„Wir bewundern alte Kunst, wir bewundern die Sixtinische Kapelle, aber wir wollen nicht in Sixtinischen Kapellen leben“, schreibt Moritz Eggert in seinem Text „Vorbereitung der Atopie“. Und weiter: „Nur wenige von uns umgeben sich allein mit flämischen Gemälden des 17. Jahrhunderts, auch wenn diese sehr schön sind. Wenn wir also von Kunst sprechen, sprechen wir sowohl von Michelangelo als auch von Andy Warhol, und das ist gut und richtig so. Aber die klassische Musik ist keine Kunst mehr. Klassische Musik ist aus einem einfachen Grund nicht mehr lebendig. Sie ist nicht mehr Teil unserer klingenden Gegenwart. Sie könnte es sein, aber das wissen die meisten Konzertveranstalter nicht mehr und setzen lieber dieselben drei Stücke aufs Programm, bis in alle Ewigkeit.“ (www.blogs.nmz.de/badblog/2014/)
Nun ist Moritz Eggert kein „Untergeher“ im Bernhardschen Sinne, sondern ein erfolgreicher Konzertpianist und Komponist. Ein Kenner des Musikgeschäftes, der aus Erfahrung spricht. Liest man sein apodiktisches Urteil, so möchte man ihn dennoch auf der Stelle einladen, einmal den Markt der Möglichkeiten beim Junge Ohren-Preis zu besuchen. Er würde wieder Hoffnung schöpfen. Der Markt der Möglichkeiten öffnet einmal jährlich bei der Junge Ohren-Preisverleihung seine Pforten und ist eine Leis-tungsschau der Musikvermittler aus Konzert- und Opernhäusern sowie der so genannten Freien Szene. Der Wettbewerb, der 2014 zum neunten Mal ausgeschrieben wurde, sucht nach „herausragend umgesetzten Vermittlungsprojekten und frischen Ideen für ein lebendiges Musikleben“, so der Originalton des Veranstalters, das Netzwerk Junge Ohren.
108 Musikprojekte und Produktionen für junge Menschen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum hatten sich für den Wettbewerb beworben, zwölf Finalisten erhielten die Chance, sich in den Räumen der Stuttgarter Opernschule wie auf einer Messe zu präsentieren. An den einzelnen Ständen traf man auf Interpreten, Komponisten, Musikpädagogen, kurz gesagt, auf Musikvermittler jeder Couleur, mit denen man sich ins vermittlerische Fachgespräch und in künstlerischen Austausch begeben konnte.
Die Bandbreite der Teilnehmer ist in den letzten Jahren immer breiter geworden und reichte 2014 vom Streichquartett über Grund- und andere Schulen, übers Hamburgische Ensemble Resonanz oder ein österreichisches Kindermuseum bis hin zu großen Einrichtungen wie dem Rundfunk Sinfonieorchester Berlin oder dem Lucerne Festival. Und Musik der Gegenwart ist längst aus der Rolle eines Vermittlungssonderfalls herausgewachsen.
