„Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“: Unter diesem Titel startete das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Jahr 2013 ein großangelegtes kulturpolitisches Programm. Über einen Zeitraum von zunächst fünf Jahren wurden 230 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um benachteiligten Kindern und Jugendlichen Zugänge zu kultureller Bildung zu eröffnen. Verbände und Initiativen der unterschiedlichsten Kultursparten waren aufgerufen, Konzepte für Projekt-Formate einzureichen; eine unabhängige Jury wählte 34 von ihnen aus, um die Gelder an lokale „Bündnisse für Bildung“ weiterzugeben.
In diesem Jahr ist „Kultur macht stark“ in die zweite Runde gegangen, die erneut für fünf Jahre angelegt ist – mit etlichen bewährten und einigen neuen Programmpartnern, mit einem zusätzlichen Schwerpunkt auf geflüchteten jungen Erwachsenen und mit einer finanziellen Aufstockung auf nun 250 Millionen.
Die Zahlen sind eindrucksvoll: Bis Ende 2017 gründeten sich nach Angaben des Bundesbildungsministeriums mehr als 7.700 Bündnisse, bestehend aus jeweils mindes-tens drei Partnern aus dem kulturellen und sozialen Bereich; mit über 17.000 lokalen Projekten erreichten sie fast 600.000 Kinder und Jugendliche, nahezu flächendeckend im gesamten Bundesgebiet. Blättert man die Liste der Angebote auf, stößt man auf eine faszinierende Vielfalt.
An der Deutschen Oper am Rhein in Duisburg entstand zum Beispiel im Laufe eines halben Jahres ein Hörspiel nach der Kinderoper „Wo die wilden Kerle wohnen“, das den Teilnehmern nebenher hautnahe Einblicke in die Welt der Oper ermöglichte. Kinder und Jugendliche unterschiedlichen Alters aus Hoyerswerda erforschten die wechselvolle Geschichte ihrer Stadt und entwickelten unter dem Motto „Mach Dir ne Platte – Wir bauen eine Stadt“ ein Theaterstück mit Musik, Tanz und Schauspiel. Mit Digitalkameras und Aufnahmegeräten bewaffnet, erkundeten die Leipziger „Klangdetektive“ ihre Umgebung in einer multimedialen Schnitzeljagd. Kinder wurden zu Museumsführern oder Kino-Reportern, drehten Trick- und Dokumentarfilme, stöberten in Bibliotheken, malten, musizierten, übten Tanzdarbietungen oder Zirkusshows ein; das alles in ihrer Freizeit, außerhalb des Schulunterrichts, denn Außerschulischkeit ist eine der Bedingungen, an die die Förderung geknüpft ist.
Das Programm verfolgt eine doppelte Zielsetzung: zum einen Kinder und Jugendliche, die nach dem Nationalen Bildungsbericht als bildungsbenachteiligt gelten, an Kunst und Kultur im weitesten Sinne heranzuführen und damit der sozialen Ungleichheit entgegenzuwirken; zum anderen bürgerschaftliches Engagement zu stärken, indem sich mindestens drei unterschiedliche Partner etwa Vereine, Jugendzentren, Schulen, Kirchengemeinden, Kulturins-titutionen zu einem Bündnis zusammenschließen und durch Erfahrungsaustausch und Vernetzung voneinander profitieren.
Wurden diese Ziele in der ersten Projektphase erreicht? Ja, befand das Beratungs- und Analyse-Unternehmen Prognos AG, das vom BMBF mit der Evaluation des Projekts beauftragt wurde. In der Zwischenbilanz aus dem Jahr 2016 heißt es, dass in über 90 Prozent der Maßnahmen die fokussierte Zielgruppe auch tatsächlich erreicht worden sei; 94 Prozent der Bündnisse hätten Kinder und Jugendliche angesprochen, die sonst nicht an Angeboten der kulturellen Bildung teilnehmen. Und: In drei Viertel der Bündnisse gebe es Verabredungen, unabhängig vom Projekt weiter zusammenzuarbeiten – ein deutlicher Indikator, dass die angestrebte Nachhaltigkeit erreicht wird.
