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Ein Ort der Musik und der Begegnung. Matthias Rietschel vor dem Übehaus in Essen-Kray. Foto: Christoph Schulte im Walde
Ein Ort der Musik und der Begegnung. Matthias Rietschel vor dem Übehaus in Essen-Kray. Foto: Christoph Schulte im Walde
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Ungestört trompeten, trommeln, klimpern, streichen

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Jedem Kind seinen Probenraum – das „Übehaus“ in Essen-Kray
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Das in Nordrhein-Westfalen geborene Projekt „Jedem Kind ein Instrument“ hat sich inzwischen fest etabliert, viel Erfahrung konnte gesammelt werden – positive, aber auch negative. So bekommt längst nicht jedes der unterrichteten Kinder ausreichend Gelegenheit zum Üben – aus ganz unterschiedlichen Gründen. In Essen-Kray ist deshalb ein Übehaus eröffnet worden.

Jonas spielt Violine, Sarah bläst die Trompete. Beide machen seit einem Jahr mit beim Projekt „Jedem Kind ein Instrument“. Die Violine und die Trompete haben sich die beiden im kunterbunten JeKi-Instrumentenkarussel ausgesucht. Im zweiten JeKi-Jahr geht es ja genau darum, Unterricht auf dem Wunschinstrument zu bekommen. Unterricht ist das eine – Üben das andere! Ohne Üben läuft nichts, das ist eine Binsenweisheit. Üben kann aber auch zu einem echten Problem werden. Diese Beobachtung jedenfalls macht der JeKi-Lehrer Matthias Rietschel schon seit geraumer Zeit. Es ist oft ein räumliches Problem, die Ursachen dafür können ganz unterschiedlich sein. „Weil sich beispielsweise die Nachbarn in einem hellhörigen Haus beschweren über schräge oder laute Trompetentöne“, berichtet Rietschel, der an Schulen im Essener Stadtteil Kray unter anderem als JeKi-Lehrer arbeitet. Oder weil die zu kleine Wohnung der Familie keine geeigneten Übemöglichkeiten bietet, die berufstätigen Eltern nach Feierabend ihre (verdiente) Ruhe haben und sich nicht auch noch eine vermeintlich quietschende Geige anhören wollen. Gründe, die immer wieder dazu führen, dass sich Kinder einfach vom JeKi-Projekt verabschieden. Das ist sehr oft sehr schade – zumal in dem Umfeld, in dem Rietschel arbeitet.

Acht Jahre ist es her, dass der ausgebildete Cellist und Kulturpädagoge nach Essen in die Evangelische Kindertagesstätte Kray kam, um dort eine „Musikwerkstatt“ ins Leben zu rufen. All die vielen Kindergarten-Kinder sind inzwischen älter geworden, Rietschel erlebt sie nun als Grundschülerinnen und Grundschüler, die bei JeKi mitmachen und ihre musikalische Begabung weiter ausleben. Auf mangelnde Übemöglichkeiten zuhause stößt er immer wieder. Deshalb kam ihm die Idee zu einem Übehaus, einem Ort, an dem ungestört trompetet, gestrichen, die Taste gedrückt werden kann. Ohne dass sich jemand darüber aufregt. Dieser Ort war erstaunlich schnell gefunden: das Alte Rathaus Essen-Kray, ein geräumiges Jugendstilgebäude aus dem Jahr 1908, aus der Zeit, da Kray eine eigenständige Gemeinde war und der Steinkohlebergbau eine Menge Geld in die öffentliche Kasse spülte – lang ist’s her. Was blieb, ist der große, prächtige Bau, in dem nach wie vor die kommunale Verwaltung, aber auch Vereine und Sozialeinrichtungen ihre Dienste anbieten. Nun auch das Übehaus.

