Die Disziplin der Biomusikologie beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, warum unsere Ur-Ahnen begannen, Musik zu machen, und warum Musizierende in der Folge nicht ausstarben, sondern offensichtlich sogar einen Überlebensvorteil gefunden hatten. Dabei kommt sie zu erstaunlichen Ergebnissen.
Warum haben unsere Vorfahren irgendwann begonnen, Musik zu machen? Und warum beispielsweise Katzen und Hunde nicht, von Fischen und Ameisen ganz zu schweigen? Welchen Vorteil brachte es ihnen in grauer Vorzeit? Wieso starben Barden nicht aus, die sangen oder vor sich hinflöteten, statt sich durch Training für Kampf oder auch Flucht zu stählen? Wieso konnten sie im Gegenteil ihre Gene so weitergeben, dass Musikmachen heute eine Universalie der genetischen Ausstattung des homo sapiens sapiens darstellt? Und warum heißt Menschsein seitdem (auch) „Musik machen können“? Welche Rolle spielten Musik, Rhythmus und Tanz bei der Entstehung des aufrechten Ganges, der Sprache, der menschlichen Kommunikationsfähigkeit und Arbeitsteilung insgesamt? Die Liste der Fragen ließe sich endlos fortsetzen. Sie weisen jedoch weit über die Berufsfelder der Musikausübung und Musikpädagogik hinaus in Disziplinen wie Biologie, Ethnologie und Evolutionspsychologie oder gar Archäologie, Paläontologie, Lingiustik und Ethnomusikologie.
In der gegenwärtigen deutschen Musikwissenschaft fristen sie denn auch eher ein Schattendasein. Die Ursprünge der Musik werden „irgendwo im Sozialen“ vermutet, und da jüngere Forscherinnen und Forscher häufig keine Lust auf die politische Rhetorik der Älteren haben, verstummt die Frage im Wissenschaftsbetrieb schnell. Im angelsächsischen Sprachbereich sind diese evolutionsbiologischen Ansätze hingegen heiß diskutiert. Dass biomusikologische Themen in Deutschland nicht so hoch im Kurs stehen, liegt auch an der historischen Last der Nationalsozialisten. Die hatten mit pseudo-darwinistischer „Musikalischer Rassenkunde“ und Ähnlichem eine Verbindung von Musik und Evolutionsbiologie propagiert und waren gründlich gescheitert. Es lohnt sich aber genau deshalb, die Geschichte der Fragestellung nach dem Ursprung von Musik zu rekonstruieren, die falschen Antworten von den interessanten Fragen zu trennen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Musikwissenschaftler bewegt haben. Debatten, ob Beethoven nun „als Batavus genuinus, als aus der Cro-Magnon-Rassegruppe abstammend oder gar als fälisch-nordisch-ostisch-westische Mischung zu verstehen“ sei, waren leider nicht nur lächerlich, sondern überaus gefährlicher akademischer Unsinn. Und natürlich hatten die Alkoholprobleme von Beethovens Vater einen anderen Ursprung als seine „fälisch-nordischen Seelenmerkmale, wie Eigenwilligkeit und Eigensinn“ (Dieter Hildebrandt: Die Neunte. Schiller, Beethoven und die Geschichte eines musikalischen Welterfolgs. München/Wien 2005, S. 292).Will man aber ernsthafte Antworten auf die Frage, wie nun Musik eigentlich entstanden sei, und gibt man sich nicht mit der schönen, aber eben nicht weiter belegbaren Antwort zufrieden, es müsse sich offensichtlich um ein Geschenk eines oder mehrerer Götter handeln, dann kommt man um die Evolutionsbiologie nicht herum.
Björn Merker, Direktor des Institute for Biomusicology and Acoustic Ethology an der Universität Uppsala, resümiert: „In sum, we believe that it is high time that the Berlin school of comparative musicology be viewed beyond the racialism that was so predominant in all areas of scholarship at the time, and be seen for the truly seminal contribution it has made to musicology and especially to the type of universalist thinking that evolutionary musicology is once again trying to revive.“ (Nils Wallin/Björn Merker/Steven Brown: The origins of music. Cambridge/Mass. 2000, S. 21).
