„Das Vorhandensein von Ohren ist noch keine Garantie dafür, dass auch gehört wird.“(Murray Schafer)
Die Anfrage bei einer Kulturstiftung hinsichtlich der Antragstellung zur Unterstützung einer Schulkonzertreihe in sozial benachteiligten Stadtteilen Hamburgs führte vor einigen Monaten zu einer deutlichen Abfuhr, sobald das Wort ‚Schulkonzert’ überhaupt ausgesprochen war. „Schulkonzerte sind für uns noch kein förderungswürdiges Projekt. Konzerte sind uns grundsätzlich zu rezeptiv, alles ist zu sehr aufs Hören ausgelegt, ein bisschen mehr Aktivität müssen wir schon erwarten können, damit uns ein Projekt unterstützungswürdig erscheint!“ Das Gespräch war schnell beendet, eine Antwort auf die Frage, ob und wenn ja, ab wann eine Veranstaltung als „zu rezeptiv“ bezeichnet werden kann, steht hingegen bis heute aus.
Das Beispiel ist kein Einzelfall. Der einen Person ist eine Veranstaltung zu rezeptiv, eine andere hingegen beklagt sich darüber, dass man Kinder nicht noch viel öfter „einfach mal zum Zuhören verdonnert“. Konträrer könnten die Meinungen kaum ausfallen. Sie sind ein Anzeichen dafür, dass bei vielen für die Programmgestaltung Verantwortlichen ein eklatanter Bewusstseinsmangel darüber besteht, welch extrem hoher Kunst und besonderer Begabung es bedarf, all die Schönheit, die von live und konzertant gespielter Musik ausgeht, als junger unerfahrener Konzertbesucher überhaupt wahrnehmen zu können.
Welche konkreten Grundvoraussetzungen, so stellt sich die Frage, liegen einem auf sinnlicher Wahrnehmung beruhenden Musikhören zugrunde, das ungeübte Schülerinnen und Schüler befähigt, hören, lauschen, zuhören und in sich selbst hineinhorchen zu lernen? In diesen Zusammenhängen wird vielfach über neurophysiologische und -psychologische Gegebenheiten diskutiert, will man erfahren, warum es Kindern so schwerfällt, sich konzertanter Musik unvorbereitet einfach „hinzugeben“. Hinsichtlich der Entwicklung wahrnehmungsspezifischer Fähigkeiten von jungen Hörern sind es jedoch nicht nur die entwicklungspsychologischen Komponenten, die bei diesen Überlegungen eine entscheidende Rolle spielen. Einige Orchester bieten am Wochenende Kinderkonzertprogramme für die ganze Familie an und spielen das gleiche Programm am Tag darauf noch einmal als Konzert für Schulklassen. Was noch am Sonntag eine Oase der Ruhe war, wird am Montag zum Brodeltopf: Bei einem direkten Vergleich beider Veranstaltungen wird oftmals eklatant deutlich, dass soziale und sozialisierende Aspekte von mindestens ebenso zentraler Bedeutung für die Hörwahrnehmung sind. Mitunter sind die Schulkinder im Gegensatz zu den privat kommenden Kindern sogar auf den Konzertbesuch vorbereitet, und dennoch fällt es ihnen inmitten ihrer Klassenkameraden ungeheuer schwer, sich auf das musikalische Geschehen auf der Bühne zu konzentrieren.
Die begleitenden Lehrkräfte, in der Regel nur zwei Personen pro Klasse, nehmen im Vorfeld der Veranstaltungen mitunter selbst an Vorbereitungsworkshops teil, sichten Materialien, begeben sich auf die Suche nach geeigneten Hörbeispielen und bereiten ihre Klassen bestmöglich auf den Konzertbesuch vor. Trotz aller Bemühungen werden sie dann vor Ort von dem Verhalten ihrer Schülerinnen und Schüler oftmals so enttäuscht, dass ihre Motivation für die Teilnahme an Folgeveranstaltungen nahezu automatisch sinkt, obwohl ihnen das Plädoyer für eine „frühe kulturelle Bildung von Anfang an“ ständig in den Ohren klingelt. An dieser Stelle sind mehr denn je die bereits mehrfach propagierten „Arbeitsbündnisse für konzertpädagogische Vermittlung“ gefragt. Nur wenn alle Beteiligten, die Lehrkräfte, Musiker und die für das Programm Verantwortlichen sich zusammentun und einen offensiven Umgang mit der beschriebenen Problematik pflegen, lassen sich geeignete Konzepte entwickeln, die mit viel Geduld zu einer vertieften Wahrnehmungsfähigkeit von jungen, ungeübten Hörerinnen und Hörern führen können. Die folgenden Anregungen sind aus Beobachtungen heraus entstanden und mögen als kleine „Checkliste“ für die Programmgestaltung dienen:
1. Das pure Zuhören ist nur über einen Zeitraum weniger Minuten möglich. Musikhören muss sich für ungeübte Schulkinder darum immer als komplexer und vielgestaltiger Prozess vollziehen, bei dem die Kinder vom ruhigen Zuhören von Musik in Bewegung mit der Musik und wieder zurück zur Ruhe gelangen. Hier liegt die besondere Kunst sowohl in einer Vielfalt der Stückauswahl als auch in der Überlegung, an welchen Stellen sich musikalische Mitspielaktionen für die Kinder anbieten und wo sie eher als störend empfunden werden.
