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Methodischer Leitfaden zur Unterrichtsreflexion. Schaubild von Judith Beckedorf, Ida-Lene Bragenitz, Ladislav Pazdera und Georg Wiede
Methodischer Leitfaden zur Unterrichtsreflexion. Schaubild von Judith Beckedorf, Ida-Lene Bragenitz, Ladislav Pazdera und Georg Wiede
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Unterrichtsprozesse verstehen und gestalten

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Ein Ansatz zur Reflexion als offene und zugleich strukturierte Herangehensweise
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Was hat der Gitarrenunterricht der 10-Jährigen Liese mit amerikanischen Sozialwissenschaftlern der 1960er-Jahre zu tun? Wie können Methoden der qualitativen Sozialforschung helfen, eigenes Unterrichten besser zu verstehen? Welche Phänomene können wir neu entdecken, wenn wir detailliert, systematisch und zugleich offen auf unsere instrumentalpädagogische Arbeit blicken und wie kommen wir von einzelnen Beobachtungen zu übergeordneten Zusammenhängen? Diesen Fragen gingen Judith Beckedorf, Ida-Lene Bragenitz, Ladislav Pazdera und Georg Wiede, Studierende im Master Musikpädagogik an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden, nach. Die Ergebnisse ihrer Überlegungen und Versuche reichten sie als Beitrag zum 10. Hochschulwettbewerb Musikpädagogik der Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen ein und gewannen damit den 1. Preis. Welche Ideen sich hinter dem Preisträgerprojekt verbergen, soll im Folgenden dargestellt werden.

Während sich die Instrumental- und Gesangspädagogik (IGP) immer mehr als eigenständige Wissenschaftsdisziplin etabliert und unter anderem im Bereich der Unterrichtsforschung professionalisiert, spielt das wissenschaftliche und insbesondere das empirische Arbeiten in den dazugehörigen, meist sehr praktisch angelegten Studiengängen eine eher untergeordnete Rolle. Ausgehend von dieser Beobachtung stellt sich die Frage, wie man die in der wissenschaftlichen Community diskutierten Forschungsmethoden stärker im Rahmen der Ausbildung vermitteln und für den Berufsalltag fruchtbar machen könnte. Die Beobachtung und Reflexion von Unterricht, zum Beispiel im Rahmen von Lehrpraxisseminaren, aber auch in Formaten interkollegialen Austauschs, scheint hierzu ein geeignetes Feld.

Jedes Unterrichtsgeschehen ist ein hoch komplexer Vorgang und trotz oder gerade wegen dieser Komplexität ergibt sich zunächst häufig Unsicherheit: „Was und wie soll ich denn nun genau beobachten?“ In der Fachliteratur wird vor diesem Hintergrund mitunter empfohlen, einzelne Themen und Fragestellungen für eine gezielte Beobachtung im Voraus festzulegen.1 In dem hier vorgestellten Projekt wurde hingegen eine im ersten Schritt sehr offene Herangehensweise gewählt, entsprechend einem Ansatz aus der qualitativen Sozialforschung, der sogenannten „Grounded Theory“-Methode (GTM): „Am Anfang steht […] ein Untersuchungsbereich – was in diesem Bereich relevant ist, wird sich erst im Forschungsprozess herausstellen.“2 Für die Unterrichtsbeobachtung bedeutet das, dass man keine vorab definierten Themenfelder in den Blick nimmt, sondern diese sich erst im Laufe der Analyse ergeben.

