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Vivien Zhang. Foto: Monika Twelsiek
Vivien Zhang. Foto: Monika Twelsiek
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Regeln sind prima, solange man sie selbst erfunden hat

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Spielerische Ideen zum Thema Üben von Vivien Zhang, mit einem Kommentar von ihrer Lehrerin Monika Twelsiek
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Die zehnjährige Vivien Zhang ist seit fünf Jahren meine Schülerin an der Rheinischen Musikschule in Köln. Schon in den ersten Unterrichtsstunden fiel mir auf, dass sie – wie viele begabte Kinder – instinktiv die für sie „richtigen“ Lernmethoden fand. Sie hatte immer neue Ideen, wie man Übungen und Stückchen variieren könnte, so dass es niemals langweilig wurde. Oft war sie es, die die nächsten Schritte vorschlug: Auf methodisch logische und kreative Weise unterrichtete sie sich quasi selbst. Als Lehrerin war ich Lotsin, Begleiterin, Anregerin, manchmal Bremserin. Wir gingen aber alle Wege gemeinsam und machten alle Entdeckungen miteinander.

Als Vivien mir begeistert erzählte, wie sie zu Hause übt, habe ich sie gebeten, ihre Ideen für andere Kinder aufzuschreiben. Entstanden ist der abgedruckte Text, der vielleicht auch für uns Lehrerinnen und Lehrer interessant ist. Da er Methoden der Selbstmotivation aus der Sicht eines Kindes beschreibt, bietet er uns die seltene Gelegenheit, einen Blick in die Köpfe unserer Schülerinnen und Schüler zu werfen. Schauen wir uns die verschiedenen Übe-Ideen einmal genauer an:

Ich heiße Vivien, bin zehn Jahre alt und spiele seit fast fünf Jahren Klavier. Ich habe gemerkt, dass das Üben viel mehr Spaß macht, wenn man sich Spiele ausdenkt:

Die olympischen Spiele

Für die anderen sind die olympischen Spiele in China längst vorbei. Für mich nicht. Bei mir laufen sie auf den Tasten weiter. Jedes Stück ist ein Sportler. Die Seitenanzahl ist sehr wichtig. Bei der ersten Runde darf ich doppelt so viele Fehler machen wie ein Stück an Seiten hat. Also könnte ich mir bei einem Stück, das drei Seiten lang ist, sechs Fehler leisten.

Beispiel: Ich spielte das Stück „Blue Mood“, das zwei Seiten lang ist. Also durfte ich in der ersten Runde maximal vier Fehler machen. Es waren aber nur drei. Das heißt, „Blue Mood“ ist eine Runde weiter. Es kommen alle Stücke weiter, bei denen ich es geschafft habe, weniger Fehler als erlaubt zu machen.

Bei der nächsten Runde darf ich nur noch so viele Fehler machen wie die Seitenanzahl. Bei „Blue Mood“ wären es also zwei. Da mir aber nur ein Fehler passiert ist, ist „Blue Mood“ wieder eine Runde weiter. Es kommen wieder alle weiter, bei denen ich weniger Fehler gemacht habe als ihre Seitenanzahl.

Bei der dritten Runde wird es ganz schwierig. Ich darf nur noch so viele Fehler machen wie die Hälfte der Seitenanzahl. Bei „Blue Mood“ bedeutet das: Nur ein Fehler ist erlaubt. Ich habe tatsächlich nur einen Fehler gemacht, das heißt, dieses Stück hat die dritte Runde geschafft und bleibt weiter im Rennen. Wer es bis hierhin geschafft hat, ist im Grunde schon Gewinner. Denn die vierte Runde erfordert höchste Konzentration. Ich darf jetzt nur noch so viele Fehler machen wie die Seitenanzahl durch drei. Bei „Blue Mood“ heißt das, ich muss fehlerfrei spielen. Leider war ich diesmal unkonzentriert und machte zwei Fehler. Das bedeutet das Aus für „Blue Mood“. Das Spiel geht so lange, bis nur noch ein einziges Stück übrig bleibt. Das ist dann Olympiasieger.

