Vom 31.10. bis 2.11.2014 fand in Bregenz der dritte Kongress des „Archivs der Zukunft“ statt, einem Netzwerk von Bildungserneuerern, welche Schulen, Kindergärten, Hochschulen und andere Bildungshäuser in die schönsten, lebendigsten und kultiviertesten Orte der Gesellschaft verwandeln wollen. Gegründet wurde das Archiv der Zukunft im Jahr 2007 in Hamburg als Verein mit mittlerweile 1.400 Mitgliedern, darunter Schulen, Einzelpersonen aber auch die Stadt München. Ziel des Vereins ist es, das Schulsystem von unten zu verändern. Dazu sollen Best Practice-Erfahrungen und -Aktivitäten der Mitglieder gesammelt und bekannt gemacht werden. Vorstandsvorsitzender ist der Journalist und Filmemacher Reinhard Kahl, dessen Einladung zum Kongress mit dem Thema „Orte und Horizonte. Bildung braucht Gesellschaft!“ etwa 1.500 Menschen nach Bregenz folgten.
Gemeinsam wurde den Fragen nachgegangen, wie gelernt werden soll, welche Orte und Gelegenheiten für Lernen fruchtbar sind bzw. wie Lernräume gestaltet werden sollten und ob Schule, wie sie derzeit institutionalisiert ist, überhaupt noch zeitgemäß ist. Antworten auf diese zentralen - nicht nur pädagogischen sondern auch gesellschaftlichen - Fragen wurden in zahlreichen Workshops, Foren, Diskussionsrunden und Vorträgen gesucht. Der Musik kam auf dem Kongress eine zentrale Rolle zu, ganz im Gegensatz zu der Alltagswirklichkeit in vielen Bildungsinstitutionen. In Schulen und Kindertagesstätten ist Musik und Musizieren häufig randständig. Die Mitglieder des Archivs der Zukunft sind jedoch spürbar davon überzeugt, dass Musik bildet und dass pädagogische Einrichtungen mit Musik aufgeladen werden müssen.
Auf dem Kongress erklangen gleich zur Eröffnung verschiedene „Melodien des Lebens“ gemeinsam musiziert von Schülern der Bremer Gesamtschule Ost und Musikern der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. „Melodien des Lebens“ so heißt auch die Show, in der diese Lieder zur Aufführung kommen. In dieser Aufführung musizieren Jugendliche zusammen mit Musikern der Kammerphilharmonie (siehe www.unsereshow.de). Dabei werden sie von dem Pianisten und Songwriter-Coach Mark Scheibe aus Berlin unterstützt und vorbereitet. Die Melodien des Lebens machen aus diesen Jugendlichen wahre junge Künstler, welche Selbstwirksamkeit erfahren und sich und ihr Lebensgefühl in diesen Liedern ausdrücken können.
Ausverkaufte Stadtteilopern
Eindeutig spiegeln sich in den Liedtexten die Gedanken und Gefühle der Jugendlichen. Die mittlerweile schon eingespielte künstlerisch-musikalische Kooperation der Bremer Kammerphilharmonie mit den Gesamtschülern ist jedoch nicht das stolze Ergebnis zahlreicher Musikvermittlungsprojekte sondern ein glücklicher Zufall, genaugenommen ein Nebenprodukt einer mittlerweile siebenjährigen und leider noch viel zu ungewöhnlichen Wohngemeinschaft. Diese ergab sich aus der Raumknappheit des Bremer Orchesters, welches dringend geeignete Probenräume suchte. Obwohl eine Gesamtschule im Osten Bremens im Stadtteil Osterholz-Tenever, einer Trabantenstadt aus den 70er Jahren mit einem vierzigprozentigen Anteil an Hartz IV-Empfängern eigentlich nicht den Wunschvorstellungen des Orchesters entsprach, war die Akustik des Raumes so überzeugend, dass das Orchester sich darauf einließ. Und so entpuppte sich diese Wohngemeinschaft als Keimzelle für eine außergewöhnlich gewinnbringende, musikalisch und menschlich überzeugende Zusammenarbeit. Einmal jährlich führt das Bremer Orchester gemeinsam mit 400 Schülern eine Stadtteiloper auf, welche mittlerweile eine so breite Resonanz erfährt, dass die Vorstellungen ausverkauft sind.
Für die entsprechende Stimmung am Abend sorgte das Bourbon Street Orchestra des Peter-Cornelius-Konservatoriums Mainz mit energetischen Bläsersounds, coolen Grooves und einer unterhaltsamen Bühnenperformance. Ganz am Vorbild einer klassischen New Orleans Marching Band orientiert, musizierte das junge Bläserensemble auf eindrucksvollem Niveau. Das Repertoire der Gruppe umfasste Bearbeitungen bekannter Pop-Stücke sowie Eigenkompositionen des Mainzer Trompeters und Arrangeurs Manuel Hilleke. Dieser agierte mit überzeugender Präsenz und Zurückhaltung im Hintergrund, so dass die jugendlichen Musiker alleine das Bühnengeschehen dominierten. Dabei kam bei den Kongressteilnehmern eine unglaublich gute und gelöste Stimmung auf, die viele motivierte das Tanzbein zu schwingen.
