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Was den Menschen zum Homo musicus macht

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Eine Replik auf den Artikel „Stammt die Musik vom Affen ab?“ (nmz 10/2010)
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Im September 2008 fand ein Archäologenteam der Uni Tübingen in einer Höhle der Schwäbischen Alb eine nahezu vollständig erhaltene steinzeitliche Flöte. Das aus einem Vogelknochen gearbeitete Instrument ist mindestens 35.000 Jahre alt – und damit das bislang älteste uns bekannte Musikinstrument. Unsere Vorfahren haben also musiziert, viele Jahrtausende bevor sie den Ackerbau, geschweige denn das Rad erfanden. Dieser Befund betrifft, wohlgemerkt, die Herstellung von Klang-Werkzeugen. Eine singfähige Stimme besaß der Homo sapiens bereits viel früher. In der Ontogenese des Menschen beobachten wir: Säuglinge reagieren auf Melodie, lange bevor sie die Bedeutung von Sprachlauten erfassen können. Nicht von ungefähr sprechen Mütter überall auf der Welt mit ihren Babys in einem typischen Singsang. Diese Gegebenheiten zeigen, dass Musik nicht allein als Kunstform oder gar als „Text“ verstanden werden kann – sondern zunächst als naturgegebener Bestandteil des menschlichen Verhaltensrepertoires, als Modus menschlicher Kommunikation.

Auf der Suche nach den Ursprüngen der Musik kommt man also, wie Markus Meier in seinem Artikel in der nmz 10/2010 bemerkt, „um die Evolutionsbiologie nicht herum“, es sei denn, man begnüge sich mit der schönen Vorstellung eines Göttergeschenks. In der Tat konnte die Evolutionstheorie in jüngster Zeit gerade durch die Kreationismus-Debatte ein Plus an öffentlichem Interesse und Sympathie verbuchen. Die aufgeklärt-modern fühlende westliche Gesellschaft ist sich, so scheint es, weithin einig in der Akzeptanz der naturwissenschaftlichen Sicht auf den Homo sapiens als Spross einer Primaten-Ahnenreihe. Demnach müssen die kognitiven Fähigkeiten unserer Art, die sich auffällig von den Begabungen der Affenverwandtschaft unterscheiden, das Ergebnis biologischer Evolutionsprozesse sein. Diese wiederum setzen nur an genetisch vererbbaren und nicht an erworbenen Eigenschaften an. Genau hier jedoch stößt das allgemeine Bekenntnis zur wissenschaftlichen Aufgeklärtheit an Grenzen. Die Evolutionstheorie ist gut für das Vegetative, doch sie möge bitte halt machen vor dem menschlichen Geist.

Die Abneigung gegen alle Ansätze, Verhalten und gar Kultur des „nackten Affen“ (Desmond Morris) in biologischen Zusammenhängen zu begreifen, ist teilweise historisch nachvollziehbar. Markus Meier hat auf die fatale ideologische Verzerrung evolutionärer Ansätze – auch der Vergleichenden Musikwissenschaft – im Nationalsozialismus hingewiesen. Damit will niemand, der auf sich hält, etwas zu tun haben, und so verlässt noch heute mancher Silberrücken der Musikwissenschaft den Raum, wenn auf einer Tagung über biologische Grundlagen der Musik gesprochen wird. Auch die „Biomusicology“ erfindet in Amerika gleichsam das Rad neu und ignoriert die Forschungstradition der Vergleichenden Musikwissenschaft, obwohl schon 1924 der Wiener Robert Lach die ebenso programmatische wie modern anmutende Zielsetzung des Faches formuliert hatte, „das gesamte musikalische Leben der Menschheit […] aus dem kulturhistorischen wie psychologischen, anthropologischen und biologischen Zusammenhang der Gesamtentwicklung und -erscheinungsform der Gattung ‚Homo sapiens’ zu erklären“ und eine „Biologie der Musik“ zu entwickeln.