Der Wettbewerb ist derzeit in drei Kategorien ausgeschrieben, jede mit 5.000 Euro dotiert. In der Kategorie „Best Practice, Konzert“ wurde das Lucerne Festival für „HEROÏCA“ ausgezeichnet. In der Begründung der Jury hieß es dazu: „Die Produktion verbindet musikalische Miniaturen zu einer nonverbalen und multisensualen Revue. Die intensive wochenlange Arbeit mit jungen Musikerinnen und Musikern an deren Lieblingskompositionen zeitigt Ergebnisse von mitreißender und berührender Dichte.“
Die Kategorie „Best Practice, Partizipatives Konzert“ entschied das Klavier-Festival Ruhr mit „Ein Jahr mit György Ligeti“ für sich. In einem inklusiven Ansatz setzten sich 165 Grundschüler/-innen, Förderschüler/-innen und Gymnasiasten in Duisburg-Marxloh schöpferisch mit der Musik des Komponisten auseinander und entdeckten im künstlerischen Prozess gleichberechtigte Formen der Zusammenarbeit. Dazu die Jury: „Eine Werbeaktion für Gegenwartsmusik schlechthin!“
Mit der Idee zu dem partizipativen Musiktheater „Die beste Beerdigung der Welt“ überzeugten Regisseurin Verena Ries und das „Quartett PLUS 1“ in der neuen Konzeptkategorie „LabOhr“. Geplant ist eine kollektive Komposition im Raum zu Fragen nach dem Ende des Lebens. Musikalische und performative Elemente verschmelzen in der Interaktion mit dem Publikum zu einem poetischen „Ritualhybrid“. „Ein faszinierend mutiges Vorhaben“, urteilte die Jury, „das in seiner offenen und interaktiven Anlage in jeder Aufführung neue Ergebnisse und Hörhaltungen hervorbringt.“
War der Markt der Möglichkeiten eine höchst interessante Angelegenheit gewesen, so konnte die feierliche Siegerverkündung trotz einem Wirbelwind von Moderator wie Malte Arkona die Patina derartiger Veranstaltungen nicht ganz abstreifen. Die Laudatoren Prof. Dr. Hendrikje Mautner-Obst von der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart, die Gastgeberin und Hauptkooperationspartnerin war, Gerald Mertens (Deutsche Orchestervereinigung) und Prof. Andrea Tober (Berliner Philharmoniker) würdigten die Preisträger sachkundig. Nachdem man einen ganzen Nachmittag Zeit hatte, auf der Projektbörse musikvermittlerisch zu stöbern, hätte man gerne genauer gewusst, warum die Jury sich letztlich für diesen Nominierten und nicht für jenen entschieden hatte.
Positive Akzente setzte die Schola Heidelberg, die mit Kanons und Sprechkanons junger Komponisten für erfrischende Zwischenmusiken bei der Preisverleihung sorgte. Das Vokalensemble hatte in Zusammenarbeit mit dem „Busprojekt“ des Netzwerks Neue Musik Baden-Württemberg e.V. bei vier Studenten des Freiburger Komponisten Cornelius Schwehr neue Kanons unter dem Titel „Looping BW – Neuer badischer und württembergischer Kanon“ in Auftrag gegeben und trug Ausschnitte daraus vor, darunter den Sprechkanon „Der Zweifler“ (Bertolt Brecht) von Carlo Philipp Thomsen und das „Vergissmeinnicht“ von Clemens K. Thomas aus „Sieben botanische Kanons, ein Herbarium“.
Mit einem inszenierten Konzertprogramm hatte das Klarinettentrio der Stuttgarter Musikschule offensichtlich künstlerisches Neuland betreten, seine Sache aber überzeugend gemacht: Man glaubte förmlich, mitzuerleben, wie den drei jungen Solisten durch ihr inszeniertes Spiel Türen für ihren weiteren Weg aufgestoßen worden sind.
Innovation, komprimiert
Wer sich im deutschsprachigen Raum professionell mit dem Thema Musikvermittlung beschäftigt, war anwesend oder kam wenigstens tags darauf zu „Taktwechsel – Innovation im Musikbetrieb“, einer gemeinsamen Tagung der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stutt-
gart und des Netzwerks Junge Ohren. 160 Tagungsgäste aus dem gesamten Bundesgebiet, der Schweiz, Österreich und Luxemburg waren vor Ort, um sich über aktuelle Veränderungs- und Neuerungsprozesse im Musikbetrieb auszutauschen.
Sowohl Panels als auch Workshops waren hochkarätig besetzt und es gab genug Chancen, mit Machern und Kollegen ins Gespräch zu kommen. Ob die Tagung ihrem Titel gerecht wurde, musste nach einem mit Workshops und Panels mehr als ausgefüllten Tag offen bleiben: zu kursorisch und knapp wurden zentrale Themenfelder abgehandelt. Workshops von zwei Stunden Dauer können bestenfalls Anregungen geben, nicht wirklich weiterbilden. Mehr Zeit und damit mehr Tiefe, dann könnte diese für Musikvermittler so einzigartige Tagung noch stärker wirksam werden.
Mehr zur Tagung „Taktwechsel – Innovation im Musikbetrieb“ im Artikel von Philipp Krechlak auf www.nmz.de