Mein erster Orchesterbesuch war einer der peinlichsten Momente meiner Schulzeit. Tausend Menschen passten auf die ausgefahrenen Bänke in der Turnhalle der Bountiful High School und tausend zappelige Jugendliche wurden dort mit Bussen hingebracht, um ein Konzert der Utah Symphony zu erleben. Die Stimme des Dirigenten hallte durch den Raum. Im ernsten Tonfall erzählte er eine deutsche Kindergeschichte über einen scherzhaften Till Eulenspiegel. Danach kamen 25 Minuten schwer erkennbare Musik. Schon nach den ersten Minuten fingen die Kommentare an, die alles von „doof“ bis „langweilig“ abdeckten. Am Schluss kam noch die Musik aus dem Film „Krieg der Sterne“, um den Jugendlichen einen „guten“ letzten Eindruck mitzugeben.
Mein erster Orchesterbesuch war einer der peinlichsten Momente meiner Schulzeit. Tausend Menschen passten auf die ausgefahrenen Bänke in der Turnhalle der Bountiful High School und tausend zappelige Jugendliche wurden dort mit Bussen hingebracht, um ein Konzert der Utah Symphony zu erleben. Die Stimme des Dirigenten hallte durch den Raum. Im ernsten Tonfall erzählte er eine deutsche Kindergeschichte über einen scherzhaften Till Eulenspiegel. Danach kamen 25 Minuten schwer erkennbare Musik. Schon nach den ersten Minuten fingen die Kommentare an, die alles von „doof“ bis „langweilig“ abdeckten. Am Schluss kam noch die Musik aus dem Film „Krieg der Sterne“, um den Jugendlichen einen „guten“ letzten Eindruck mitzugeben.Dieser Versuch, Kindern klassische Musik näher zu bringen, zeigt Fehler, die ich mir für meine eigene Arbeit merken wollte:- Kein persönlicher Zugang: Man hat den Eindruck, es spiele eine Masse Musiker gegen eine Masse Kinder, und beide Seiten verlieren.
- Falscher Ort: Eine Turnhalle oder Schulaula wird immer mit Sport oder Schule verbunden. Die Musik lebt auch von der besonderen Atmosphäre des Konzertsaals. Es ist jede Bemühung wert, den Kindern die Musik in dem passenden Ambiente nahe zu bringen.
- Unzugängliche Thematik: Es wird keine Verbindung zu Bereichen geschaffen, die die Zuhörer direkt betreffen. So bleibt die Musik schwierig und unnahbar.
- Klassik für Doofe: Die Kinder merken, dass der Dirigent oder Moderator zu ihnen herab spricht oder dass Musik gewählt wird, die unpassend ist. Der Dirigent, der Moderator oder das Orchester ist schlecht vorbereitet, denn „es sind ja nur Kinder“ und der Anspruch fehlt.
- Unvorbereitete Pflichtveranstaltungen: Die Lehrerin liefert strenge Ermahnungen für anständiges Benehmen und ruhiges Verhalten beim Konzert. Dadurch fühlen sich die Kinder schon eingeschränkt und wenig motiviert. Der Konzertbesuch wird als Pflicht statt Freude empfunden.
Auch wenn ein positives Vorbild fehlte, hatte ich aber doch durch negative Erlebnisse begriffen, was nicht funktioniert. Die ersten Pläne wurden entworfen und regten Interesse von Schulleitern, Musikern und Veranstaltern. Nur die Möglichkeiten und finanziellen Mittel diese in die Tat umzusetzen fehlten. Wer hätte geahnt, dass meine große Chance in dem Land kommen würde, in dem die meisten glauben, es am wenigsten nötig zu haben: im Land Bachs, Beethovens und Brahms’!
Während eines Empfangs nach einem Soloauftritt mit der Philharmonia Hungarica 1997 wurde ich nach meinen „anderen Interessen“ gefragt. Es folgte ein Gespräch über Musikbildung und die Erziehung eines neuen Konzertpublikums, was mir sehr am Herzen lag. Zu meiner Verwunderung, hörte ich, dass dieses Orchester gefährdet war und dass sogar in Deutschland die Publikumszahlen zurück gingen. Bald hatte ich schon meine ersten Verträge für Familienkonzerte in Nordrhein-Westfalen.