Dieser Teil, in dem der sportliche Aspekt des Musizierens in den Vordergrund tritt, ist der Schreiberin so wichtig, dass er die Hälfte des Textes einnimmt. Die Klavierstücke werden „personifiziert“, zu „Sportlern“, die im spielerischen Wettbewerb gegeneinander antreten. Regeln werden minutiös formuliert, es gibt Gewinner und Verlierer. Die Spielerin – abwechselnd in der Rolle der Sportler/-innen und der bewertenden Instanz – führt Regie in einem Rollenspiel und spielt gleichzeitig alle Rollen selbst. Sie setzt die Regeln, um sich ihnen anschließend zu unterwerfen.

Bemerkenswert ist dabei das Einbauen einer „Fehler“-Toleranz, die mit jedem Durchgang abnimmt, es gilt also das Prinzip der Steigerung. Interessant ist auch die Kategorisierung der Stücke ausschließlich nach ihrer Länge, offensichtlich ein Kinder-Maß für „Schwierigkeit“. Dass letztlich alle Stücke auf diese Weise geübt werden und die Regisseurin/Sportlerin/Klavierspielerin als eigentliche Gewinnerin aus dem Spiel hervorgeht, ist dem Kind durchaus bewusst.

Vielleicht sollte ich noch bemerken, dass ich als „moderne“ Pädagogin das Wort „Fehler“ im Unterricht gar nicht benutze und mir selbst die strenge Regelhaftigkeit der jungen Autorin eher fremd ist. Vivien wünscht sich aber auch im Unterricht oft eine Bewertung, die ich – wiederum spielerisch – in Klängen ausdrücken soll: Cluster = noch nicht sehr gut, Spannungsklang = schon ganz gut, Dreiklang = sehr gut.

Das im Text erwähnte Klavierstück „Blue Mood“ ist übrigens eine Komposition von William Gillock aus dem Sammelband „Toll in Moll“ (Breitkopf 8600).

Telefonnummer

Ich überlege mir für die Zahlen null bis neun jeweils eine Taste. Zum Beispiel die Taste c ist null. Die Taste d ist eins. Und so weiter … Ich kann auch schwarze Tasten nehmen. Wenn ich alle Zahlen untergebracht habe, kann ich dann eine Nummer wählen, die ich kenne. Diese spiele ich dann auf den Tasten. Manchmal ergibt sich eine schöne Melodie.

Hier zeigt sich die Faszination am mathematischen Aspekt von Musik, deren sinnliche Wirkung fast überrascht wahrgenommen wird: „Manchmal ergibt sich eine schöne Melodie.“ Die Zuordnung von Zahlen und Tonhöhen führt zu einer Art „Geheimsprache“. Manchmal hat Vivien die Zahlenreihen zu kleinen „seriellen“ Kompositionen ausgebaut. (Übrigens sind Kinder auch von den plakativen Handy-Jingles sehr begeistert. Das Klassik-Zitat des Nokia-Handy-Jingles ist mittlerweile so berühmt wie der Anfang der „Elise“.)

Üben mit der kleinen Schwester

Mit meiner kleinen Schwester Lucy macht das Üben auch Spaß! Sie ist vier Jahre alt und findet es total lustig, wenn ich mit ihr auf den Tasten spiele. Zum Beispiel: Die Maus und die Katze. Ich bin die Katze und Lucy die Maus. Ich laufe ihr hinterher und die Tasten werden kreuz und quer gespielt.

Das macht Spaß!

Geschildert wird eine „pädagogische“ Situation: Die ältere Schwester spielt mit der jüngeren am Klavier und „unterrichtet“ sie dabei. Oft erzählt mir Vivien, was Lucy wieder Neues von ihr gelernt hat – eine erste Erfahrung der Faszination des Lehrens!