Mentoren-Modell, professionell koordiniert

Dieses im Mai 2013 angestoßene Projekt ist so simpel wie effektiv. Es setzt zentral auf Ehrenamtliche, Rietschel nennt sie Mentoren. Diese erklären sich bereit, Kinder mit „Übe-Problemen“ aus der Schule oder von zuhause abzuholen und zu den Proberäumen im Alten Rathaus zu begleiten und während des Unterrichts einfach dabei zu sein. Oft sind es nur ein paar Schritte bis zum Übehaus, die aber genau zu planen und in den Schul- und Lebensalltag zu integrieren sind. Absprachen zwischen Mentorinnen beziehungsweise Mentoren und Instrumentallehrkräften sind nötig, die Schulen müssen ebenso exakt informiert sein wie die Eltern. Das alles geht im Grunde nur, wenn dem ehrenamtlichen Engagement der Mentorinnen und Mentoren eine professionelle Koordination zur Seite gestellt wird. Dies bedarf selbstverständlich einer finanziellen Ausstattung. Um die haben sich die Übehaus-Protagonisten bemüht – erfolgreich, wenn auch zeitlich befristet: die Alfried Krupp vonBohlen und Halbach-Stiftung Essen sowie die Antonius-Kinder- und Jugendstiftung greifen dem Projekt unter die Arme.

Dass Kinder immer wieder abspringen vom JeKi-Unterricht, sei durchaus kindtypisch, meint Rietschel: „Weil sie sich umorientieren und einfach etwas anderes machen wollen.“ Oft liegt es aber auch an mangelnder Unterstützung seitens der Eltern. Manche Mütter und Väter sind der Ansicht, dass die Sorge um das Üben auf dem Instrument auf ähnliche Weise von der Schule zu übernehmen sei wie die Erledigung der Hausaufgaben im Ganztagsunterricht. „Und es gibt zuhause noch einen ‚Hauptfeind‘: der dauernd laufende Fernseher, das permanent eingeschaltete Radio. Das verträgt keine dritte ‚Lärm‘-Quelle.“

Mit dem Stadtteil in Verbindung

Übrigens ist das kein Problem von bestimmten gesellschaftlichen Schichten“, berichtet Rietschel. Die Bevölkerung in Essen-Kray ist geprägt von Menschen aus dem Arbeiter-Milieu, der Ausländeranteil ist relativ hoch, vertreten ist aber auch eine Gruppe, die man als gutbürgerlich bezeichnen darf. Eine gute Mischung also. „Ich erlebe sehr oft Kinder aus Familien, in denen gar nicht mehr thematisiert wird, dass man irgendwann später einmal auf eigenen Beinen wird stehen müssen. Das kommt durchaus auch bei den Wohlhabenden vor. Andererseits wohnen hier bei uns viele Familien, die sich ganz toll engagieren und ihre Kinder, statt sie in Watte zu packen, in einer sozialen Gruppe aufwachsen sehen möchten, die Wert darauf legen, dass sie zu unserem Stadtteil eine Verbindung bekommen“, so Rietschels Erfahrung. Noch eine wichtige Beobachtung kann Rietschel formulieren: Kinder sind spontan. Und sie nutzten ihre Zeit im Übehaus, um einfach einmal etwas zu erzählen. Über sich und ihre Lebenswelt, über Dinge, die sehr schnell über das Musikalische hinausgehen. Weil die eigenen Eltern als vertrauenswürdige Ansprechpartner oft kein offenes Ohr mehr haben oder haben können.

Im Herbst 2013 wurde das Übehaus nun offiziell eröffnet. Mit dabei: Abgeordnete aus Bundestag und Landtag, Ratsherren und -frauen aus Essen, Kommunalpolitikerinnen und -politiker aller Fraktionen, Vertreterinnen und Vertreter von Institutionen und Bildungseinrichtungen auf Landesebene. Rietschel: „Wir haben das Gefühl, an einem Modell zu arbeiten, an dessen ersten Ergebnissen großes überregionales Interesse besteht.“ Längst gut angekommen ist das Übehaus bei den Kindern. Wie sagte Jonas, der kleine Trompeter? „Au ja, wir gehen jetzt wieder ins Schloss!“ Dort sind die jungen Schülerinnen und Schüler sehr bei sich selbst, genießen die Ruhe, die großen Räume, die hohen Fenster. „Genau das ist gewollt!“, so Rietschel. Inzwischen sind benachbarte Stadtteile auf das Modellprojekt in Essen-Kray aufmerksam geworden, auch engagierte JeKi-Lehrer aus anderen Städten. Und das nach gerade einmal vier Wochen Arbeit seit offizieller Eröffnung des Übehauses. Die Idee zieht also Kreise.

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