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Bleistift oder MusikmachDing? Foto: Juan Martin Koch

Bleistift oder MusikmachDing? Foto: Juan Martin Koch

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Wenn Aufwand und Ertrag sich nicht die Waage halten

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Empirische MusikmachDing-Forschung in der Musikpädagogik · Eine Streitschrift von Norbert Schläbitz
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In der aktuellen empirischen Forschung der Musikpädagogik geht es recht häufig um „Dinge“, früher sagte man Objekt, Gegenstand, auch Materialität dazu. Heute florieren nun „Dinge“, exakter gesagt „MusikmachDinge“. Der folgende Beitrag will die Relevanz jener Forschung befragen.

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Ein Bleistift ist als Schreibgegenstand zu verwenden, aber in ihm verbirgt sich auch ein MusikmachDing. Der Unterschied: Mit dem Neologismus will man darauf verweisen, dass MusikmachDinge „auch als eigenständige Musikmachende wahrzunehmen sind“[1]. In gewissem Sinne sind Objekte, Gegenstände jeglicher Art selbst Aktanten, die Musik machen, und nicht nur in Passivität verharrende Gegenstände, weil sie sich aufdrängen, auf gewisse Weise bespielt zu werden. Mit einem Bleistift lässt sich rhythmisch trommeln, eine Melodielinie zu realisieren drängt sich dem menschlichen Gegenüber als Idee aus einsichtigem Grund nicht auf. „Die Dinge handeln, indem sie auf den Menschen wirken.“[2]  Der Begriff „MusikmachDing“ will dem Rechnung tragen.

Die Vorstellung von MusikmachDingen lässt sich theoretisch unterfüttern mit dem Affordanzkonzept, wie es James J. Gibson 1979 mit dem Neologismus „affordance“, abgeleitet vom Verb „to afford“, beschrieben hat. Medien, welcher Art auch immer, haben einen hohen Aufforderungscharakter, auf spezifische Art und Weise mit ihnen umzugehen. Bruno Latour mit seiner Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) darf hier nicht unerwähnt bleiben, da er von einer ähnlichen Prämisse ausgeht. Eng verflochten mit dem Gesagten ist der „material turn“: „Theoretiker des ‚material turn‘ betonen ‚agency‘, den ‚Eigenwillen‘ der Dingwelt.“[3]

Schon Marshall McLuhan brachte einst mit seiner Medientheorie in den 1960er-Jahren diese wechselseitige Verbindung zwischen Medium, Körper und Geist auf den weltberühmten Satz: „Das Medium ist die Botschaft“. Jedwede Materialität der Kommunikation schleicht sich in Denkvorgänge ein. Die genannten Ansätze finden im „linguistic turn“ im frühen 20. Jahrhundert einen vornehmen Ahnen. Aber der Ursprung liegt – wie so oft – bei den Griechen. Schon Platon fand in der Schrift kein neutrales Werkzeug vor, sondern ein Denkvorgänge beeinflussendes Medium. Das einzig Neue an der Theorie vom MusikmachDing ist demnach der Name, der Rest ist altbekannt.

Die Hierarchisierung von Klangerzeugern

„MusikmachDing“, das klingt nicht schön, wie der Namensgeber Johannes Ismaiel-Wendt anerkennt, wenn er die meines Wissens eigene Sprachschöpfung als „holprig[e] Substantiv-Verb-Verbindung“ benennt. Musik·mach·Ding lässt auch die Assoziation der Verwendung von leichter Sprache in der Wissenschaft zu. Das wäre wahrlich ein Ding, doch problematischer erscheint Folgendes: Klaviere, Gitarren, Geigen sind ebenfalls MusikmachDinge, denn auch sie legen bestimmte Umgangsformen nahe. Saint-Saëns sprach vom „esprit du clavier“, vom sogenannten Klaviaturbewusstsein, das Folge der temperierten Stimmung war und Komponisten von einst als „Tyrann“ beherrschte, wie er meinte.

