Vom 29. September bis 2. Oktober 2010 wiederholte sich in Frankfurt am Main zum 28. Mal die Bundesschulmusikwoche, einer der größten musikpädagogischen Kongresse Europas. Der Verband Deutscher Schulmusiker kann stolz auf seine geleistete Arbeit für die schulische und außerschulische Musikpädagogik sein. In etwa 200 Veranstaltungen (davon etwa 150 Kurse) mit rund 120 Referenten wurden Modelle für den Musikunterricht vorgestellt, aktuelle musikpädagogische Forschungsfragen diskutiert und kulturpolitische Strategien entwickelt.
Es lohnt sich, den Kongress-Titel „Brennpunkt Schule – Musik baut auf“ bewusst hermeneutisch durch eine musikpädagogische Brille zu betrachten. Provokativ gewählt ist der erste Teil des Titels. So assoziiert man für gewöhnlich mit dem Begriff Brennpunktschule eher eine pädagogische, allgemein bildende Einrichtung, die unter besonders erschwerten Bedingungen funktionieren muss. Es impliziert etwas von Krisenbewältigung, und vielleicht befinden wir uns da auch – bildungspolitisch sowie schulmusikpädagogisch. Musikunterricht findet überwiegend unter erschwerten Bedingungen statt: mit niedrigem Stundenkontingent, häufig fachfremd oder gar nicht. Somit wäre die Auswahl des Titels ein Eingeständnis, aber zugleich ein Aufruf, diese Krise anzugehen. Genau hier setzt die Intention dieses Kongresses auch an.
Der zweite Teil des Titels ist sehr offen formuliert und lässt genug Freiheit, alles darunter zu verstehen und zu subsumieren. Musik baut auf? Wen baut Musik auf? Welchen Teil leistet hierbei die Schulmusik im Besonderen, für uns Lehrer, das Schulklima, die Schüler, unsere Gesellschaft, die Intelligenz, die Kommunikationsfähigkeit et cetera? Hier wird kultur- und bildungspolitisch die Aufmerksamkeit gezielt auf die oft angestrebten, stark vermuteten und angenommenen Synergie-Effekte gelenkt.
Jeder Musiker ist sich der Bedeutung von Musik bewusst – unabhängig von empirischer Beweisbarkeit. Doch im Falle Frankfurt verbirgt sich hinter dem Titel auch eine neue Konzeption von Musikunterricht: „Aufbauender Musikunterricht“ (AMU). In zahlreichen Kursen wurde dieses Modell deutlich hervorgehoben und erläutert, verbunden mit zwei Publikationen. Ziel dieser Konzeption, die für die Sekundarstufe von Prof. Dr. Werner Jank (Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt) und seinem Team und für die Primarstufe von Prof. Dr. Mechthild Fuchs (Pädagogische Hochschule Freiburg) entwickelt wurde, ist es, die Schüler/-innen) zur aktiven, zunehmend kompetenten und selbstbestimmten Teilhabe am Musikleben auszubilden. Musizieren und Hören bilden die Grundlagen für eine verständige Musizierpraxis, für ästhetische Erfahrungen und für musikbezogenes Wissen. Die dafür benötigten Fähigkeiten und Kenntnisse werden durch einen vom Lehrer linear angelegten, systematisch-kontinuierlichen Prozess in den drei definierten musikalischen Kompetenzbereichen (metrische Kompetenz, rhythmische Kompetenz und tonale/vokale Kompetenz) Schritt für Schritt an die Schüler vermittelt. Das hierfür von den Autoren herausgegebene Material soll dem Musikunterricht Arbeitshilfen und Methoden zur Verfügung stellen, um ihm ein Fundament zu geben, das von den Autoren bisher vermisst wurde. Es soll den Erfolg des musikalischen Lernens garantieren, indem es die Musizier- und Hörkompetenz der Schüler stetig steigert.
