativen Charakter der Arbeit in den Vordergrund zu rücken, Kinder also nicht nur als Empfänger zu begreifen, sondern als aktive Mitgestalter, die auf der Bühne agieren und auch an der Entwicklung der verschiedenen Stücke beteiligt sind: „OpernKids“ und „OpernYoungsters“. Inzwischen wird im „Operntreff“ im großen Opernhaus gespielt, weil das von vornherein nur als Provisorium gedachte Gebäude der „Kinderoper“ in die Jahre gekommen und sanierungsbedürftig ist. In Planung befindet sich ein ganz neues Haus für das Dortmunder Kinder- und Jugendtheater.
In jeder Spielzeit ist die „Junge Oper Dortmund“ offen für neue Leute, einige von ihnen sind aber auch schon seit mehreren Jahren kontinuierlich dabei, was offensichtlich nicht ohne Auswirkungen bleibt: „Drei Menschen aus unserem jungen Ensemble, die seit 13 Jahren mitmachen, haben sich inzwischen an Schauspielschulen beworben – und waren allesamt erfolgreich!“ freut sich Regisseur Alexander Becker.