Wer aber würde – außer im MusikmachDing-Diskurs – ein Klavier schon MusikmachDing nennen, wenn ihm die Bezeichnung Instrument geläufig ist? So wird eine unnötige Hierarchie unter Klangerzeugern aufgebaut: zwischen behelfsmäßigen MusikmachDingen und ‚richtigen‘ Instrumenten. Abstraktionen wie Materialitäten der Kommunikation oder Medium verführen nicht zu solcher Konnotation, die Konkretion MusikmachDing schon. So werden „Voreinstellungen“ eher befestigt, als dass sie im postkolonialen Duktus in einem Meer der Gleichberechtigung von Musizierverfahren aufgehen, weil das Vorstellungsvermögen durch die Konkretion MusikmachDing präfiguriert wird. Dabei war das Gegenteil als Ziel ausgegeben.

Das „soziomaterielle Dreikörperproblem“

Teile der empirischen Musikpädagogik schätzen das MusikmachDing. Dem unsicheren Kantonisten Mensch mit seiner unzugänglichen Psyche wird zur Seite gestellt eine endlose Fülle von MusikmachDingen und ergänzend noch dazu der Raum, in dem sie wirken. Fortan spricht man von MusikmachDingen, auch vom „material turn“ und auch von Soziomaterialität, denn 1. Mensch, 2. Dingwelt und 3. Raum werden nicht isoliert, sondern im Handlungszusammenhang beleuchtet. An Stelle der sich stets entziehenden BlackBox Psyche treten beschreibbare soziomaterielle Konstellationen – so die These.

Dass sich hier leichte erste Zweifel einschleichen, wenn man über die Fachgrenze hinausschaut, ergibt sich aus dem in der Physik bekannten Dreikörperproblem, das besagt, dass es bis heute nicht möglich ist, „die Trajektorien dreier sich gegenseitig beeinflussender Körper, etwa von Sonne, Erde und Mars, so zu beschreiben, daß zu jedem Zeitpunkt eine deterministische Voraussage über das künftige Geschick dieser drei Körper möglich ist.“ [4] Und doch hofft man in der Ding-Forschung optimistisch, dass nun „ein verobjektivierender, nüchterner Blick auf die Welt eingeführt und aufrechterhalten wird“ [5], wo man dem aller verlässlichen Introspektion sich versagenden Menschen aus dem Stimulierungsdreieck von Psyche – Raum – Ding(en) heraus näher kommen will. Der überwunden geglaubte klassische Behaviorismus nach John B. Watson von einst lässt grüßen, wenn primär Umweltbedingungen ins Blickfeld rücken.

Die Erziehungswissenschaftlerin Kerstin Rabenstein liefert ein Beispiel: Musizieren ist mit Lautstärke verbunden. Zum Schutz erhalten die jungen Leute einer Klasse je einen Kapselgehörschutz (eine Art Kopfhörer). Das Ergebnis: Manche spielen noch lauter als zuvor. Anstatt als Lärmschutz dient der eigentlich schallmindernde Kopfhörer als Geräuschverstärker. Ergo: Die Bedeutung oder auch Funktion der Dinge ergibt sich erst über ihren Gebrauch aus dem Kontext. Rabenstein leitet daraus weitere Forschungsfragen ab: „Im Sinne der Erforschung der Relation der auditiven und räumlichen Dimensionen pädagogischer Ordnungen […] könnte es z. B. darum gehen zu fragen, in welcher Weise für wen und von wem welche auditiven Bedingungen in welchen Teilen des Raumes hergestellt werden und wie im Zusammenhang damit welche Geräusche als Geschäftigkeit oder als Lärm im Klassenzimmer gelten und wer legitimiert ist, welche Geräusche zu sanktionieren bzw. sich vor ihnen zurückzuziehen.“[6]

