Body
Dieser Beitrag von Ulrike Liedtke entstand für die diesjährige „Pfingstwerkstatt zur Neuen Musik“ der Musikakademie Rheinsberg. Neben der Autorin nahmen an dem Kolloquium „Chopin und die Folgen“ die Pianisten Jeffrey Burns, Elfrun Gabriel, Boguslaw Jan Strobel und Bianca Sitzius sowie die Komponisten Claus Steffen Mahnkopf und Wolodymyr Runchak als Referenten teil. Die nmz druckt den Vortrag „Reduktion als Weg zu Neuem“ in leicht gekürzter Version ab.
Reduziert auf seine Knochen – getreu Hegel: „Wer die Knochen hat, braucht die Seele nicht“, – sorgt der alte Goethe anlässlich seines 250. Geburtstages für Aufsehen, nicht etwa wegen „Faust“, sondern wegen einer geheimen pathologischen Betrachtung aus den 70er-Jahren der DDR, Reduktion als Bilderstürmerei. Ein Herz liegt in der Heilig-Keuz-Kirche in Warschau, Chopins Herz. Ganz offensichtlich ging dem auch ein chirurgischer Vorgang voraus, Reduktion als Verehrung. Weil aber Stürmerei oder Verehrung allein zu einfach gar nichts weiter führen, muss weiter nach Bildern gekramt werden, auch nach denen, die man nicht sieht, durch Analyse, das Sezieren von Klang.
Noch dichtet das letzte Universalgenie1 in Weimar, als ein junger Pole klavierspielend Paris erobert, einer der ersten Spezialisten eines neuen Zeitalters. Sein Fachgebiet bezieht sich ausschließlich auf die weißen und schwarzen Tasten, auf das Wie des Umgangs mit ihnen und für sie. Reduziert auf die langen kräftig-schönen Finger, ein Abguss seiner linken Hand, entsteht ein unvergilbtes Chopin-Bild, das Brüche im Westen und Verklärung im Osten überlebt hat. Er ist allgegenwärtig, als „Schnürsenkel“ vor den Radio-Nachrichten, brauchbar kurz. Man kann sagen, er sei „nur“ ein Klavierkomponist gewesen, seine Tuttis in den Konzerten würden oberflächlich bleiben, mit seinen polyphonen Sätzen habe es nicht viel auf sich. [...]
Stattdessen: das Bild von Chopin als Wegbereiter einer Neuen Musik, ja, sogar als Vordenker des Tristan-Akkords. Während die Orchesterbesetzungen größer und der Klang voluminöser werden (Liszt), das Ideal des Schmelzklanges Raum greift (Schumann, Brahms) und die Idee von Klang als Farbenpracht erste bewusste Vorboten aussendet (Mendelssohn), identifiziert sich Chopin ausschließlich über das Klavier und bevorzugt Kantilenen, mal nahe am Volkslied, mal arios. In der Zeit des philharmonischen Gedankens spielt einer ganz alleine, kann seinen eigenen schöpferischen Prozess fließend zwischen Improvisation und Komposition gestalten und sich Ausgänge offenhalten. Auf diese Weise sind Verzierungen des Virtuosen nicht mehr entbehrliches Beiwerk, sondern werden zu kompositorischen Elementen. Wer angesichts der nur zwei Notensysteme für die Klavierstimme auf mangelhafte Polyphonie schließt, verkennt freilich die polyrhythmischen Strukturen innerhalb der eben nur zwei Systeme.2 Beinahe nebenbei revolutioniert Chopin dabei die Klavierinterpretation, indem er Empfehlungen zum „natürlichen Fingersatz“ gibt.
Es ist die Zeit der großen Konzertereignisse im 19. Jahrhundert. Während sich ein von Werbung und Preisen bestimmter Musikmarkt gigantomanischen Auswüchsen nähert, während Chopins Zeitgenossen die vielleicht erste Klangentfesselung zum Lärm üben (Berlioz), rät Chopin zur sparsamen Verwendung des Forte. Er spielt im kleinen Kreise, mit dem Ideal einer „erhabenen Musik in den Tiefen meiner Seele“3, beileibe keine Salonmusik zum Rauchen, Reden und Trinken.
„Nicht zum Tanzen“4, schreibt Chopin über gerade komponierte Mazurken und Walzer. Der Charakter des Tanzes wandelt sich, neben der zeitgemäßen Walzer-Massenproduktion entstehen einzelne individuelle Kompositionen. Der Klavierspieler schafft Neues aus der Reduktion auf wenige Formen, binnendramaturgische Verhältnisse, Stimmen, Klangfarben und Strukturen.