„Begeisterte Kinder sollen Ihre Eltern überzeugen, sie am Wochenende ins Konzert zu bringen, um klassische Musik zu erleben.“ Klingt utopisch? Doch so ist es, und in manchen Städten funktioniert dieses Konzept schon vier Jahre lang. Und wie erreicht man das? Durch interaktive Workshops in Schulen, die für das folgende Familienkonzert begeistern.
Etwa zwei Wochen vor dem geplanten Familienkonzert besuche ich Schulen, um Kinder auf das Konzert aufmerksam zu machen. Die Workshops finden im Klassenzimmer statt mit nicht mehr als 30 Kindern, damit jeder aktiv beteiligt sein kann. Die Kinder freuen sich auf den Besuch und sind aufgeregt und neugierig, da sie etwas anderes erleben dürfen als den normalen Unterricht. Zum Einstieg stelle ich meine Violine, „mein Baby“ vor. („Sie heißt Vuillaume und wurde vor 140 Jahre in Frankreich geboren.“) Dann lauschen die Kinder schon fasziniert auf den Klang des Instrumentes, das ihnen bislang recht fremd ist und viele hier erstmals live hören. Ich stelle die Thematik vor: Etwas, was sie schon kennen, zum Beispiel Autos, und frage sie, was die wohl mit Musik zu tun hätten. Bald entdecken sie, dass ein Auto viele rhythmische Teile hat: die Scheibenwischer, den Motor oder die Blinker. Wir machen diese Rhythmen mit Bewegungen und Orff-Instrumenten nach, zunächst jeder Rhythmus als eigenes Ostinato und dann alle Ostinati gleichzeitig. Es kommt der Tacho in Form einer Basslinie dazu, gespielt auf Klangstäben; und wenn alles im Takt sitzt, steige ich mit der Geige als „Radio“ ein und spiele eine passende Melodie dazu. Kinder und Lehrer sind begeistert von ihrem eigenen Können und freuen sich um so mehr, wenn sie erfahren, dass dieses Stück auch im Konzert gespielt wird und dass Kinder aus dem Publikum die Chance haben auf die Bühne zu kommen und als Scheibenwischer oder Blinker mitzuspielen. Meistens läutet die Schulglocke viel zu früh. „Weiter machen! Wir brauchen keine Pause“, rufen die Kinder. Zur Vertröstung bekommt jedes Kind eine Autogrammkarte in die Hand, auf der hinten die Konzertdaten stehen. „Wir kommen bestimmt!“ sagen sie, als sie mich über den Schulhof zum Auto begleiten.
Ein gutes Kinderkonzert braucht Genauigkeit und Flexibilität. Wichtige Elemente sind: ein interessantes Thema, präzise Planung der Texte und Höraufgaben und Möglichkeiten für die Kinder beim Konzert aktiv mitzumachen. Eine meiner ersten Aufgaben bekam ich von der Stadt Gelsenkirchen, die mir sagte, dass es 20 Jahre lang keine Kinderkonzerte in dieser Stadt gegeben hätte. Nun wollte die Sparkasse ein größeres Projekt fördern und gab mir als Zielgruppe die 5. bis 7. Klassen. Ich sollte die Gymnasien besuchen und daraufhin einen Konzertsaal mit 1.000 Plätzen zweimal füllen! Nach langer Überlegung kam ich auf das, was in Gelsenkirchen nicht zu übersehen ist: Fußball und speziell der Verein Schalke 04. Warum nicht? Ist ein Orchester nicht auch eine Mannschaft mit einem „Trainer“? „Passen“ sie nicht musikalische Themen hin und her, wie etwa in Beethovens Fünfter? Und geht es auf dem Fußballfeld nicht auch um das richtige Tempo? Zusammen mit Spielern und dem Trainer der Schalker Jugendmannschaft und der Neuen Philharmonie Westfalen brachten wir ein Konzert zum Thema „Fußball a Tempo!“ auf die Bühne. Die Fans und Kids waren begeistert. Seither ist „Klassik for Kids“ in Gelsenkirchen zu einem festen Bestandteil der kulturell-musikalischen Jugendbildung geworden.