Geschichten auf den Tasten erzählen

Manchmal erzähle ich Lucy auf dem Klavier Geschichten. Ich erzeuge Geräusche (Wind, Regen, Türknallen usw.), komponiere kleine Melodien und denke mir Texte aus. Das Schlimme ist, wenn Lucy ein Stück gefällt, muss ich es immer wieder spielen.

Oder ich nehme ein Buch, das sie gerade sehr gerne liest. Letztens kaufte Mama ihr ein Buch namens „Prinzessin Lucy“. Es handelte von einer schönen Prinzessin, die auf der Suche nach einem passenden Schloss war. Zu jedem Kapitel habe ich ein kleines Liedchen geschrieben. Ich habe dann meiner Familie erst das Kapitel vorgelesen und dann das Lied vorgespielt. Es hat ungeheuer Spaß gemacht!

Musik, Bildende Kunst, Literatur, Schauspiel fließen hier zum elementaren Gesamt-Kunstwerk zusammen. Das Kind ist Dichterin, Komponistin, Schauspielerin, Musikerin, Regisseurin. Deutlich wird, wie wichtig die jüngere Schwester als Mitspielerin und Zuhörerin ist, wie bedeutend das begeisterte Publikum! „Das Schlimme ist, wenn Lucy ein Stück gefällt, muss ich es immer wieder spielen.“ Kann man die Last und Lust der Zugabe schöner ausdrücken?

Der Titel des von Vivien erwähnten Kinderbuchs lautet: „Heute ist Lucy Prinzessin“ von Isabel Abedi (Edition Bücherbär).

Alle Stücke zusammenrühren

Ich habe noch eine Idee, wie das Üben vor einem Wettbewerb Freude bereitet. Mir war einmal langweilig, weil ich die Wettbewerbsstücke immer wieder spielte und es immer das Gleiche war. Dann habe ich alle Stücke zusammengetan. Ich suchte aus jedem Stück eine kleine Notenreihe raus und spielte dann alles hintereinander. Ein bunt gemixtes Stück aus Dur und Moll war das Ergebnis.

Neben dem seriellen Prinzip der Telefonnummern wird hier ein weiteres Kompositionsprinzip spielerisch entdeckt und erprobt: das Prinzip der Collage. Die Langeweile und Öde, die nun einmal in der Wiederholung lauert, wird umschifft, indem Teile aus verschiedenen Stücken neu zusammengesetzt werden und so in anderem Licht erscheinen. Vivien hat mir diese Neu-Kompositionen vorgespielt, interessant waren besonders die von ihr improvisierten Übergänge im „bunten Mix“.

Fantasievoll nachfragen

Mir selbst ist nach dem Lesen des kleinen Textes klar geworden, wie wenig wir im Grunde über unsere Schülerinnen und Schüler wissen. Was geht in ihren Köpfen vor, während wir sie nach allen Regeln der Kunst unterrichten? Welche unserer kreativen Übemethoden wenden sie eigentlich im heimischen Wohnzimmer an? In welchem Raum steht überhaupt das Instrument? Wie oft wird auf ihm gespielt und was? Und hört eigentlich jemand zu?

Mit welchen Gefühlen und Erwartungen kommen unsere Schüler zu uns? Was sind ihre Wünsche und Träume? Welche Musik hören sie? Lesen sie Bücher? Gibt es Filmmusiken, die sie faszinieren, und spielt Musik in ihren Computerspielen eine Rolle? Warum bleiben manche Schüler über Jahre, ohne Fortschritte zu machen, beenden andere den Unterricht abrupt ohne erkennbaren Grund? – Nicht nur Tonarten, Notennamen und Taktzahlen sind interessant und bedeutend für den Erfolg des Unterrichts. Vielleicht sollten wir Lehrerinnen und Lehrer das Repertoire unserer Fragen fantasievoll erweitern!

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