Schon Rabenstein macht darauf aufmerksam, dass nur einige Kinder die Geräuschverstärkung favorisierten. Dieselbe Netzwerklage bei veränderter psychischer Disposition kann selbst bei diesen einigen Kindern ganz andere Wirkungen evozieren. Oder: Dieselbe Netzwerklage, nur mit anderen Personen, macht die Ergebnisse von zuvor zur Makulatur. Auf diese Weise ist keine allgemeingültige Wirkungsmacht, sondern lediglich eine einzelne situative Momentaufnahme einer Unterrichtssituation beschrieben, die keinerlei Aussagekraft für künftige hat. Es wird so eine Einzelfallanalyse ohne irgendeinen, wissenschaftlichen oder didaktischen Mehrwert oder anderweitigen Erkenntnisgewinn geliefert. Eine Form der Selbstzweck-Forschung nimmt Gestalt an.

Ein anderes Beispiel: Ulrike Kranefeld, Anna-Lisa Mause und Jan Duve nehmen sich des Themas Musik-Erfinden an. Auch für sie spielen Dinge beziehungsweise „Artefakte wie Musikins­trumente, Alltagsgegenstände, digitale Medien, Raumelemente und Möblierung […] für unterrichtliche Prozesse des Musik‐Erfindens eine zentrale Rolle“[7]. Die jungen Leute in der Klasse erhalten den Arbeitsauftrag, ein Stück zu komponieren. Über mehrere Seiten hinweg wird akribisch das Schicksal der Blockflöte beschrieben, die jemand ausgewählt hat und von anderer Seite wenig gelitten ist. Die Komposition wird sodann um eine szenische Inszenierung erweitert. Der Interessierte erfährt nun, wer, wann, was, wie mit welchem Ding im Unterricht getan hat, welche Sicherheiten und Unsicherheiten man bei Verwendung verspürt, auch welche Schlüsse man aus alldem zieht.

Ein Ergebnis aus zeitintensiver Forschung und seitenlanger Nacherzählung von Unterricht ist, dass der Umgang mit bekannten Dingen, kompetent bedient, bevorzugt wird, der Umgang mit Dingen, mit denen man fremdelt, eher selten ist oder vermieden wird. Etliche Seiten brauchen die Forschenden, bis sie endlich wissen, dass man Instrumente nicht spielen können muss, um sie in anderer dilettierender Weise einzusetzen, man ihnen einen neuen Namen, auch veränderte Bedeutung geben kann. „Diese Sequenz ist insofern interessant, als dass die ursprüngliche Bedeutungszuweisung ‚Horn‘ mit dem hervorgebrachten Klang des Dings nicht kompatibel ist und es daher zur Benennung ‚Pfeife‘ kommt.“ Und sie erläutern ergänzend: „Neben dem Gebrauch der Dinge trägt also auch die Benennung von Dingen zur Bedeutungsgenese im vorliegenden Prozess des Musik-Erfindens bei.“[8] Das Alltagswissen, dass manch inkompetentes Nicht-Verfügen über Dinge sie kreativ anders nutzen lässt, traut sich das Autorentrio tatsächlich als Erkenntnisgewinn herauszustellen. Dieses Vermögen nennt man schlicht Fantasie.

Zum weiteren Problem gerät, dass Dinge im Unterricht in fast schon unüberschaubarer Zahl vorliegen. Zu den Dingen gehören ja auch Kreide, Tafel, Beamer, Stuhl und Tisch, Smartphone, Tür, Türklinke, Fenster, Fensterknauf, Bücher im Schultornister, der Schultornister selbst, die Federmappe mit all den Dingen drin und so unendlich viel mehr, dass man daran verzweifeln kann. All das können Kinder, Lehrende verwenden, der Norm entsprechend oder ihr auch widersprechend. All das geschieht auch im Unterricht: Das eine oder das andere rückt in den Fokus, je nach Kindern, die gerade den Unterricht besuchen, je nach Lehrenden gemäß ihrer Kompetenz und Stimmungslage, je nach Tag und Zeit, in der die Stunde liegt, je nach (räumlicher) Situation, wie sie gerade ist, je nach Stundeninhalt.