Auch andere Orchester und Sponsoren haben die Wichtigkeit der Heranführung von Kindern und Jugendlichen an die klassische Musik erkannt und arbeiten mit dem Konzept „Klassik for Kids“, um eine neue Zuhörerschaft für diesen Bereich der Musik aufzubauen. Mit Orchestern wie dem Pittsburgh Symphony Orchestra, dem Gürzenich Orchester – Kölner Philharmoniker, den Bochumer Symphonikern und dem Mainzer Kammerorches-ter sind bereits viele Projekte zustande gekommen. Bei meinen Workshops werde ich oft von den Lehrern gefragt, ob sie meine Ideen verwenden können und ob ich weitere Tipps vermitteln könnte, um die Schüler im Unterricht zu begeistern. Über dieses Interesse freue ich mich immer ganz besonders. Und wenn ich höre, dass es in den weiterbildenden Schulen überall an Fachkräften mangelt und dass in den Grundschulen fast 92 Prozent der Lehrer Musik fachfremd unterrichten oder den Musikunterricht sogar ganz ausfallen lassen müssen, bin ich um so stärker motiviert, etwas für die Lehrer zu unternehmen. Also entwickelte ich im vergangenen Jahr den dritten Teil des „Klassik for Kids“-Konzeptes in Form von Lehrerseminaren.
Etwa drei Monate bevor das geplante Konzert in der jeweiligen Stadt gespielt wird, kommen Lehrer aus der Region zu einem ganztägigen Fortbildungsseminar, bei dem sie Material, CDs und andere Hilfsmittel erhalten, um das Konzertthema vorzubereiten. Zum einen lernen sie sehr praktische Methoden, um Musik auf lebendige Art in ihren Klassen zu vermitteln. Daneben erhalten sie Tipps, wie sie Musik auch fachübergreifend verwenden können, um den Spaß an der Mathematik oder auch im Deutschunterricht zu steigern. „Wir brauchen praktische Mittel“ höre ich immer wieder und wenn sie erschöpft nach Hause gehen, wissen sie, dass sie im Seminar praktisch gearbeitet haben... und sie kommen immer wieder zurück.
Andere Arten von Seminaren werden für Orchestermusiker veranstaltet, deren Musiker die Aufgabe übernehmen sollen, die allgemein bildenden Schulen zu besuchen. Auch diese hoch qualifizierten Musiker lernen viel und freuen sich regelmäßig über die Seminare, da sie Spaß am Gestalten von Workshops haben und darin einen vollkommen eigenständigen Bereich ihrer Arbeit sehen, bei dem sie endlich einmal selbstständig Entscheidungen treffen können.
Über mehrere Jahre hat sich nun das Konzept „Klassik for Kids“ entwickelt und ist mit seinem momentanen Dreisäulen-Modell gereift. Mittlerweile sind mehr als zehn verschiedene Programme für unterschiedliche Besetzungen inklusive dem dazu passenden Seminarmaterial erarbeitet worden; und es kommen jedes Jahr zwei neue Programme hinzu.
Der Bedarf in Schulen und bei den Orchestern ist immer noch vorhanden. Es ist aber auch ein attraktives Paket für Sponsoren, die in Kultur und Kinderausbildung investieren wollen. Entsprechend groß ist das Potenzial dieses Gesamtkonzeptes.
Ich freue mich auf das neue Forum, das die Jeunesses Musicales geschaffen hat, und hoffe dadurch in Kontakt mit Menschen zu kommen, die ebenfalls über langfristige Lösungen der Musikbildung nachdenken und sich dafür engagieren.
Beachten Sie auch unser Dossier „Konzerte für Kinder“ ab S. 49!