Worum kann es heute bei der Erforschung der „Biologie der Musik“ gehen? Eine Kernfrage lautet: Welche Fähigkeiten machen die Musikalität des Menschen aus und sind nicht als Allround-Kompetenzen zu erklären, die eigentlich für „nützlichere“ Zwecke (zum Beispiel die Sprache) angelegt sind? – Das Relative Gehör sowie die Fähigkeit zur rhythmischen Synchronisation scheinen solche spezifisch musikalischen Kompetenzen zu sein. Zudem kommen sie wohl nur beim Menschen vor. Zwar schunkelt der Kakadu „Snowball“ auf youtube zu einem Popsong, und Menschenaffen trommeln gelegentlich. Aber: Zwei Kakadus können nicht synchron schunkeln, und eine Gruppe von Schimpansen trommelt nicht im Takt. Das ist möglicherweise ein springender Punkt der Evolution menschlicher Musikalität: Rhythmische (und emotionale!) Synchronisation als Mechanismus, der Gruppenzusammenhalt verstärkt und Kooperationsbereitschaft belohnt. Es dürfte kein Zufall sein, dass gerade das Wesen, das durch seinen Hang zum gemeinschaftlichen Handeln Kulturen und Staaten entstehen ließ, Rhythmusgefühl besitzt.

Weil ausgerechnet unsere nächsten Verwandten im Tierreich so unmusikalisch sind, muss man die rhetorische Titelfrage des Artikels von Markus Meier wörtlich beantworten: Musik stammt definitiv nicht vom Affen ab. Sie ist eine typisch menschliche Kommunikationsform, aber sie hat Parallelen an entfernteren Ästen des Wirbeltierstammbaums – etwa bei den Singvögeln. Der Inter-Spezies-Vergleich ist daher für die Evolutionäre Musikforschung nur bedingt sinnvoll.

Nicht abwegig ist es hingegen, auch die „autonome“ europäische Kunstmusik unter anthropologischen Gesichtspunkten zu analysieren: Welche biopsychologisch relevanten Ausdrucksmittel werden in welchem Kontext eingesetzt, wie nehmen wir sie wahr und warum? Welcher Zusammenhang besteht beispielsweise zwischen Stimmfächern, Charakteren und Handlungsmustern in der Oper? Die Frage reicht in das Nachbarfeld der biologischen Literaturtheorie hinein. Bei ganzheitlichen Betrachtungsweisen besteht freilich Verwirrungsgefahr: Die Psychologie eines dichterischen Motivs (Meier führt Wilhelm Müllers Bild der „Nebensonnen“ an) wird allein durch Vertonung noch nicht zu einem biomusikologischen Thema. Auch die evolutionäre Ästhetik der Symmetrie lässt sich nicht ohne weiteres auf die Musik übertragen. Symmetrie ist ein visuelles Phänomen. In der Musik kann nur ein Schriftbild symmetrisch sein, nicht aber eine Folge von Klängen. Vielmehr spielt das für musikalische Formen charakteristische Prinzip der Wiederholung eine wesentliche Rolle in unserer Signalverarbeitung.

Hat der verhaltensphysiologische Zugang zur Musik auch eine Bedeutung außerhalb wissenschaftlicher Elfenbeintürme? Ja, lautet die klare Antwort: In bildungspolitischen Debatten sollte sich der Stellenwert eines vitalen Elements unserer Conditio humana besser vermitteln lassen als der eines hübschen, aber im Grunde nutzlosen Kulturaccessoires. Der erzieherische oder ästhetische Eigenwert von Musik mag eine subjektive und dehnbare Behauptung sein. Dass es aber für die gesunde Entwicklung der Persönlichkeit förderlich ist, das serienmäßig angelegte Kommunikationsrepertoire des Menschen aktiv zu trainieren, dürfte auch eher ökonomisch orientierten Bildungspolitikern einleuchten. Die in mehreren Studien festgestellte Verbesserung sozialer Kompetenz durch tätigen Musikunterricht ist dabei aus humanethologischem Blickwinkel plausibler als die immer wieder erhoffte Leistungssteigerung durch Mozarthören. Auch innerhalb der Musikpädagogik kann die verhaltenswissenschaftliche Perspektive eine kritische Bewertung der Entwicklungen der letzten fünf Jahrzehnte begründen. Die älteren Leitgedanken der Musischen Erziehung und der Selbsttätigkeit entsprechen dem musikalisch kommunizierenden Menschen eher als das Konzept der „Auditiven Wahrnehmungserziehung“.

Die Frage nach anthropologischen Universalien führt gerne zu einem verklärten Missverständnis: Musik ist keine „Weltsprache“. Die Universalie besteht vielmehr in der Funktion einer jeden Musiktradition, über emotionale Identifikation kulturelle Heimat mit zu definieren. Begreifen wir dies als Chance und Herausforderung, einer globalisierten Subkultur Alternativen entgegenzusetzen.

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