Kompetenzorientiertes Unterrichten gilt in vielen Fächern als Schlüssel für einen veränderten und verbesserten Unterricht. Nicht nur in der Musik wird das durchaus kontrovers diskutiert. Es stellte sich unter anderem die Frage, welche Kompetenzen man in Musik auf welche Art messen kann. Hier setzte auch der Kurs von Prof. Dr. Andreas Lehmann-Wermser und Anne- Katrin Jordan an, in dem Testaufgaben aus einem Bremer Forschungsprojekt vorgestellt und diskutiert wurden. Diese Grundsatzdiskussion wurde auf dem Kongress in offiziellem, großem Rahmen geführt, zum einen im Forum zur Kongressthematik, welches von Prof. Dr. Ortwin Nimczik moderiert wurde, zum anderen im Seminar von Prof. Dr. Stefan Gies und Prof. Dr. Frauke Heß „Ich höre was, was du nicht hörst – Aktuelle Musikdidaktik zwischen Klangforschung und aufbauendem Lernen“. Heß hat sich in jüngerer Zeit mit den Implikationen des Werkhörens und der Beschäftigung mit „Klassik“ im Musikunterricht befasst. In dem Seminar wurde der Stellenwert und die Berechtigung des projektorientierten, freien, explorativen Zugangs des Hörens im Kontext des Aufbauenden Musikunterrichts diskutiert.
In der Fremdsprachendidaktik löst man sich von linear-direktiven, klein gegliederten Prozessen in der Primarstufe. Der Erwerb der Fremdsprachenkompetenz in der Grundschule orientiert sich am Erwerb der Muttersprache: intuitiv, per Nachahmung, spielerisch im Alltagsgeschehen und in der Alltagskommunikation. Überhaupt: Reformpädagogische Unterrichtskonzepte sprengen die Fachgrenzen, Fachegoismen und Fachkompetenzen eher auf. Vielleicht ist das Bedürfnis nach einem Aufbauenden Musikunterricht und handfesten Kompetenzen daraus erwachsen, dass Musik im Fächerkanon und in der Bildungswirklichkeit stark an Bedeutung verloren hat. Oder um allen Verantwortlichen zu demonstrieren, dass musikalische Kompetenzen nur Fachleute vermitteln können, weil improvisierte, mehrstimmige Gesänge in der vierten Klasse von fachfremden Lehrkräften weder durchgeführt und schon gar nicht vermittelt werden können. Musik kann man nicht einfach durch Liedersingen und „ein bisschen Hören“ vermitteln, das zeigt das Konzept des AMU deutlich. Aber immer wieder neu zu diskutieren bleibt, ob ein fähiger Musiklehrer diese Kompetenzen nicht beim Singen, Hören oder sonst aktiven Musizieren automatisch aufbauend vermittelt.
Es ist das Wesen der Kompetenz, dass sie sich Schritt für Schritt aufbaut und aufbauen lässt. Man ist nun auch in der Schulmusikpädagogik bei einer ähnlichen Diskussion wie der des Schriftspracherwerbs angelangt. Wie lernt das Kind lesen und schreiben (musizieren und hören) – synthetisch, analytisch, im Ganzwort, analytisch-synthetisch oder gar im Sinne eines Lesens durch Schreiben? Im Anfangsunterricht stehen diese Konzepte fast gleichberechtigt nebeneinander, je nach Schule und Lehrperson. Dies bleibt auch der Musikpädagogik zu wünschen.
Viele weitere Programmpunkte verdienten es gesondert genannt zu werden. Als begrüßenswerte Neuheit zu erwähnen ist etwa das Angebot „Forum Junge Schulmusiker“ (FJS), das sich speziell an Lehramtsstudierende und Referendare richtet (siehe auch nmz 6/2010). Hier wurden Kurse angeboten, die auf die Bedürfnisse dieser (angehenden) Berufsanfänger zugeschnitten waren, wie etwa die „Vorstellung schöner Musikstunden“, wo Ideen zur Unterrichtsgestaltung ausgetauscht wurden, oder „Präsentationen gelungener Examensarbeiten“. Ansonsten konnte man in zahlreichen Kursen, trommeln, singen, Cajón spielen, Aspekte und Methoden des Klassenmusizierens kennenlernen, diskutieren und ausprobieren – kurzum viele Ideen sammeln, um diese in die Schule zu importieren.
Keine Bundesschulmusikwoche ohne Musik: Die Gestaltung eines Konzertabends oblag dem Pianisten Lars Vogt, der für sein Engagement im Rahmen der Initiative „Rhapsody in school“ mit der Leo-Kestenberg-Medaille ausgezeichnet wurde. Damit ging die VDS-Auszeichnung an eine Initiative, bei der es um die Begegnung zwischen Profimusikern und Schulkindern im „Brennpunkt Schule“ geht. Dies zeigt, dass auch die Welt der Schule eine Bühne sein kann und Schulen als Kulturinstitutionen zunehmend ernst- und wahrgenommen werden können und müssen.