Alfred Stenger spricht von einer Neigung Chopins zur Auflösung des Walzergestus5, Barbara Zuber verweist unterstützend auf die polyrhythmischen Schichtungen in der rechten Hand zum Walzerrhythmus links in op. 42, As-Dur 6. Im As-Dur-Walzer op. 64/3 sind rechte und linke Hand zueinander metrisch verschoben – während die linke Hand im Walzerrhythmus zu schwingen hat, liegt die Akzentuierung rechts in den ersten vier Takten auf der dritten Zählzeit. Der Taktschwerpunkt ist aufgehoben. Untersuchungen zum Polonaise-Rhythmus führen in der Polonaise-Fantasie As-Dur op. 61 zu ähnlichen Ergebnissen hinsichtlich der Auflösung von Genremerkmalen. Es passierte im verrauchten Salon und vielleicht deshalb bis heute zu wenig bemerkt: die Auflösung eines Genres oder einfach nur deren Öffnung – ein offener Umgang mit den zur damaligen Zeit gebräuchlichen Formen Walzer, Nocturne, Impromptu – eingestreute polnische Rhythmen der Mazurka und Polonaise – die Herauslösung des Scherzo aus dem Sinfonietypus zum eigenständigen nicht eben heiteren Klavierstück – die gar nicht lyrisch-romantische Etüde als vollgültige Form – die großangelegten Sonaten h-Moll und b-Moll – und schließlich die neue Form der Ballade, weil Bestehendes nicht ausreicht. Vom „erweiterten Musikbegriff“ spricht Kagel 1969 und schenkt dem Nebensächlichen, Uneigentlichen Bedeutung, bei Chopin die Ballade. Berio prägt nach Umberto Eco 1977 den Begriff vom „offenen Kunstwerk“ auch für die Musik, gekennzeichnet durch Wandlungsfähigkeit der Formbildung und musikalisches Situationstheater – nichts anderes tut Chopin. Berios Sequenza-Reihe, reduziert auf die Möglichkeiten nur eines Instrumentes, bietet den Vergleich an. Selbst das interpretatorische Problem zwischen Freiheit und strengen Maßgaben des Komponisten kehrt verblüffend wieder – man denke nur an Berios Fassungen zur Sequenza I für Flöte, erst rhythmisch frei notiert und später vom Komponisten zur Notenherausgabe metrisch geordnet. Man vergleiche mit dem Chopinschen Tempo rubato - die Entfaltung „frei von allen rhythmischen Fesseln“ über der Begleitung im strengen Metrum und gehaltenen Tempo.
Vorwegnahme
Untersuchungen zur Harmonik, insbesondere bei den 24 Préludes op. 28 und hier bei Nr. 22 oder der Anfang der 1. Ballade op. 23 führen ganz unweigerlich zu harmonischen Hilfskonstruktionen, weil eine unbestimmbare harmonische Situation geschaffen wird – und das gleich am Anfang eines Stückes, quasi in der Exposition für etwas! Offen bleiben die Ansatzmöglichkeiten, wie bei einem chemischen Baustein, der Vakanzen zum späteren Ankoppeln bereithält. Und das vor mehr als 150 Jahren! Chopin überspringt 70 Jahre des 19. Jahrhunderts bis in das 20. hinein. Erst dann wird der philharmonische Gedanke wieder weichen müssen, 1921 fertigt der Dirigent Erwin Stein für Schönbergs „Verein für muskalische Privataufführungen“ eine kammermusikalische Fassung von Gustav Mahlers 4. Sinfonie, um „Künstlern und Kunstfreunden eine wirklich genaue Kenntnis moderner Musik zu verschaffen.“ Eine Besetzung mit 4 Flöten, 3 Oboen, 3 Klarinetten, 3 Fagotten, 4 Hörnern, 3 Trompeten, Pauken, Schlagzeug, Harfe und Streichern wird reduziert auf Flöte, Oboe, Klarinette, Klavier, Harmonium, Schlagzeug und 5 Streichquintett. Übrig bleibt eine entschlackte, hochinteressante Struktur.