2. Die Kinder müssen lernen, ihre Ohren über sensibel angebahnte Hör- und Mitspielaufgaben regelrecht auszuruhen, um überhaupt erst einmal „hör-bereit“ für das genussvolle Lauschen von Musik zu werden. Diese Mitspielaufgaben müssen sensibel gestaltet werden und dürfen nicht für zusätzliche Unruhe im Saal sorgen. Pantomimische Spiegelspielbewegungen bieten sich dafür ebenso an wie ein mehrstimmiges Musizieren mit feinsinnigen Bodyperkussionsmustern, an denen pro Stimme nur Teile des Saales beteiligt werden.
3. Auch die Stille und das Stillsein, welche zum Musikhören zwangsläufig erforderlich sind, müssen in feinen Minidosierungen trainiert werden, um den Kindern ein wesentliches „Zu-sich-selbst-kommen“ und damit eine wohltuende Ausblendung der Vielzahl allzu dominanter akustischer Wahrnehmungen, die täglich auf sie einströmen, zu ermöglichen. Die Publikumskinder müssen selbst spüren lernen, dass Stille im ganzen Saal etwas extrem Genussvolles bedeuten kann. Mitunter sorgt ein überraschender Auftritt von an der Konzertgestaltung beteiligten Tanz- oder Chorkindern ebenso für solche besonderen Momente wie ein plötzlich vorgenommener Lichtwechsel.
4. Vielfältige, sinnliche Erfahrungen im Umgang mit Stille sind eine wesentliche Voraussetzung dafür, unter Ausschluss des dominierenden visuellen Sinnes das Musikhören, aber auch das allgemeine Hören nach innen und in sich selbst hinein überhaupt entdecken zu können. Konkrete Höraufgaben können dabei ebenso zum Geschehen beitragen wie extreme Parameterwechsel bezüglich Dynamik, Tempo, Artikulation, Tonhöhen, Klangfarben et cetera.
5. Momente der aktiven Zuhörruhe, sofern sie denn gelingen, sollten viel Raum für eigene Gefühle, den eigenen Atem und die Anregung des eigenen Körpers zulassen. Solche Situationen können auch in der Nachbereitung eines Konzertbesuches im Gespräch mit den Schulkindern noch einmal aufgegriffen und thematisiert werden, frei nach dem Motto „welcher Moment hat euch während des Konzertes besonders gut gefallen, bei welchem Stück konntest du die Musik am besten spüren, welches Instrument hat deine Ohren am meisten beeindruckt …?“
6. Innerhalb der Vorstellungstätigkeit der Kinder werden während des konzertanten Hörens der Musik individuelle „Filme“ und innere Bilder in Gang gesetzt, die vielfältige Gelegenheiten für kreative Mal-, Sprach- und Schreibanlässe bieten. Diese sollten anberaumt werden, um bei den Kindern Assoziationen freizusetzen, welche im anschließenden Gespräch, beim Malen eines Erinnerungsbildes oder Schreiben eines Briefes an die Orchestermusiker Anmerkungen zur Musik, Vergleiche mit anderen Erlebnissen sowie persönliche Geschichten zulassen. Auf diesem Wege wird die kindliche Fantasie auch für weiterführende künstlerische Prozesse angeregt und gefördert.
Eine differenzierte Wahrnehmungsfähigkeit steht nie am Anfang aller sinnlichen Entwicklung. Im Gegenteil, sie bildet sich erst langsam und mit der Zeit heraus. Auch die Leserinnen und Leser dieser Zeitung mussten sie sich aneignen. Ihre Rezeptionsfähigkeiten haben sich möglicherweise bereits mit jungen Jahren entwickelt und schon dann wurden ihre prägenden Wurzeln für eine sinnliche Wahrnehmung von Musik zum Zuhören gelegt. Den Kindern der heutigen Grundschulgeneration fällt es zunehmend schwer, all die Erfahrungen in verschiedenen sinnlichen Bereichen zu koordinieren, die für das Erfassen ihrer Umwelt und erst recht für das Hören von Musik vonnöten sind. Und manchmal fällt es uns Erwachsenen schwer, sich in die Gemüter junger Konzertbesucher zu versetzen. Der Besuch eines Schulkonzertes sei dafür dringend empfohlen.