Im hier skizzierten Verfahren wird zunächst ein Videomitschnitt einer Unterrichtsstunde erstellt. Bei der Beobachtung während des Unterrichts oder im Nachhinein anhand des Videos wird ein nicht formalisiertes, chronologisches Protokoll geschrieben (siehe Schaubild g Datenerhebung). Wie detailliert dieses Verlaufsprotokoll wird und welche Schwerpunkte sich ergeben, hängt bis zu einem gewissen Grad von der konkreten Stunde und der beobachtenden Person ab; man sollte jedoch sowohl verbale (durchaus einzelne wörtliche Zitate), als auch nonverbale Aktionen und Interaktionen notieren und dabei auf Wertungen verzichten. Die Unterrichtsmitschrift bildet die Datengrundlage für die weitere Analyse (g Datenauswertung), für welche die GTM eine Reihe von Werkzeugen liefert (g offenes Kodieren).3 Beobachtete und protokollierte Phänomene (Unterrichtsvorgänge) sollen zunächst konzeptuell erfasst (also mit einer treffenden Bezeichnung versehen) sowie anschließend kategorisiert (also gemeinsam mit anderen Beobachtungen in geeigneten Kategorien zusammengefasst) werden, wodurch eine immer höhere Abstraktionsstufe erreicht wird.

Unterrichtsanalyse direkt aus dem Material

Ein Beispiel aus der Arbeit der Studierendengruppe: Wird im Unterricht beobachtet, dass eine Lehrperson immer wieder in das Griffbrett einer Gitarrenschülerin greift, um die Haltung ihrer linken Hand zu verbessern, so ließe sich dieses Phänomen mit „Haltungskorrektur“ benennen (g Konzepte finden) und auf abstrakterer Ebene vielleicht der Kategorie „Interventionen der Lehrperson“ zuordnen (g Kategorien bilden). Unter dieser ließen sich dann weitere Konzepte subsumieren, beispielsweise die „Unterbindung von Ablenkungsversuchen der Schülerin“. So ergeben sich die zentralen Themen der Unterrichtsanalyse direkt aus dem Material.

Nun ist es hilfreich, verschiedene Fragen zu stellen, um die Kategorien analytisch zu durchdringen (g Eigenschaften zuordnen): Wie bestimmt wird eine Intervention vollzogen? Welche Ziele verfolgt sie? Wie offen tritt die Intervention zutage? Spielt sie sich eher auf verbaler oder auf nonverbaler Ebene ab? Die so gefundenen Eigenschaften werden im nächsten Schritt dimensionalisiert. Das heißt, es wird beschrieben, wie Charakteristika einer Kategorie entlang eines Kontinuums variieren.4 Für jede Eigenschaft werden hierzu zwei gegensätzliche Adjektive festgelegt, die eine mögliche Bandbreite darstellen (g Dimensionalisieren). Im genannten Beispiel wären das unter anderem „Bestimmtheit“ (vorsichtig n bestimmt), „Zielrichtung“ (unterbindend n unterstützend) und „Aktionsform“ (verbal n körperlich). Dabei entstehen zu den tatsächlich beobachteten Phänomenen immer auch theoretische Gegenpole, die das Blickfeld für Möglichkeiten öffnen und im besten Fall auch erkennen lassen, was eben gerade nicht zu beobachten ist.

Aus den Kategorien mit ihren Eigenschaften und deren Dimensionen lässt sich die Vorlage für ein stark formalisiertes Protokoll ableiten. Empfehlenswert sind dabei Tabellen mit einem Zahlensystem; der Eigenschaft „Bestimmtheit“ könnte beispielsweise ein mögliches Spektrum von vorsichtig (1) bis bestimmt (5) zugeordnet werden. Das Videomaterial wird nun erneut gesichtet und die einzelnen, den festgelegten Kategorien zuzuordnenden Phänomene werden mithilfe der Vorlage in Bezug auf ihre verschiedenen Eigenschaften charakterisiert. Die Ergebnisse werden anschließend auf Zusammenhänge, Auffälligkeiten, Tendenzen und Widersprüche hin untersucht und durch ein Studium thematisch abgestimmter Fachliteratur in Beziehung zu bestehenden Theorien gebracht.