„Ich freue mich am meisten darüber, dass wir wirklich etwas bewegt haben“, sagt die zuständige Abteilungsleiterin im BMBF, Kornelia Haugg. „Die Projekte fördern in besonderem Maße die Persönlichkeitsentwicklung und sozialen Kompetenzen. Kinder und Jugendliche sammeln die Erfahrung, dass sie sich etwas zutrauen können, dass sie etwas bewegen können, dass ihnen zugehört und zugeschaut wird und dass sie ernst genommen werden. Es berührt mich sehr, wenn ich dann sehe, wie diese Kinder und Jugendlichen auf der Bühne über sich hinauswachsen und mir im Anschluss voller Stolz von ihren Erlebnissen berichten. Diese Erfahrung nehmen sie auch in andere Bildungs- und Lebensbereiche mit.“
Ein großer Erfolg sei das Programm, bescheinigt auch Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats, „eines der Highlights der letzten Legislaturperiode, denn jahrzehntelang gab es ein Modellprojekt nach dem anderen, und nun ist es zum ers-ten Mal gelungen, auf Bundesebene ein Programm aufzulegen, das in die Breite wirkt.“
Dass bei einem Versuchsballon dieser Größenordnung nicht alles reibungslos vonstattengeht, dürfte wenig überraschen. In der Anfangsphase erwies sich vor allem die aufwändige Bürokratie als Knüppel zwischen den Beinen der Akteure. Viele Verbände beklagten, dass sie in der Verwaltung zu ersticken drohten. In der ursprünglichen Version umfasste allein die Kurzfassung des Benutzerhandbuchs für die eigens entwickelte Datenbank, die für die gesamte Abwicklung der einzelnen Projekte genutzt werden muss, 78 Seiten. Der Beratungsaufwand, um die im Zuwendungsrecht meist wenig erfahrenen Kulturschaffenden vor Ort durch den Paragraphendschungel der Bundeshaushaltsordnung zu lotsen, erwies sich als enorm. Verbände mussten vielfach feststellen, dass sie die erforderlichen zeitlichen und personellen Ressourcen unterschätzt hatten und die vorgegebene Begrenzung der Verwaltungskosten auf zunächst 10 Prozent der Fördersumme nicht einhalten konnten.
Das Ministerium hat die Rufe vernommen und an vielen Stellen nachgebessert. So wurde die Datenbank überarbeitet, wurden Pauschalen vereinbart, um die Abrechnung zu vereinfachen, und Handreichungen zur Finanzplanung angeboten. Künftig sollen in allen Bundesländern, soweit noch nicht geschehen, Servicestellen eingerichtet werden, die den Akteuren mit Rat und Tat zur Seite stehen.
Vielen reicht das nicht. Auch in der Neuauflage zeige sich wieder die Frage des Verwaltungsaufwandes, konstatierte Gerd Taube, Vorsitzender der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) kürzlich in einem Interview der Zeitung „Politik & Kultur“. „Gleichzeitig gibt es Beschränkungen, welche die Förderfähigkeit von Ausgaben betreffen, sodass kleinere Verbände durchaus in Schwierigkeiten kommen können. Aber auch ein großer Verband wie die BKJ musste personelle Kapazitäten zur Verfügung stellen, die eben nicht von den Projektmitteln gedeckt oder aus den Projekt-ressourcen finanziert wurden.“
Die BKJ, mit einer zu vergebenden Fördersumme von mehr als 20 Millionen Euro einer der größten Programmpartner und als Dachverband engagiert in der Unterstützung anderer Beteilig-ter, kann den Aufwand bewältigen. Zwei andere Verbände haben nicht zuletzt deswegen die Reißleine gezogen: Der Bundesverband Museumspädagogik und der Bund Deutscher Amateurtheater (BDAT) waren für die zweite Förderphase erneut ausgewählt worden, haben sich aber aus dem Programm zurückgezogen. Man habe sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht, versichert Irene Ostertag, Geschäftsführerin des BDAT. Das Konzept „THEATER FÜR ALLE!“ habe sich schließlich bewährt, viele „tolle Projekte“ seien entstanden. „Allerdings waren die Auflagen, die das Ministerium für die zweite Runde setzte, sowohl inhaltlich als auch administrativ-finanziell nicht zu stemmen.“ Was sie besonders umtreibt: „Die Arbeitsrealität der Ehrenamtler, auf deren Engagement die Förderrichtlinie baut, wird nicht berücksichtigt, sie schreiben einen Antrag ja nach Feierabend, und man legt denen, die man eigentlich fördern will, Steine in den Weg. Da müssen wir als zivilgesellschaftliche Verbände einfach den Finger in die Wunde legen.“ Ein anderer Stein des Anstoßes: Das Ministerium beharre auf Mindestzahlen, „aber wir wollten Projekte mit Blick auf den ländlichen Raum auch mit nur sechs oder acht Teilnehmenden ermöglichen, das war dann zu klein.“ Dabei herrscht fern der Großstädte oft ein besonderer Bedarf, ist doch das Angebot dort naturgemäß dünn – und laut Förderrichtlinie soll allen Kindern und Jugendlichen, die zur Zielgruppe gehören, die Teilnahme am Programm ermöglicht werden, explizit auch denjenigen mit einem Wohnsitz im ländlichen Raum.
