Muss ich Musik verstehen, um sie richtig zu hören? Wird das Musikerleben intensiver, je mehr ich über ein Stück und darüber weiß, wie es gemacht ist? Sicher doch, mag der Musikwissenschaftler antworten, der seine Daseinsberechtigung im Verfertigen inhaltsschwerer Programmessays sucht. Ach was, sagt die Besucherin und lässt die letzten Minuten vor dem Konzert lieber bei einem angeregten Plausch mit ihrem Begleiter verstreichen. Teils, teils, wägt der Konzertpädagoge ab, verweist auf den komplexen Zusammenhang von Wissen und Verstehen, auf die meist scheiternden Versuche, aus Konzerten vertonte Schulstunden zu machen und sucht mit seiner Arbeit Anknüpfungspunkte in der Erlebniswelt des jeweils anzusprechenden Publikums.
Doch dann kommt der Moment, der die drei in der Faszination eint: im Auftritt einer Geigerin etwa, deren erster Soloeinsatz jeden Gedanken an die formalen Besonderheiten einer Konzertsatzexposition, an den anstrengenden Arbeitstag oder die misslungene Einführungsmoderation fortreißt. Ihre Präsenz überstrahlt hier alle anderen Zugangsmöglichkeiten oder -hemmnisse, eine Erfahrung, die jeder schon einmal gemacht hat, ohne sich Rechenschaft darüber abgelegt zu haben.
Wenn der eingangs erwähnte Konzertpädagoge jedoch Ernst Klaus Schneider heißt, so versucht er diesem für eine gelungene Wahrnehmung von Musik offenbar grundlegenden Phänomen nachzuspüren und lädt Kolleginnen, Schüler und Freunde ein, dieses in einem Symposium zu diskutieren. „Was lässt uns Zeit vergessen. Präsenzerfahrungen – Chancen der Musikvermittlung in Konzerten“ war die Tagung an der Detmolder Musikhochschule betitelt und hatte mit dem „Rhythm is it!“-Choreografen Royston Maldoon einen veritablen Heros der Szene zu bieten. Der versteht sich freilich nicht als Kunstvermittler oder gar Pädagoge, sondern sucht mit seinem Konzept des „Community Dance“ die künstlerische Herausforderung in der Arbeit mit Laientänzern, aus der er eine besondere Inspiration zieht. Gemessen an diesem künstlerischen Anspruch wirkte sein mitgebrachtes Video eines Gefängnisprojekts freilich etwas dürftig. Und die abendliche Vorführung des in Detmold unter der Anleitung von Maldoon-Mitarbeitern in den Monaten zuvor entstandenen Tanzstücks „Across a clear blue sky“ litt beeindruckender Einzelleistungen zum Trotz unter der ebenso gefühlig triefenden wie im Grunde ausdruckslosen Musik Christopher Bensteads. Was man im morgendlichen Workshop von Maldoon allerdings auf beeindruckende Weise lernen konnte, war die Sensibilisierung für den körperlichen Aspekt von Präsenz, eine wohl grundlegende Erfahrung für jeden Musikausübenden.
Einen weiteren Schwerpunkt bildete die Frage nach Möglichkeiten, mit visuellen Mitteln Präsenzsteigerung zu erreichen. Hier stand allerdings weniger die klassische Konzertveranstaltung im Mittelpunkt (Harald Gräßer verfehlte mit seinem Referat das, was Teilnehmer sich unter dem Titel „Licht als Gestaltungsmittel von Atmosphäre“ wohl erwartet haben dürften) als vielmehr das weite Themenfeld „Bilder zur Musik“. Der Reiz des von Sascha Kruse vorgestellten Verfahrens, mit farbigem Licht und langzeitbelichteten Fotos Hörlandschaften zu schaffen, liegt zum einen in den schönen, durch die eingesetzte Technik allerdings auch zur Wiederholung neigenden Bildergebnissen selbst, vor allem aber im Entstehungsprozess. Er setzt ein intensives Hören, etwa bei Schülern, und die Fähigkeit voraus, dieses in gestischen und zeitlichen Abläufen kreativ nachzuvollziehen. Oliver Kraemer wiederum zeigte Möglichkeiten, im Malen oder Zeichnen zur Musik als „handlungsbegleitetem Musikhören“ eigene Bilderwelten zu aktivieren, eine Methode, die in einem zweiten Schritt, dem Internalisieren der äußeren Aktivität, zu einem intensiveren Musikerleben führen könnte.
Matthias Rebstock, dessen Vortrag beim Wolfenbütteler Symposium „Zukunftskonzert“ Schneider zur Wahl des Detmolder Themas inspiriert hatte, rekapitulierte die Thesen Hans Ulrich Gumbrechts („Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz“, Frankfurt 2004) und gab zu Bedenken, dass die von ihm geforderte Stärkung der „Präsenzkultur“ (im Gegensatz zur „Sinnkultur“) die Gefahr bergen könne, zur „Eventkultur“ zu verkommen. Mit Beispielen aus der Neuen Musik, die dann auch praktisch erprobt wurden (Schnebel, Kagel, Cage und andere), machte er deutlich, wo den Werken selbst und deren Aufführungsanweisungen die erwünschten Präsenzbedingungen bereits eingeschrieben sind.
Diese Beispiele bestätigten auch die Beobachtung Christoph Richters, der in seinem Eröffnungsvortrag Gumbrechts Behauptung, Präsenz erscheine aus dem „Nichts“, relativierte: „Präsenzerfahrungen kommen nicht von ungefähr, sondern erheben sich … auf vorbereitendem Grund.“ Und Ernst Klaus Schneider selbst ermunterte dazu, „durch die besondere Beachtung der ‚Produktion von Präsenz’ im Konzert … die Wahrnehmungsweisen und Hörhaltungen, die wir anbieten, bewusster (zu) reflektieren.“
Die gegenseitige Durchdringung von praktischem, von tiefer künstlerischer Überzeugung getragenem Tun und dessen ständiger Reflexion ist ein Markenzeichen von Schneiders Arbeit. Von ihr war auch der Studiengang Musikvermittlung/Konzertpädagogik durchdrungen, den er – wie das Arbeitsfeld als Ganzes – miterfunden und jahrelang geleitet und geprägt hat. Die Ergebnisse sind allerorten zu spüren, wo seine ehemaligen Studierenden tätig sind. Seine Nachfolgerin, Prof. Dr. Janina Schaefer, die Elemente des Musikmanagements in den Studiengang einbringen wird, tritt hier ein reiches Erbe an.
Das Ernst Klaus Schneider gewidmete Abschlusskonzert hätte mit Rücksicht auf den vor Elan und Ideen strotzenden Pensionär etwas weniger lebensherbstlich (Rilke!) ausfallen dürfen, es wird Schneider aber nicht davon abhalten, sich weiterhin kreativ und intelligent in die Fachdiskussionen einzubringen und eigene Konzepte weiterzuentwickeln, mit anderen Worten: präsent zu bleiben. Wir wünschen es ihm und uns.