Was aber will evolutionäre Biomusikologie genau erklären, wenn sie versucht, das Phänomen Musik von der Evolution der menschlichen Spezies her zu verstehen? Wo genau liegt der praktische, musikalische Nährwert für uns – jenseits akademischer Luftschlösser, die in Spezialmagazinen und auf Fach-Konferenzen aufgebaut und wieder eingerissen werden und über die man als Praktiker eher den Kopf schütteln möchte? Auch wenn diese junge, aus ihrem Dornröschenschlaf gerade erst wieder erwachte Disziplin noch keine große Theorie aufgestellt hat, so gibt es doch eine Fülle von Einzelbeobachtungen, die für die musikalische Praxis Anregungen geben könnten. Schauen wir uns exemplarisch einen praktischen und zwei eher theoretische musikalische Bereiche genauer an: Das rhythmische Synchronisieren, das Phänomen der Warnrufe und die Symmetrie als biomusikologisch-ästhetisches Grundprinzip.
Rhythmisches Synchronisieren
Die Fähigkeit, synchron rhythmisch zu agieren, ist nicht auf Menschen beschränkt: Wer in einer lauen Sommernacht einmal Grillen oder Fröschen beim Zirpen oder Quaken zugehört hat, hat Folgendes bemerkt und vielleicht zunächst für eine etwas abwegige Idee gehalten: Diesen Chören liegen komplexe rhythmische Muster zu Grunde. Biologen bestätigen dies. Musikerinnen und Musiker interessiert am Synchronisieren aber vor allem zweierlei: Die interne und externe Kommunikation der Gruppenmitglieder. Zum einen geht es beim Synchronisieren um ein intern-gruppendynamisches Anliegen: Herauszufinden, welches Gruppenmitglied im wahrsten Sinne des Wortes den Ton oder Takt angibt und damit die Rolle des Gruppenführers übernimmt. Ein literarisch-musikalisches Denkmal setzten Georg Büchner und Alban Berg diesem evolutionären Erbe, wenn Marie ihren armen Schlucker Wozzeck in der gleichnamigen Oper mit dem Rhythmus vorgebenden Tambourmajor betrügt (und nicht etwa mit den gesellschaftlich zwar höher stehenden, aber eben auch viel deformierteren Figuren des Doktor oder des Hauptmann) und Wozzeck sie zu Bergs gespenstisch stiller Musik für diese Schmach tötet. „Der Mond geht auf wie ein blutig’ Eisen ...“ arpeggiert die Harfe die wie zu Kristall gefrorene Zeit.
Aber auch für die Kommunikation nach außen hat rhythmisches Synchronisieren seinen Sinn: Das rhythmische Klatschen, Stampfen, Rufen und Schnauben signalisiert durch das summierte Volumen Stärke gegenüber den Anderen. Fußballstadien, Militärparaden, aber auch Rockkonzerte bieten noch heute lebhaftes Anschauungsmaterial in dieser Hinsicht. Diese Stärke rhythmisch kooperierender Männchen, die auf eine feste, Sicherheit bietende Struktur hinwies, wirkte offensichtlich auch anziehend auf exogame Weibchen, die sich so zur stärkeren Horde hingezogen fühlten. Je lauter diese singend und klatschend, stampfend und kreischend zu hören waren, desto besser schienen sie zusammenhalten und kooperieren zu können, desto besser und sicherer für anvisierten Nachwuchs. Biomusikologie sieht hier also vor allem die soziobiologische Funktion von Musik.
Warnrufe
Das gilt auch für das biologisch-ethische Phänomen der Warnrufe, bei denen soziale und ästhetische Faktoren ineinander spielen. Warum warnen Tiere (und Menschen) sich gegenseitig? Es bringt sie ja in Gefahr, selbst attackiert zu werden! Wollen sie den Angreifer verwirren oder ihn vor allen entdecken und gemeinsam in die Flucht schlagen? Wollen sie sich vor der Gruppe damit wichtig tun, ihren Status erhöhen, vielleicht selbst in Zukunft gewarnt werden? Warnrufe gehören jedenfalls zu den interessantesten ästhetisch-sozialen Phänomenen für Biomusikologen überhaupt. Sie sollen ja suggerieren: „Hier ist etwas wichtiger als alles Andere“. Unzählig sind effektvolle Opernszenen, in denen der Fluss von Handlung und Musik jäh gestoppt wird, weil eine Warnung hereinplatzt. Spätestens seit Beethoven geht es in der Musik eben nicht mehr primär um friedliche Geselligkeit, Feiern und Kennenlernen, sondern um politische Wirksamkeit und darum, zu mahnen, zu warnen, zu belehren und zu deuten. Denken wir an das Trompetensignal im Fidelio, Kundrys Auftritt im Parsifal, oder auch die vielfältig ironisch gebrochenen Mahn- und Warnrufe in Mahlers Sinfonien.