Wir wissen von der Reduktion auf einzelne musikalische Parameter besonders in den ersten 20 Jahren des 20. Jahrhunderts – die Emanzipation des Rhythmisch-Mechanischen im Ergebnis des Futurismus seit 1909 in Sacre du printemps (1910), die Emanzipation des Schlagwerks seit Hindemiths Suite von 1922 und in einer Reduktion bis zur Vereinfachung bei Orff, Antonio Russolos Geräuschharmonium von 1924 und die Emanzipation des Geräuschs über Varese oder Pierre Schaeffers „Orphee 53“ (Presse: brutale Geräuschwelten) bis zur Entstehung der elektroakustischen Studios in den 50er-Jahren. Wir kennen die Reduktionen von theatralischen Musizierformen – die Schwemme an szenischen Oratorien, die zugleich genre-übergreifend waren (Strawinskys „Oedipus Rex“ 1926/27,1948; Orffs Antigonae 1949 und Prometheus 1968), Filmmusiken wie „The Flood“ von Strawinsky (1962), die Stücke des epischen Theaters wie Dessaus „Lukullus“ (1944 begonnen), und Nonos „Intolleranza“ (1960) und die sparsamsten Darstellungen von Leidenschaft bei Isang Yun in dessen Lehrstücken, etwa in der „Witwe des Schmetterlings“ (1967/68). [...]
Chopin und die Gegenwart
Wenn Reduktion einen Weg zu Neuem weist, ist es an der Zeit, über Reduktion in der Musik heute nachzudenken, nicht nachschöpfend etwa nur auf Chopin bezogen, sondern angeregt von ihm als Reaktion auf heutige Anforderungen:
1. Neue Formen: Während die Weiterentwicklung und Öffnung musikalischer Formen einen Stagnationspunkt erreicht haben, führt Reduktion der Sprache zu neuen Wörtern, Verkürzungen etablieren sich. Wir kommunizieren in einer Bildchen- oder Stichwortsprache. Weltweite Kommunikation verlangt überdies nach Reduktion der Sprachen, die beschränkte Wortauswahl im Englischen bietet sich an. Sprachreduktion am Computer fällt zeitlich zusammen mit den musikalischen Möglichkeiten am Computer.
2. Unbestimmte Harmonik: Die globale Digitalisierung führt dazu, dass sich jeder Internet-, Funk- und Fernsehnutzer sein Programm aus allen Funk- und Fernseharchiven der Welt selbst auswählen kann. [...] Es entsteht ein reicher Musikmarkt, aber damit noch kein einziges zusätzliches Musikstück. Alle bisher gedachten harmonischen Systeme sind weltweit präsent und bieten neue Verknüpfungen, Herauslösungen von Bausteinen und Reduktionen auf etwas neues Wesentliches.
3. Tempo rubato: Alles geht – oder eben doch nicht? Eben nicht, um es kurz zu beantworten. Allerdings kann Technik einen Teil des kompositorischen Handwerks übernehmen, Samp-les müssen nicht grundsätzlich als genormte Vorfertigungen angesehen werden, sondern können schlicht den zeitlichen Kompositionsaufwand verkürzen helfen. Es kommt darauf an, wie etwas zusammengefügt – komponiert – wird, das Ausgangsmaterial ist vielfältig und zweitrangig. Nicht anders stellte Mozart die kompositorischen Errungenschaften seiner Zeit zusammen, aber eben: wie.
4. Polyrhythmik: Jugendliche Musik der 90er-Jahre ist Techno in außerordentlich vielen Varianten und Schattierungen und dennoch laut, fast nicht präsent in den öffentlich-rechtlichen Medien, was die Kultur der Jungen nur um so mehr absetzt. Die stereotypen Bassrhythmen überlagern polyrhythmische Strukturen, noch immer ein Sieg des Maschinenzeitalters über den Computer. (...).
5. Programmmusik? Nein, die schrieb Chopin sicher nicht. Die individualisierte Annäherung verschiedener gleichberechtigter Künste an einen thematischen Grundgedanken ermöglicht heute das neue „Gesamtkunstwerk“. Längst werden Genres vermischt, überlagern sich. Es ist an der Zeit, zu reduzieren und zu sortieren. Größe liegt möglicherweise wieder in der Miniatur.
1 Frédéric Chopin: 1.3.1810-17.10.1849; Johann Wolfgang von Goethe: 28.8.1749-22.3.1832
2 Überliefert ist, dass Chopin das „Wohltemperierte Klavier“ von Bach auswendig beherrschte und sich bei eigenen Konzerten damit „warm“ spielte.
3 über Händels „Cäcilienode“: „dieses nähert sich am meisten dem Ideale, das ich von erhabener Musik in den Tiefen meiner Seele hege“, 1828 in Berlin
4 Frédéric Chopin, Briefe, hg.v. Krystyna Kobyla´nska, Frankfurt a. Main, S. 108
5 Alfred Stenger, Studien zur Geschichte des Klavierwalzers, Diss. Frankf.a.M.1978, S.84
6 vgl. Barbara Zuber, Syndrom des Salon und Autonomie, Über Chopins Walzer, in: Musik-Konzepte 45, F. Chopin, München 1985