Die soziomaterielle Matrix so vieler Dinge im Unterricht zu berücksichtigen bis hin zu digitaler Technologie potenziert den Beschreibungsüberfluss zu Dingen. An dieser Fülle scheitert jedes Matrixgeflecht. Mit jeder veränderten Position, auch Aufmerksamkeitsveränderung von Beobachtenden kann sich alles schon wieder ganz anders darstellen. Ganz abgesehen von der menschlichen Psyche, die jedweder Beobachtung sich entzieht und nicht-trivial mal hierhin, mal dorthin auszuschlagen sich entschließt. Beim Verstellen einer einzigen Stellschraube nur, beginnt das große Rad sich schon erneut zu drehen. Gerade war es noch das Klavier, von dem impulsträchtige Signale ausgingen, schon mag es in neuer Konstellation zum randständigen Phänomen sich wenden. Und das, was man mühsam empirisch an Informationen über teilnehmende Beobachtung, Interviews und/oder Videodokumentation zu besonderer Situation erhoben hat, spielt schon längst keine Rolle mehr. Es ist das soziomaterielle Dreikörperproblem, an dem die MusikmachDing-Forschung scheitert.

Kafka als musikpädagogische Alternative

Die MusikmachDing-Forschung in der Musikpädagogik ähnelt dem Bemühen des Landvermessers K., die Vorgänge im Schloss zu durchdringen. Kafkas Schloss ist unter pädagogischem Blickwinkel gar gewinnbringender zu lesen als empirische Studien wie die geschilderten. Kafka liefert eine große Abstraktionshöhe, die der Forschung zu MusikmachDingen in vielen Fällen fehlt. Die Relevanz der MusikmachDing-Forschung empirisch zu untersuchen, wäre dringliches Desiderat. These: In der Regel endet sie dort, wo nach dem letzten Buchstaben der Publikation die Seite umbricht. Wer zu Dingen forschen will, sollte lieber zu ihnen Sachen sagen und (neben dem Literaten Kafka) beim Phänomenologen Husserl nachlesen, wie sie forschend zu ergründen sind. ¢

Anmerkungen

[1] Ismaiel-Wendt, Johannes: post_PRESETS. Kultur, Wissen und populäre MusikmachDinge. Hildesheim/ Zürich/ N.Y. (Georg Olms) 2016, S. 3f.

[2] ) Stockhammer, Philipp W.: Mensch-Ding-Verflechtungen aus urgeschichtlicher Perspektive. In: Hofmann, Kerstin P. / Meier, Thomas / Mölders, Doreen / Schreiber, Stefan (Hg.): Massendinghaltung in der Archäologie. Der Material Turn und die Ur- und Frühgeschichte. Leiden (Slidestone) 2016, S. 336.

[3] Bräunlein, Peter J.: Material turn. In: Georg-August-Universität Göttingen (Hg.): Dinge des Wissens. Die Sammlungen, Museen, Gärten der Universität Göttingen. Göttingen (Wallstein) 2012, S. 36.

[4] Cramer, Friedrich: Chaos und Ordnung. Frankfurt/M. (Insel) 1993, S. 163.

[5] Rabenstein, Kerstin: Wie schaffen Dinge Unterschiede? In: Tervooren, Anja/Kreitz, Robert (Hg.): Dinge in der qualitativen Bildungs- und Biographieforschung. Opladen, Berlin, Toronto (Budrich) 2018, S. 17.

[6] Ebd., S. 21.

[7] Kranefeld, Ulrike/Mause, Anna-Lisa/Duve, Jan: Zur Materialität von Prozessen des Musik-Erfindens. In: Weidner, Verena/Rolle, Christian (Hg.): Praxen und Diskurse aus Sicht musikpädagogischer Forschung. Müns­ter (Waxmann) 2019, S. 36.

[8] Ebd., S. 45.

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