Symmetrie
Was aber sagt die Biomusikologie zum Beispiel zur Frage nach der Schönheit von Musik? Schöne Körper- und Verhaltensmerkmale zeigen vor allem genetische Fitness an. Dazu zählen beispielsweise das Pfauenrad oder der rote Kehlsack des Fregattvogels und sein sprichwörtliches „Sich aufplustern“. Dieses stellt keinen natürlichen Vorteil in der Selektion dar, eventuell sogar einen Nachteil (schlechtere Flugeigenschaften beziehungsweise bessere Sichtbarkeit für Feinde), trotzdem hat es sich evolutionär durchgesetzt, einzig und allein auf Grund der größeren Attraktivität für das Weibchen. Alle höheren Lebewesen weisen eine symmetrische Anatomie auf, beispielsweise durch zwei Augen. In Schuberts „Winterreise“ stehen in „Die Nebensonnen“ zwar drei Sonnen am Himmel. Nachdem aber die „besten zwei” (nämlich die Augen der Geliebten) untergegangen sind, wünscht der Wanderer, auch das eine „Himmelsauge“ der Sonne möge hinterhergehen und Nacht und Tod ihn umfangen. Ein enigmatischer Text, der aber so Sinn ergibt: „Drei Sonnen sah ich am Himmel stehn, hab fest und lang sie angesehn ... Ja neulich hatt’ ich auch wohl drei; nun sind hinab die besten zwei. Ging nur die dritt’ erst hinterdrein! Im Dunkeln wird mir wohler sein.“
Symmetrie ist Ausweis genetischer Stabilität, je symmetrischer ein Organismus ist, desto besser ist er während seiner Entwicklung mit Krankheitserregern fertig geworden, desto vitaler ist er also. Dass praktisch nie eine vollkommene Symmetrie (beispielsweise zwischen einem linken und rechten Schmetterlingsflügel) erreicht wird, liegt an störenden Einflüssen (genetischer oder umweltlicher Art), die die Entwicklung dieser Merkmale mehr oder weniger beeinträchtigt haben (vgl. Eckart Voland: Grundriss der Soziobiologie. Heidelberg/Berlin 2000, S. 150). Analog wirkt perfekte Symmetrie ja auch in der Kunst künstlich-leblos, drückt spannungslos nichts aus, verweist auf keine Geschichte, ist buchstäblich zu schön, um wahr zu sein. Man kann das in der formalen Anlage musikalischer Werke nachvollziehen. Das Prinzip der Periodenbildung, von Vorder- und Nachsatz, aber auch größere formale Anlagen weisen ja meist symmetrische Bauprinzipien auf. Sind diese symmetrischen Anlagen als quasi geplante hörbar, wirken sie leblos und formal. Ist der Nachvollzug der Form hingegen erst rück- und überblickend möglich, wirkt sie schön. Das völlige Fehlen von Symmetrie hingegen erscheint formlos-hässlich, es wirkt sinnlos und unattraktiv.
Quo vadis, Biomusikologie?
Biomusikologische Forschung steht noch am Anfang. Es ist Vorsicht geboten dort, wo einfache Antworten erwartet werden im Sinne von „Schon im Tierreich …“. Man sollte also von ihr auch keine Rezepte erwarten, wie Musikmachen und Musikunterrichten am besten zu bewerkstelligen seien. Ihr Potenzial liegt vielmehr in einem anderen Bereich. In einer sich nicht mehr nur an der einen Achse „ernst“ und „unterhaltend“ ausrichtenden Musikwelt, in der die verschiedensten sonstigen musikalischen Strömungen etwas hilflos als Weltmusik zusammengefasst werden, kann Biomusikologie viel zum Verständnis der immer bunteren und immer globalisierteren Musiken beitragen, die uns umgeben, fragt sie doch nicht nach den historischen und sozialen Unterschieden, also nach dem Trennenden zwischen den einzelnen Musiken, sondern nach deren gemeinsamer, anthropologischer Wurzel. Da sie nach Universalien in der Musik fragt, ist Biomusikologie soziologisch oder textimmanent-strukturell argumentierender Musikologie zur Seite zu stellen, wo die Methoden der letzteren mehr Fragen aufwerfen als lösen. Denn sie hat einen neuen und faszinierenden Zugang zu der Frage bereitzustellen, die bis heute ihrer Beantwortung harrt: Warum machen Menschen Musik?