Die Kritikpunkte sollten indes keinen Schatten auf das Gesamtpaket werfen: Das bislang größte bundesweite Bildungsprojekt hat nicht nur einen willkommenen Geldsegen gebracht und zahlreiche bis dato kaum vorstellbare Angebote der kulturellen Bildung ermöglicht, sondern auch Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt, Netzwerke geschaffen, neue Erfahrungen auch auf Seiten der kulturpädagogischen Akteure eröffnet, vielfältige Lernprozesse in Gang gesetzt. „Erst durch ‚Kultur macht stark‘ und das allmähliche Kennenlernen anderer Wege haben wir beschlossen, uns ganz stark am Sozialraum zu orientieren“, berichtete etwa Lorenz Overbeck, Geschäftsführer der Bundesvereinigung Deutscher Orches-terverbände, in einem Interview, das die BKJ veröffentlicht hat. „Das heißt, wir gehen auf eine ganz neue Zielgruppe aktiv zu und machen uns aktiv Gedanken zu dieser. Da sind sehr viele originelle Ideen entstanden, die wir natürlich auch kommuniziert haben.“
Derzeit, so der Eindruck, ist vieles in Bewegung. Man bemüht sich in der zweiten Phase des Programms verstärkt, Erfahrungen zu bündeln, Fachlichkeit zu sichern und Wissen weiterzugeben. So entwickelt die Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW qualitätssichernde Maßnahmen und stellt online aufwändiges didaktisches Material zur Verfügung; die Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel soll in einem Modellprojekt zusammen mit ausgewählten Kommunen erproben, wie Bündnisse nachhaltig arbeiten können, wissenschaftlich begleitet von der Freien Universität Berlin. Das Ergebnis soll in einen Leitfaden für die künftige Arbeit gegossen werden. Geplant ist ein Beirat, der auch die Länder und Kommunen einbinden soll. Und neue Programmpartner bringen frischen Wind mit, wie die ambitionierte Berliner Ini-tiative „app2music“, die Kindern über das vertraute Smartphone Wege zur Musik öffnet.
Die Vielfalt an Möglichkeiten, die unter dem Dach von „Kultur macht stark“ erwachsen ist, lässt bereits jetzt an die Zukunft denken. Das tut auch Olaf Zimmermann vom Deutschen Kulturrat, denn, so seine Vision: „,Think big‘ ist es, was wir im Kulturbereich endlich machen müssen. Wir müssen wegkommen von diesem Klein-klein. In diesem Sinne ist ‚Kultur macht stark‘ ein Pilot, dem noch andere Modelle dieser Größenordnung folgen sollten.“ An Ideen, von der Initiative Kulturelle Integration bis zum Bundesprogramm LandKULTUR, mangelt es nicht. Und der Koalitionsvertrag, der sich auf zehn Seiten dazu bekennt, die Kultur „in ihrer föderalen Vielfalt fördern“ zu wollen, gibt Anlass zur Hoffnung.