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Probenarbeit zur Liederbörse im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie. Foto: Matthias Heyde
Probenarbeit zur Liederbörse im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie. Foto: Matthias Heyde
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Von der Überzeugungskraft des Selbermachens

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Der Rundfunkchor Berlin beschreitet neue Wege, Kindern und Jugendlichen Chormusik nahezubringen
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Der Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie ist bis auf den letzten Sitz gefüllt. Immerhin 1.200 Menschen finden hier Platz. Fast die Hälfte davon singen: Schülerinnen und Schüler aus elf Berliner Gymnasien und Oberschulen sind mit ihren Schulchören zur Liederbörse des Rundfunkchores Berlin gekommen. Die jüngsten Mitsänger sind 10, die Ältesten 17 oder 18 Jahre alt. Als Simon Halsey auf dem Podium erscheint, bricht Jubel los. Seit 11 Uhr probt man bereits zusammen. Man hat sich kennengelernt und ist zu Freunden geworden. Mit angelsächsischem Humor, mimischer Begabung, anfeuernden Rufen und Tipps, die man sofort umsetzen kann, hat der charismatische Brite die wildfremden Jugendlichen schon nach den ersten Einsingübungen vollkommen in der Hand.

Halsey, der im März seinen 50. Geburtstag feierte, weiß, wovon er spricht. Selbst Sohn eines berühmten Londoner Chorleiters und Komponisten, sang er seit seinem 9. Lebensjahr in den berühmten Universitäts-Chören seiner Heimat: zunächst am New College, Oxford, dann am King’s College, Cambridge. Seit seinem 25. Lebensjahr schuf und leitete er für Simon Rattle die verschiedenen Chor-Formationen in Birmingham. Zur Verdeutlichung lässt er in den Proben Erzählungen aus seinem eigenen Sängerleben einfließen. Das schafft Vertrauen. Nicht nur bei den Jugendlichen, die wirklich das Gefühl bekommen: „Er ist wie wir“, und Schwellenängste ablegen. Um 18 Uhr beginnt das Konzert mit Hugo Wolf und Friedrich Silcher. Der Rundfunkchor geht mit dem schweren Feuerreiter voran, die anderen Chöre folgen in wechselnden Kombinationen mit unterschiedlichstem Repertoire. 60 Minuten später ist das Wir-Gefühl auch auf das Publikum übergesprungen. Singen ist eine soziale Kunst.

Halsey glaubt an die Überzeugungskraft des Selbermachens. „Erziehungsarbeit“, meint er, „wird zunehmend wichtiger, weil eine Generation heranwächst, die immer mehr von Technik und immer weniger von Musik versteht.“ Da Kirchen und Schulen als Vermittler Ernster Musik in den Hintergrund träten, müssten Chöre und Orchester eben auf die Leute zugehen. Halsey und der Rundfunkchor verfolgen eine Doppelstrategie: „Es gibt zwei Arten, neue Freunde zu gewinnen. Die eine ist, dass wir Amateure und Kinder einladen, mit uns zu singen. Dann können sie sagen: ‚Rundfunkchor? Kenn’ ich. Ich hab’ sogar mit ihm gesungen.‘ Dann werden sie auch in unsere Konzerte kommen. Die andere ist, dass wir kleine Gruppen von Sängern zu den Leuten und in die Schulen schicken, mit ihnen arbeiten lassen und sie dann zu unseren Konzerten einladen.“

Methode A hat zur Gründung der mittlerweile legendären Mitsingkonzerte des Rundfunkchores im Februar 2003 geführt. Jedes Jahr kommen 1.500 Menschen aus ganz Europa und sogar aus den USA nach Berlin, um unter Simon Halsey einen Tag lang Werke wie die Requiem-Vertonungen von Mozart, Brahms, Fauré oder Verdi in der Philharmonie zu proben und öffentlich aufzuführen. In der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen hat sich dagegen eine Mischung aus Methode A und B bewährt. Ende 2003 studierte Halsey auf Einladung Simon Rattles mit 300 Berliner Schulkindern das Engelsfinale aus Berlioz’ „Damnation de Faust“ ein. In drei regulären Abonnementskonzerten der Berliner Philharmoniker unter Charles Dutoit öffneten sich am Ende plötzlich die Türen: Eine Flut weißgekleideter Kinder strömte in die Philharmonie und stimmte in den Gesang des Rundfunkchores ein: „Das sind 300 Kinder, die vorher nie die Chance hatten, mit klassischer Musik in Berührung zu kommen und die jetzt sagen werden: ‚Philharmonie? Kenn’ ich. Da hab ich auch schon gesungen.‘“

Für speziell auf Schüler zugeschnittene Mitsingkonzerte wie die anfangs beschriebene Liederbörse gehen Mitglieder des Rundfunkchores hingegen vier Monate vor dem Konzert in die Schulen und arbeiten sowohl mit den Lehrern und Musiklehrern als auch mit den Schülern an Stimmtechnik, Artikulation, Interpretation, Repertoire-Auswahl, Ensemble-Singen und anderen spezifischen Fragen, sodass die Kinder und Jugendlichen einerseits Einblick in Berufsleben und Persönlichkeit professioneller Chorsänger gewinnen, sich andererseits aber auch sicher und wohl im Konzert fühlen.

