Eine zentrale Frage aller Musizierenden, Musiklernenden und -lehrenden ist die nach einem möglichst effektiven Üben. Dabei ist es nicht nur wichtig, über bestimmte Zeiträume hinweg die Konzentration optimal zu erhalten, sondern auch eine entspannte, angenehme (Körper-)Haltung zum eigenen Üben zu entwickeln, die die Übemotivation steigert beziehungsweise aufrechterhält und ein kreatives, inspiriertes Arbeiten ermöglicht.
Im Zuge meiner Recherchen stieß ich auf das Buch „Effortless Mastery“ des Jazzpianisten Kenny Werner (Kenny Werner: Effortless Mastery. Liberating the Master Musician Within. Jamey Aebersold Jazz 1996), in dem er unter anderem verschiedene Meditationen beschreibt. Meine eigenen positiven Erfahrungen damit wollte ich daraufhin auf einer breiteren Basis untersuchen und führte eine Untersuchung mit 15 Musikstudierenden durch, die zunächst vier Wochen lang ihr „normales“ Üben und danach sechs Wochen lang ihr Üben in Verbindung mit den ersten beiden Meditationen von Kenny Werner protokollierten und bewerteten. Die erste Übung Werners ist eine Entspannungsmeditation, bei der es darum geht, Körper und Geist in einen entspannten und konzentrationsfähigen Zustand zu versetzen. Die zweite Meditation soll dabei helfen, festgefahrene Denkmuster aufzubrechen, sowie Ängste und Blockaden zu lösen. Dabei spielen auch positive Umprogrammierungsgedanken eine wichtige Rolle. Zusätzlich wurde am Ende der Untersuchung mit allen Teilnehmenden ein Einzelinterview durchgeführt, in dem weitere Auswirkungen und subjektive Einschätzungen abgefragt wurden.
In den Übeprotokollen dokumentierten die Probanden die Übezeit (in Stunden und Minuten) sowie die ihrer Einschätzung nach „konzentrierte“ Übezeit. Darüber hinaus bewerteten sie ihre eigene Konzentration und ihr Wohlbefinden beim Üben (in Schulnoten). Die Tabelle zeigt beispielhaft die je Proband ausgewerteten Übeprotokolle. Die letzten beiden Wochen des Versuchs wurden gesondert ausgewertet, da davon ausgegangen werden muss, dass sich die Übenden erst an den Umgang mit den Meditationen gewöhnen mussten und hier auch ein gewisser Übungseffekt eintreten kann.
Gesteigerte Konzentrationszeit
Die Auswertung ergab folgende Ergebnisse bezüglich der Übe- und Konzentrationszeit: Die reine Übedauer eines jeden Probanden ist im Durchschnitt nahezu konstant geblieben. Dies kann dadurch begründet werden, dass die meisten Teilnehmenden am Tag eine feste Übezeit von beispielsweise zwei Stunden einplanen und einhalten. Die durchschnittliche Übezeit lag hier bei zirka 17 Stunden mit und ohne Meditation pro Woche. Die Konzentrationszeit steigerte sich mit Meditation insgesamt um zirka 4,5 Prozent von durchschnittlich 63,2 auf 67,7 Prozent, in den letzten beiden Wochen sogar um bis zu 15 Prozent.
In den Einzelinterviews wurden neben vielen positiven Effekten auf das Üben auch „Risiken und Nebenwirkungen“ der Meditationen beschrieben: So könne die Meditation auch vom Üben abhalten oder die Lust am „Loslegen“ nehmen. Von vier Probanden wurde bemängelt, dass die Wirkung der Meditation tagesformabhängig sei, es könne zum Beispiel passieren, dass man einschläft, wenn man die Meditation, insbesondere die Entspannungsmeditation direkt nach dem Mittagessen oder gegen Abend beginnt. Ein weiterer unerwünschter Nebeneffekt kann sein, dass die Meditation unter Umständen das Spannungsniveau im Körper zu sehr senkt. Mit Spannung ist an dieser Stelle eine gewisse Wachheit und auch Körperspannung gemeint.
Um diesen beeinträchtigenden Faktoren entgegenzusteuern, ist es möglich, die Meditation zu kürzen oder nur dann anzuwenden, wenn sie benötigt wird (beispielsweise ein- bis zweimal pro Woche). Eine Vorgabe der Studie war es aber, dass vor jedem Üben meditiert wird. In diesem Zusammenhang wurde viermal angegeben, dass die Meditation ineffektiv sei, weil sie entweder zu viel Zeit der eigentlichen Übezeit benötigt oder weil sie nicht mehr aktiv aufgenommen werden kann, da sie zu oft gehört wurde und zu lang sei (22 Minuten).
Die Mehrheit der Teilnehmenden beschrieb den Einstieg in das Üben nach der Meditation jedoch als effektiver. So erläuterte beispielsweise ein Proband, dass sich der Fokus der Konzentration auf eine einzige Sache richte. Alle anderen Störfaktoren, sowohl die in der Übe-Umgebung als auch mentale Blockaden, würden ausgeblendet. So wird beispielsweise viel bewusster wahrgenommen, mit welchem Muskel im Finger die Saite oder Klappe heruntergedrückt wird. Gleichzeitig nimmt der Musiker wahr, ob er selbst währenddessen entspannt oder angespannt ist. Es könne intensiver beobachtet werden, während man spielt und übt.
