„Sprechen Sie einfach Deutsch!“ Mit dieser Aussage überraschten uns viele brasilianische Kolleginnen und Kollegen, die natürlich in sehr großer Zahl zu dem erstmalig in Südamerika stattfindenden Weltkongress der International Society of Music Education (ISME) gekommen waren. Über 1.300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus über 70 Ländern trafen sich vom 20. bis zum 25. Juli im Süden Brasiliens, in der wohl europäischsten Großstadt des riesigen Landes, in Porto Alegre. Viele Deutsche und auch andere Europäer wanderten gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus wirtschaftlichen Gründen nach Brasilien aus und siedelten sich vor allem im Süden an. Heute ist dies noch deutlich sichtbar und auch spürbar.
Diversity of Music, die Vielfalt der Musik, war der übergeordnete Wegweiser für die fast 1.000 Vorträge, Symposien, Diskussionsrunden und praktischen Übungen, die dem Kongress sein Gesicht gaben. Dazu kamen über 70 Konzerte mit Musikerinnen und Musikern aus vielen südamerikanischen Ländern: Samba, Bossa Nova, Tango, und das meistens auf einem wunderbar hohen Niveau.
ISME arbeitet als international agierende Organisation in sieben Fachgruppen, die weltweit neue Entwicklungen sammeln, aufbereiten und den über 2.100 Mitgliedern in über achtzig Ländern der Erde zur Verfügung stellen.ISME-Mitglieder teilen gemeinsame Interessen in speziellen Bereichen der Musikerziehung. Jede Kommission veranstaltet alle zwei Jahre ein mehrtägiges Seminar, das in der Regel kurz vor der ISME-Weltkonferenz stattfindet.
Die verschiedenen Fachgruppen hatten für die fünf Kongresstage Vorträge, Symposien und Seminare aus folgenden Themenbereichen ausgesucht: Music in schools and teacher education, Community Music Activities, Research commission, Early childhood music education, Education of the professional musician, Music in special education, music therapy and music medicine, ISME Forum for instrumental and vocal teaching, Practice and research in integrated music education, Music technology, Assessment in music education, Jazz education, Spirituality and music education sowie El Sistema.
Die Universität des Bundesstaates Rio Grande do Sul und die Päpstliche katholische Universität Porto Alegre waren als Austragungsorte bestens vorbereitet und überzeugten alle Teilnehmenden durch eine wahrlich perfekte Organisation und vor allem Hilfsbereitschaft bei kleinsten Problemen. Die Herzlichkeit und die große Offenheit der über 100 hosts und volunteers und anderer Menschen in Porto Alegre gaben den Veranstaltungen noch einen ganz besonderen Extraklang.
Selbstbewusstes Musikland
Vor allem auch wir Gäste von der Nordhalbkugel waren sehr willkommen und sollten hören, wie die „musische Stimmung“ in Südamerika ist. Es gibt hier ein gutes Selbstbewusstsein, und es gab die Vorstellung einiger sehr interessanter Projekte zu erleben, die alle aus einer langfristigen Perspektive heraus entstanden sind. Alle waren aber auch sehr interessiert zu hören, wie unsere Projekte gedacht sind und dann letztendlich funktionieren. Südamerika versteckt sich nicht hinter Europa, sondern will sich auf Augenhöhe austauschen. Eine große und reiche Musiktradition haben beide Erdteile. Deutschland mit seinen Institutionen und seiner Geschichte im Bereich der Musik ist sehr geachtet, aber die Veränderungen und der sinkende Stellenwert qualitativ guter Musik in Deutschland werden weltweit aufmerksam beobachtet. Gerade das bereicherte die Gespräche miteinander. Die Fußball-WM in Brasilien ist vorbei – sie war überhaupt kein Thema – ,mir ist aber klar geworden, warum die Menschen in letzter Zeit in so großer Zahl auf die Straße gegangen sind. Es ist sehr deutlich geworden, dass die Lehre und Vermittlung von Musik und das Leben mit Musik in Brasilien als absolut essentiell angesehen werden. Mit nach unseren Maßstäben wenigen Mitteln lässt sich unglaublich viel erreichen, wenn jeweils die community mit einbezogen wird. Die Berücksichtigung der Situation der Familien als Ganzes wurde immer wieder betont. Auffallend war die Vielzahl an Veranstaltungen, in denen die notwendige Zusammenarbeit der Musikpädagogik und der Sozialpädagogik – vor allem als Vorbereitung und gleichzeitig Begleitung von Projekten – thematisiert wurde. Nirgendwo in den Projekten ging es um angebliche Sicherheiten der Mitarbeiter durch Festanstellungen, um Tarifverträge und oft hinderliche Verwaltungsvorschriften, welche sich gerade in Deutschland zu oft als Hinderungsgrund für ein gerade gelingendes Projekt herausstellen.