Entwicklung von Handlungsalternativen

In dem hier beschriebenen Beispiel trat an diesem Punkt ein sehr interessanter Gegensatz zutage: Die Lehrkraft führte überwiegend unterbindende Interventionen aus, die gleichzeitig verbal und körperlich stattfanden, wobei die verbalen Aussagen oft indirekt und vorsichtig formuliert waren, während die körperlichen Aktionen sehr direkt und bestimmt vollzogen wurden. Zu den Hintergründen eines solchen nicht kongruenten Kommunikationsverhaltens sowie zur Entwicklung von Handlungsalternativen wurden anschließend gezielt instrumentalpädagogische Literatur gesichtet5 und Schlussfolgerungen für die eigene Praxis gezogen.

Die Übertragung von einzelnen Elementen einer qualitativen Forschungsmethode auf den Bereich der Beobachtung und Reflexion von Instrumentalunterricht erwies sich als äußerst ergiebig und will als grundsätzliche Anregung für die IGP verstanden werden. Das skizzierte Vorgehen wäre weiter zu erproben und auszuarbeiten und könnte fortgeschrittenen Studierenden im Rahmen der Ausbildung sowie Musikpädagog*innen in professionellen Kontexten – als vollständiges Prozedere oder auch nur ausschnitthaft – neue Impulse für die Unterrichtsdeutung an die Hand geben. Durch die große Offenheit entwickelt sich das volle Potenzial der beschriebenen Methode in multiperspektivischem Arbeiten. Mehrere, verschiedene Blickwinkel beim Protokollieren und in der weiteren Analyse tragen zu einem vielfältigen und detaillierten Ergebnis bei, etwa solche von Vertreter*innen anderer Instrumente oder auch anderer Fachgebiete, zum Beispiel der Sozialpädagogik oder der Psychologie. Ebenfalls anregend und wichtig wäre die Einbeziehung der Schüler*innenperspektive.

Die offene und doch strukturierte Herangehensweise ermöglicht eine besonders passgenaue Unterrichtsanalyse und fördert zugleich die intrinsische Motivation zu weiterführender Literaturarbeit, da sich diese direkt aus der eigenen Praxis ableitet. Dabei durchläuft die Lehrperson einen Lernprozess, bei dem sie immer tiefer in die Materie ihres Unterrichts eintaucht. „Das Verhältnis zwischen Theorien und sozialer Wirklichkeit bedarf ebenso kontinuierlicher Überprüfung wie die formulierten Theorien einer Weiterentwicklung bedürfen“6. Dies gilt auch für die persönlichen impliziten Theorien über unseren Unterricht, die wir alle in uns tragen.


Anmerkungen

1) Vgl. Busch, Barbara (2014): Was soll mir das eigentlich bringen? Anregungen für die Beobachtung (und Bewertung) von Instrumentalunterricht. In: Busch, Barbara (Hg.): Einfach musizieren!? Studientexte zur Instrumentalpädagogik, Augsburg: Wißner-Verlag, S. 100 f.
2) Strauss, Anselm/Corbin, Juliet (1996): Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung, Weinheim: Psychologie Verlags Union, S. 8.
3) Die Analyseverfahren der GTM werden nach drei Typen unterschieden: offenes, axiales und selektives Kodieren. Der hier vorgestellte Ansatz beschränkt sich auf das offene Kodieren. Vgl. u.a. Böhm, Andreas (2017): Theoretisches Codieren, Textanalyse in der Grounded Theory. In: Flick, Uwe/von Kardorff, Ernst/Steinke, Ines (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, S. 477-483
4) Vgl. Strauss/Corbin (1996), S. 50 ff.
5) So etwa Losert, Martin (2015): Die Kunst zu unterrichten. Grundlagen der Instrumental- und Gesangspädagogik, Mainz: Schott Music, S. 173.
6) Strübing 2014; zit. n. Göllner, Michael (2017): Perspektiven von Lehrenden und SchülerInnen auf Bläserklassenunterricht. Eine qualitative Interviewstudie, Münster: Waxmann Verlag, S. 98.

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