Durch das bewusste Atmen während der Meditation richtet sich die Konzentration, vor allem bei Vokalisten und Bläsern, auch beim späteren Üben auf die Atmung. Mehrere Probanden gaben an, dass das bewusste Atmen geholfen habe, zur Ruhe zu kommen. Hinzu kommt, dass besonders zu Beginn der jeweiligen Übeeinheit nicht mehr unstrukturiert mit dem Üben begonnen wird, sondern direkt mit der „richtigen“, eigentlichen Arbeit angefangen werden kann, da über grundlegende Faktoren wie Sound, Atmen und Musikalität nachgedacht wird. Alle Gedanken, die den Übenden zuvor umtrieben, würden ausgeblendet oder zurückgestellt und das Üben finde entspannter und freier statt.
Erweiterte Wahrnehmung
Darüber hinaus merkten alle Probanden in den Einzelinterviews an, dass die Beobachtungsgabe, Aufnahme von musikalischen Informationen und die musikalische Kommunikation zwischen den Musizierenden sowie die Zuhörqualität durch die Meditation gesteigert und erweitert wurde. Die Sinne können mehr Informationen registrieren, aufnehmen und verarbeiten. Das sei nicht nur ein Effekt während des Übens, sondern auch beim späteren Spielen im Bandkontext oder bei Auftritten. Ein Teilnehmer berichtete, dass er es geschafft hätte, während des Spielens „neben“ sich zu stehen und beispielsweise seine Finger dabei zu beobachten, wie sie sich bewegten.
Da die Wahrnehmung erweitert ist, werden eigene Fehler schneller, bewusster und öfter bemerkt. In Verbindung mit der Meditation wird diese „Fehlerwahrnehmung“ aber nicht als Störfaktor empfunden. Denn einerseits kann deswegen gezielter an ihnen gearbeitet werden und andererseits werden die Musizierenden in einer Auftrittssituation in die Lage versetzt, mit einem positiven Gefühl über diese Fehler hinweggehen zu können. Dies könnte vor allem an der Wirkung der „Umprogrammierungsgedanken“ in der zweiten Meditation von Kenny Werner liegen. Durch diese entspann-tere Einstellung kann die Meditation auch bewirken, dass vor Auftritten das Nervositätsniveau sinkt, beziehungsweise die Nervosität schneller abklingt. Das kann mit verschiedenen Ursachen zusammenhängen. Zum einen hilft die Meditation durch das bewusste Atmen und Entspannen, sich zu beruhigen und den Puls zu senken. Wenn die Aufregung eher mental bedingt ist, bewirkt die Meditation eine positive Sichtweise auf das eigene Können. Durch das Umdenken, das durch die Meditation bewirkt wird, stand für einen Probanden der Spaß an der Musik endlich wieder an erster Stelle. Er verglich diese Erfahrung mit dem Spielen von Musik, als er gerade angefangen hatte, sein Instrument zu lernen. Damals hatte es weder Bewertung, noch Druck, sondern nur den Spaß am Spielen gegeben.
Der oben beschriebene Effekt des druckfreien Spielens überträgt sich ebenso auf das Zuhören. Vier Teilnehmer erklärten, dass sie innerhalb der Studie ihr Konkurrenzdenken ausgelöscht hätten. Wenn sie vorher „neidisch“ auf ihre Mitmusiker waren oder ihnen bewertend zugehört hatten, so könnten sie nun einfach zuhören. Viel mehr noch: Sie könnten es wertschätzen, was und wie ihre Kolleginnen und Kollegen spielten. Sie freuen sich jetzt zum Beispiel über technische Raffinessen oder improvisierte Melodien, die sie hören und bekommen dadurch Ideen und Anregungen, was sie noch üben könnten. Sie sehen nicht mehr Unzulänglichkeiten bei sich und Fehler bei den anderen, sondern musikalische Mosaikstücke, die sie vielleicht noch lernen wollen oder eben auch nicht. Die Meditation half beispielsweise einem Teilnehmer, sein vorher existentes stilistisches Schubladendenken aufzubrechen. Wo er vorher nur „reine“ Jazz-Stücke schrieb, weil er seine Kompositionen stilistisch „sauber“ halten wollte, kann er jetzt auch anderen Einflüssen offen gegenüberstehen.
Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass nach Einschätzung der hier Befragten durch die Meditationspraxis der Übeeinstieg besser gelang sowie Wahrnehmung, Offenheit und Konzentration profitieren konnten. Weitere positive Effekte waren eine Verringerung des Konkurrenzdenkens, eine Steigerung des Spaßes am Musizieren oder an der Musik allgemein, verringerte Nervosität vor Auftritten und Proben, entspannteres und anstrengungsloseres Üben sowie insgesamt ein gesteigertes Selbstwertgefühl und ein positiveres Selbstbild.