In der Arbeitsgruppe El Sistema, welche das Musikprojekt aus Venezuela als Ausgangspunkt hat, wurden auch El- Sistema-Projekte aus den USA, Ozeanien und Afrika vorgestellt. Immer wieder kam die Frage auf, inwieweit eine Übertragbarkeit überhaupt realisierbar ist. Diese Entwicklung lohnt es sich auf jeden Fall weiter zu beobachten, denn hier ist erst einmal die Integration des jeweiligen Umfeldes ein essentieller Aspekt der dann später beginnenden musikpädagogischen Arbeit. Die Kolleginnen und Kollegen äußern, dass die Berücksichtigung sozialpädagogischer Aspekte in ihrer Arbeit einen ständig höheren Stellenwert erfährt und gerade dadurch überhaupt erst eine langfristige Finanzierung ermöglicht wird. In einem groß angelegten brasilianischen Musikschulprojekt etwa, welches mit seinen 13.000 Schülern maßgeblich durch den Staat Sao Paulo finanziert wird, sind fast ein Drittel der Mitarbeiter social worker. Interessant ist hierbei auch, dass die Kinder in den ersten zwei Jahren drei- bis viermal in der Woche Unterricht haben, da sie die zur Verfügung gestellten Instrumente ja nicht mit nach Hause nehmen können.
Deutsche Beteiligung
Eckart Altenmüller aus Hannover sprach als einer der Keynote speaker über das Thema Musikergesundheit und Wohlbefinden. Anhand von kurzen Filmausschnitten besprach er einige Fälle aus seiner Praxis, in denen die Fehlhaltungen der musikausübenden Schmerzpatienten offensichtlich waren. Er ließ das große Auditorium an der Anamnese mitarbeiten und verstand es wundervoll, einen immer noch sehr versteckten Problembereich der musikpädagogischen Weltöffentlichkeit zu präsentieren. Meistens ist es doch das falsch organisierte Üben und der daraus resultierende Druck, der junge Musikerinnen und Musiker zu Patienten werden lässt.
Vom 24. bis 29. Juli 2016 lädt die ISME zur 32. Weltkonferenz nach Glasgow ein, im Juli 2018 wird Istanbul der Kongressstandort sein. Es ist sehr erstaunlich, dass nur sieben Menschen aus Deutschland an diesem alle zwei Jahre stattfindenden Weltkongress der ISME teilnahmen. Ich selbst war eingeladen, über das Projekt „Das Übehaus Kray in Essen“ zu berichten, in dem Kinder am Nachmittag zu festgelegten Zeiten ihr Instrument üben beziehungsweise mit anderen Musik machen können. Das Interesse an diesem Projekt war überraschend groß, und es erstaunte viele, dass manche Kinder in Deutschland zu Hause keine Musik machen dürfen, weil es stört ... Für meine musikpädagogische Arbeit im Ruhrgebiet, wo ich täglich mit jungen Menschen aus vielen Nationen zu tun habe, bekam ich sehr viele ganz konkrete Anregungen und Erkenntnisse. In meinem Kalender sind die Termine für die folgenden Kongresse notiert, und ich werde auch zwischendurch als ISME-Mitglied mit aktuellen Informationen versorgt und in den aktiven Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus vielen Ländern einbezogen. ISME lohnt sich