Aus der Idee heraus, durch Bewegung Musik zu erfahren und zu erlernen, hat sich die Rhythmik in vielen Jahren zu einer eigenen Form der Musik- und Bewegungserziehung entwickelt. Sie ist Unterrichtsfach in der Ausbildung von Lehrern, Musiklehrern, Erziehern und Musikern geworden und wird in Musikschulen und allgemeinpädagogischen Einrichtungen mit Kindern praktiziert. In den vergangenen zehn Jahren wurde sie jedoch immer weiter an den Rand gedrängt. So zum Beispiel in der Erzieherausbildung in Bayern.
Die Erzieherausbildung an den bayerischen Fachakademien für Sozialpädagogik hat vor wenigen Jahren einen neuen Lehrplan erhalten, der das lernfeldorientierte Lernen in den Mittelpunkt setzt. Wie jede Lehrplanreform hat auch diese Stundenverschiebungen für die einzelnen Fachbereiche zur Folge gehabt. Und so ist ganz besonders die Rhythmik aufs Korn genommen worden. Zuvor mit einer Stunde im Lehrplan vertreten, war es nun nicht mehr möglich, sie zu kürzen. Stattdessen wurden Fächerkanons (Kunst/Werken; Pädagogik/Psychologie etc.) eingerichtet, und die Rhythmik ist ein Teil der Musik- und Bewegungserziehung geworden. Eine Fußnote im Lehrplan, die leicht überlesen werden kann, erklärt nun die Stundenverteilung zwischen Sporterziehung, Musikerziehung und Rhythmik.
Die Auswirkungen für das Fach Rhythmik sind wenige Jahre nach der Einführung des Lehrplans bereits deutlich zu spüren: In einigen Fachakademien wird Bewegungserziehung unterrichtet, ohne dass die Studierenden je mit dem Begriff „Rhythmik“ konfrontiert werden. In anderen Fachakademien wird fachfremd, beispielsweise durch Musiklehrer unterrichtet; eine Ausbildung oder Zusatzqualifikation wird nicht verlangt. Die Konsequenzen liegen auf der Hand: Das in den Praxisstellen wie Kindergarten, Hort, Kinderkrippe oder Jugendarbeit bereits immer weniger gepflegte Fach Rhythmik wird in den nächsten Jahren ganz in Vergessenheit geraten. Zugunsten einer allgemeinen Bewegungserziehung beziehungsweise der Psychomotorik wird sie in der Musik- und Bewegungserziehung und musikalisch-rhythmischen Erziehung aufgehen.
Was ist dagegen zu sagen? Braucht es wirklich noch „die“ Rhythmik, ist sie nicht ein Auslaufmodell, dessen Botschaft veraltet ist? An den Musikhochschulen in Deutschland als Studienfach rückläufig, werden immer weniger Rhythmikerinnen und Rhythmiker ausgebildet – na und? Ist die Rhythmik nicht gut ersetzbar durch die Psychomotorik, die sich durch ein immer größer werdendes Ausbildungsnetz gut verbreitet? Ist es nicht an der Zeit, den missverständlichen Begriff Rhythmik beispielsweise durch Bewegungserziehung zu ersetzen, so dass Laien sich endlich vorstellen können, was gemeint ist?
Als Kulturgut, als Ursprung vieler revolutionärer pädagogischer Grundgedanken ist die Rhythmik immer noch ein zeitgemäßes, ja ein einzigartiges Fach. Wie kaum ein anderer Fachbereich, kann sie das Kind in seiner Persönlichkeitsentwicklung unterstützen, anregen zu sozialen und individuellen Lernprozessen. Der qualifizierte Rhythmikunterricht fordert ohne Leistungsdruck, ohne Zwang zu einem nach außen präsentierbaren Ergebnis, zu spielerischen Experimenten mit Stimme, Musik, Bewegung und Material heraus, wodurch die Wahrnehmung geschult, der persönliche Ausdruck in der Bewegung und mit der Stimme und Sprache gefördert wird. In Partner- oder Gruppenarbeitsphasen werden die Kinder miteinander in Kontakt gebracht, werden Beziehungen aufgebaut und vertieft und somit das Sozialverhalten gefördert. Das Experimentieren führt die Teilnehmer in kreative Prozesse, zu intensiven sinnlichen Erfahrungen, in denen jeder seine Stärken entdecken, Unsicherheiten überwinden und Selbstbewusstsein aufbauen kann. Bildungsprozesse werden initiiert, Erkenntnisse gewonnen, die in die Bereiche der Sprache, der Ästhetik, der Naturwissenschaften, der Musik und viele andere hineinreichen. Vielfältige Erfahrungsebenen fördern ein ganzheitliches Lernen, ermöglichen Verknüpfungen zwischen unterschiedlichen Handlungsebenen ebenso wie kreative Problemlösungen.
Schauen wir auf die Anforderungen an die Pädagogik im Medienzeitalter, die Bewegungsmangel, eine einseitige Überbeanspruchung der Sinne durch die Medien und gleichzeitig einen Mangel an sinnlicher Vielfalt beklagt und zugleich den Anspruch erfüllen muss, soziales Lernen zu fördern, so können wir schnell feststellen, dass die Rhythmik genau diese Lücken füllen kann. Doch nicht nur Kinder, auch Auszubildende und Studierende können durch die Rhythmik wertvolle Erfahrungen machen, die dazu verhelfen, sie zu wacheren, umsichtigeren Lehrenden oder Betreuenden werden zu lassen. Empathie, Einfühlungsvermögen, Verständnis für Gruppenprozesse, soziales Denken und Handeln sind Grundfähigkeiten, die im Rhythmikunterricht als Basis für pädagogisches Handeln vermittelt werden. Die Studierenden lernen so, Inhalte und Methoden der Rhythmik als Unterstützung in der Erziehung und Bildung im beruflichen Alltag vielfältig einzusetzen.
100 Jahre nach ihrer Konzeption durch den Genfer Musikpädagogen Emile Jaques-Dalcroze ist die Rhythmik zeitgemäß wie noch nie. In den vergangenen 100 Jahren ist die Rhythmik nicht zu einem Auslaufmodell geworden, sondern ihre Prinzipien und Leitgedanken sind in die allgemeine Bewegungserziehung und Musikerziehung eingeflossen und haben beide nachhaltig beeinflusst. Rhythmik bietet eine wertvolle Grundlage der Musik- und Bewegungserziehung, die unbedingt als eigenständiger Fachbereich erhalten und – um zeitgemäß zu bleiben – weiterentwickelt werden muss. Deshalb müssen sich Hochschulen, Fachakademien sowie allgemeinpädagogische Institutionen gleichermaßen bemühen, ihren Stellenwert in das Bewusstsein der Lehrenden und Lernenden zu bringen.