Hand aufs Herz: Was verstehen Sie, geneigte Leserin, geneigter Leser, unter Musikgeragogik? Welche Bilder haben Sie, wenn Sie an musikalische Ereignisse denken, die im Kontext Musikgeragogik stattfinden? Irgendwas mit Musik und Alter? Irgendwas mit Musik und Alter, Krankheit, Behinderung, Demenz? Irgendwas mit Alter, Fitness und Kultur? Alles irgendwie richtig. Aber es geht genauer.
Das Selbstverständnis der immer noch vergleichsweise jungen Disziplin der Musikgeragogik wurzelt in der Vorstellung von Bildung und Bildungsangeboten für Menschen in der dritten und vierten Lebensphase und im Bildungs- und Ausbildungsauftrag für diejenigen, die mit Menschen in diesen Lebensphasen arbeiten: Das klingt und ist angenehm normal.
Die Deutsche Gesellschaft für Musikgeragogik (DGfMG e.V.) gibt auf ihrer Homepage in Erklärvideos und Text Auskunft über ihr Selbstverständnis und ihre Aktivitäten. Sie verfolgt „die Verbesserung der Ausbildungs- und Forschungssituation, um ein musikalisches Bildungsangebot für ältere Menschen sowie die Qualifikation von Berufstätigen in den Feldern Pädagogik, Soziale Arbeit und Pflege für den Einsatz von Musik zur besseren Bewältigung des Alltags alter Menschen, insbesondere unter dem Aspekt der Lebensqualität und Lebenszufriedenheit, zu gewährleisten.“ (https://www.dg-musikgeragogik.de/) Dass im Kontext dieser Ansätze in einer Vielzahl von Institutionen ein sehr buntes Mosaik von Realitäten entstanden ist, kann nicht verwundern. Das Mosaik wird noch bunter, wenn die enge Verbindung von Musik- und Kulturgeragogik in den Blick genommen wird.
Eine jährliche Fachtagung ist Teil der regelmäßigen Aktivitäten der Gesellschaft; ein Themenfeld aus der Realität wird dann diskutiert und in Austausch gebracht. Anfang März hat in Kooperation mit der Akademie Franz Hitze Haus und der FH Münster, wie in diesen Zeiten nicht anders zu erwarten, eine Online-Tagung stattgefunden. Schwerpunkt diesmal: musikalische Teilhabe älterer und alter Menschen in schwierigen Lebenssituationen. Schwierige Lebenssituationen – klingt das nicht nach Therapie? Nein, in den „Spotlights aus der Praxis“ war von Therapie so gut wie nicht die Rede. Eher von Lebensqualität, sinnerfüllendem Musizieren, von Aufblühen der Person, von Kontakt und Kommunikationsförderung. Die Pandemie hinterlässt natürlich in den „schwierigen Lebenssituationen“ ihre eigenen Spuren: Gerade Kontakt und Kommunikation müssen auf neue, auf andere, auch auf digitale Füße gestellt werden.
Von einem Pilotprojekt in der Einrichtung ELIM Seniorencentrum in Hamburg Eppendorf berichtet Dr. Ellen Meyer. Corona verhindert auch den persönlichen musikgeragogischen Kontakt. Was tun, damit Musik in der großen Einrichtung nicht völlig verstummt? In Zusammenarbeit von Studierenden mit einem Pantomimen entstehen 3 15-minütige Musikfilme, die im Seniorencentrum als musikgeragogisches Angebot mit dem Ziel der musikalischen Aktivierung gezeigt werden. Was sind Vor- und Nachteile eines solchen Projekts? Vorteile sind zweifellos Wiederholbarkeit und Nutzung von Filmen durch mehrere Institutionen. Nachteil: Bloßes Vorspielen eines Films ist auch bloße passive Rezeption und nicht im Sinne der Musikgeragogik. Deshalb muss das Vorspielen des Films, der ja zu verschiedenen Aktivitäten animiert, in jedem Fall von Personen vor Ort und live begleitet werden. Ohnehin anwesende Pflegepersonen etwa werden darin ausgebildet, die Filme als Basis für musikalisches Handeln zu nutzen. Eine neue Methode, ein Fortschritt oder lediglich ein vorübergehender Ersatz für die Live-Situation? Das wird sich zeigen.
Nico Meier, Leiter der Fachstelle Incanto des Domicil Kompetenzzentrums Bethlehemacker in Bern berichtet vom Projekt Personalisierte Musik: Musik-Wiedergabelisten werden für Menschen mit körperlichen und/oder kognitiven Einschränkungen erstellt und in klar strukturierten Settings abgespielt. Wem dies ein wenig alltäglich vorkommt – Vorspielen der Lieblingsmusik über Kopfhörer –, möge sich den Film „Alive Inside“ von Michael Rossato-Bennet ansehen, der käuflich erworben werden kann, wenn er demnächst nicht mehr in der Mediathek von Arte zur Verfügung steht. Der Film sowie die Kenntnis der Organisation Music & Memory (https://musicandmemory.org) ist ein Muss für alle, die die Wirkung von biografisch relevanter Musik bei dementiell erkrankten Personen erleben wollen. Die oben genannte Einrichtung hat sich als erste Institution der Schweiz in der Anwendung des Systems zertifizieren lassen und 2020 die eigene Fachstelle Incanto gegründet, deren Arbeit vom Zentrum für Gerontologie der Universität Zürich evaluiert wurde.
Prof. Steven Bolarinwa, Nachfolger von Hans Hermann Wickel auf der Professur für Musik im Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Münster, brachte in den Fachtag sein kreatives Wissen in Sachen Musik-Apps ein: Von den Kenntnissen der jungen Generation profitiert auch die der „jungen Alten“, im Bereich der Bildung und insbesondere auch in dem des Musikmachens.
Wie gesagt, das Mosaik der Musikgeragogik ist so bunt und vielfältig wie die Menschen mit vielen Lebensjahren. Der Bildungsanspruch, der dem Konzept der Musikgeragogik unterlegt ist, wie es von Hans Hermann Wickel und Theo Hartogh konzipiert wurde, hat einen zentralen Anspruch: Er schärft mit seinem Bildungsanspruch das Bewusstsein für das Vermeiden von Infantilisierung von Menschen mit vielen Lebensjahren, von Menschen in schwierigen Lebenssituationen. Wie möchten wir selbst als Senioren in besonderen Lebenslagen gesehen und behandelt werden? Als Erwachsene mit einer biografisch bedeutsamen musikalischen Biografie.