Ob bei den Melodien des Lebens oder bei der groovig-poppigen Blasmusik: In beiden Musikbeiträgen zeigten die musizierenden Jugendlichen ihre unglaubliche Begeisterung und ihr Entbrannt- und Berührtsein von Musik. Diese Jugendlichen hatten das Glück auf Menschen zu treffen, die ihre Potentiale erkannt haben und sie musikalisch fördern. Potentiale und Interessen sind bekanntlich unterschiedlich, denn Individualität ist ein biologisches Grundprinzip. Doch wie wird der Individualität in Schule und Musikschule begegnet? Remo Largo, schweizer Kinderarzt und Buchautor, fordert eindringlich dazu auf, pädagogische Mythen zu hinterfragen und damit aufzuhören, Kinder zu vergleichen. Sein Plädoyer lautet, dass Gleichbehandlung der Einzigartigkeit der Kinder nicht gerecht werden kann. Lehrpläne seien daher kritisch zu hinterfragen, denn sie orientieren sich am durchschnittlichen Kind. Jedoch haben nur zwei Drittel der Kinder eine durchschnittliche Begabung – einem Drittel der Kinder entspricht der Lehrplan und somit der Unterricht, der sich daran orientiert, nicht!
Weltbeziehungsbildung
Dass die Kammerphilharmonie Bremen zunächst nicht in ein Schulgebäude einziehen wollte, ist durchaus nachvollziehbar, denn Schulgebäude sind häufig sterile, künstliche Räume. Peter Guttenhöfer, ein Walddorflehrer im Ruhestand, stellt zurecht fest, dass Schule häufig etwas seltsames, vom Leben abgekoppeltes ist. In Schulen ist kein natürliches Leben, es wird nichts produziert und es ist nichts los, bevor die Schüler kommen. Zahlreiche populäre Musikbeispiele, wie etwa Alice Cooper’s „School‘s out“, Gary Jules „Mad world“, Pink Floyds „Another brick in the wall“ und Supertramps „Logical Song“ beschreiben ein Entfremdungsgefühl, dass Schule und Unterricht bei Kindern und Jugendlichen erzeugt.
Hartmut Rosa, Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, erklärt sich dieses Entfremdungsgefühl, welches in den Songs detailliert beschrieben wird durch fehlende Resonanzerfahrungen. Schule sollte zum Resonanzraum werden, wenn Bildung gelingen soll. Nach Rosa ist Bildung weder Weltbildung noch ist sie reine Selbstbildung, sondern Weltbeziehungsbildung. Damit Bildungsprozesse gelingen, sind ferner Selbstwirksamkeitserfahrungen nötig. Diese werden durch Zutrauen der Lehrpersonen begünstigt. Götz Werner, Gründer und Aufsichtsrat der Drogeriemarktkette dm spricht in seinem Vortrag über die Bedeutung von Sinnerfahrungen und Zutrauen nicht nur im pädagogischen sondern auch im wirtschaftlichen Kontext. Die Aufgabe der Lehrenden besteht darin, das Potenzial der Kinder wahrzunehmen und ihnen zu helfen es zu entfalten. Dies könnte auf die Kurzformel „das Implizite durch (Bildungs-) Angebote explizit machen“ verkürzt werden. Dabei sollte immer der Mensch Zweck und Ziel allen Handelns sein. Diese Überzeugung spiegelt sich in der Unternehmensführung von dm wider: die Lernlinge (so bezeichnet Werner seine Lehrlinge und Auszubildenden) bekommen künstlerische Angebote, um ihr persönliches kreatives Potential zu entfalten und auszuschöpfen. Zudem fördert das Unternehmen bundesweit die musikalische Bildung von Kinder und Jugendlichen durch Initiativen wie die „Zukunftswerkstatt Musik“ und „Singende Kindergärten“ (siehe www.zukunftsmusiker.de).
Jedes Kind sollte die Chance bekommen, sein künstlerisches Potential zu entdecken und zu entfalten. Wie würden Schulen mit dem Hauptfach Kultur aussehen, was stünde dort auf dem Lehrplan? Wer würde den Unterricht gestalten? Künstler oder Musikpädagogen? Gibt es diese Unterscheidung überhaupt? Diesen Fragen sollte sich ein breiterer Expertenkreis widmen, denn bei den entsprechenden Diskussionsforen des Kongresses wurde das etwas zu pauschal und undifferenziert diskutiert. Beinahe feindlich wurde der Musikpädagoge von manch einem betrachtet, als jemand der sich zwischen Kunst und Kind stellt und Zugänge verhindert. Erfahrungszugänge werden aber vor allem dann verhindert, wenn zu viel geredet und theoretisiert wird. Die musikalische Erfahrung sollte am Anfang stehen, genau das wissen Musikpädagogen und genau hier war ein Mangel und hier besteht Verbesserungsbedarf bei den nachfolgenden Kongressen. „Was Musik kann“ sollte nicht nur berichtet sondern von den Teilnehmern aktiv erfahren werden. Workshops waren eher Vorträge mit Diskussion im Sitzkreis, jedoch sollte sich ein Kongress von Bildungsvisionären nicht in theoretischen Vorträgen erschöpfen.
Jedoch waren sich alle einig, dass Kultur etwas ist, was Menschen zu fokussieren, zu begeistern und zu beflügeln vermag. Aber was kann und darf Musik in Bildungskontexten leisten und auf welche Art und Weise? Wo verläuft die Grenze zwischen Kunst und Kulturvermittlung? Damit die Bildungsqualität der Musik, der Natur und die der Orte künftig stärker in den Fokus von Bildungspolitikern geraten, wurden entsprechende Subnetzwerke des Archivs der Zukunft gegründet. Zukünftig soll der fachspezifische Austausch forciert und Synergien geschaffen werden.