Simon Halsey ist ein ausgesprochener und begnadeter Vertreter des Do-it-yourself-Prinzips der Musikvermittlung. Das liegt auch an der englischen Chor-Tradition. Mitsingkonzerte seien zwar nicht gerade gang und gäbe im Vereinigten Königreich. Da man aber im Gegensatz zum immer noch wohlsubventionierten Deutschland kaum Berufschöre kenne, seien auch die berühmtesten englischen Chöre nolens volens immer schon bestenfalls halbprofessionelle Amateur-Chorgemeinschaften gewesen. Insofern habe hier bis vor kurzem noch das verdeckte Mitsingprinzip gegolten. Moderierte Familien-Konzerte hingegen lehnt Halsey nicht gerade ab. Man spürt aber seine Skepsis diesem Veranstaltungsformat gegenüber: „Natürlich ist es wichtig, Programme zu machen, die attraktiv für Familien sind. Aber was ist für sie attraktiv? Jeder hat doch andere Präferenzen. Es hat keinen Sinn, dass wir Stücke singen, die die Leute aus der Werbung kennen. Aber es hat auch keinen Sinn, dass wir anspruchsvolle Stücke singen und die Leute gehen raus und sagen: Nie wieder Klassik. Das ist ein echtes Problem.“

Der Rundfunkchor hat nun gemeinsam mit der amerikanischen Musikpä-dagogin Monique Mead ein Schülerkonzert-Format für Kinder entwickelt, die in ihren Schulen keine Gelegenheit haben zu singen, etwa weil Grundschullehrer keine hinreichende musikalische Ausbildung mehr besitzen. Hier werden, drei Monate vor dem Konzert, die Lehrer in Workshops zum Komponieren von kleinen Kanons angeleitet. Sie erhalten pädagogische und praktische Tipps, wie sie ihre Klassen zum Musizieren, Komponieren und aktiven Verstehen von gehörter Musik anregen können. Etwa zwei Monate später schwärmen die Sängerinnen und Sänger des Rundfunkchores in die Schulen aus und lassen sich die Ergebnisse der Klassen vorführen, geben Ratschläge, stellen die Stücke des bevorstehenden Schülerkonzerts vor und knüpfen persönliche Kontakte mit den Schülerinnen und Schülern. Der gemeinsame Besuch eines moderierten Schülerkonzerts ist dann die dritte Stufe dieser auf Nachhaltigkeit angelegten Aktion, in der nicht nur musikalische Interessen und Fähigkeiten geweckt und gefördert, sondern die Kinder auch mit dem Konzertritual (still sitzen, zuhören, sich auf die Musik konzentrieren) vertraut gemacht werden. Das Gefühl, dass die Vertrauensperson im Rundfunkchor auf der Bühne die Klasse im Parkett gut im Blick hat, wirkt da insbesondere bei den Kleinen Wunder. Und oft hält der persönliche Kontakt zwischen den Sängerinnen und Sängern und ihren ‚Patenklassen‘ noch über das Abschlusskonzert hinaus.

Die Reaktionen der Lehrer auf die Schülerkonzerte vom Januar 2008 bestätigen aber die Einschätzung, dass ein reines Konzertformat, das nicht in überwiegenden Teilen auf das aktive Mitsingen der Schülerinnen und Schüler und auf die Erläuterung der Stücke in den Klassen ausgerichtet ist, problematisch bleibt, weil Erwartungshaltungen, Interesse und Kenntnisse unterschiedlich sind. „Warum wurde der Gospel mit so wenig Freude gesungen?, wurde in einer Zuschrift gefragt: Kinder hatten durch den Sänger andere Erfahrungen beim Vorstellen des Programms in der Schule! Er hat die Kinder mitgerissen. Im Konzert kam davon nichts rüber!“ Durchgehend positiv wurde hingegen der persönliche Kontakt zwischen Schülern und Sängern bewertet. „Die Workshops waren sehr nützlich“, heißt es da: „Der Gesang an sich gewann an Leben, weil er mit einer Person verknüpft wurde. Das Wiedertreffen des Sängers im Chor war für die Schüler ein zusätzlicher positiver Effekt, der die Distanz zur Bühnenaktion aufhob. Die Schüler fühlen sich vielmehr eingebunden.“

Symphonieorchester und Klassik-Festivals in Deutschland haben ihre Education-Programme bereits stark ausgebaut. Nicht zuletzt deswegen, weil staatliche und private Drittmittel ohne entsprechende Begleitprogramme schon lange nicht mehr zu bekommen sind. Chöre sind hier eher in der Minderheit, da der Chorgesang für Kinder ja in Knaben- und Kinderchören traditionell institutionalisiert ist. Die Frage bleibt aber: Wie bringt man Kindern ohne musischen Familien-Hintergrund und den entsprechenden Möglichkeiten, mit klassischer Musik in einem positiven Umfeld in Berührung zu kommen, Chormusik nahe? Singen ist immerhin die einzige Kunst, die man ganz ohne Anfangsinvestitionen betreiben kann: demokratisch und gemeinschaftsbildend. Das sollte wieder in Erinnerung gerufen werden.

Einen weiteren Artikel zum Thema Konzertvermittlung finden Sie unter der Rubrik „Hochschule“ auf Seite 16.

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