Allegro: 120–168. So steht es auf meinem alten Metronom. Allegro steht auch über dem ersten Satz der D-Dur Sonate KV 576 von W.A. Mozart. Ich stelle also die punktierten Viertel auf 120 ein und stelle dabei fest, das ist viel zu schnell. Bei den Achteln auf 168 ist es wiederum viel zu langsam. Da kann also etwas nicht stimmen mit der Angabe auf dem Metronom. Sind Vortragsbezeichnungen wie Andante oder Allegro also gar nicht mit einem bestimmten Tempo verknüpft? Wie finde ich auch ohne Metronom das richtige Tempo und wie können Schüler angeleitet werden, sich selbst an das passende Tempo heranzutasten?
Das Metronom, 1815 vom Wiener Instrumentenbauer Johann Nepomuk Mälzel konstruiert, ist tatsächlich kein geeigneter Ratgeber in Fragen der Temponahme bei Mozart. Vielmehr war es bis ins 19. Jahrhundert Tradition, das Tempo anhand des Notentextes selbst herauszufinden. Es ist auffällig, dass die Anweisungen zur Realisierung eines Notentextes im Laufe der Musikgeschichte immer genauer wurden. Ist bei Monteverdi oft nicht einmal die Instrumentation der Stimmen angegeben, so gibt Béla Bartók für die Dauer mancher Klavierwerke die genaue Sekundenzahl an. Wie viel Freiheit gibt W.A. Mozart dem Spieler in der Frage des Tempos? Siegbert Rampe meint, Mozart hätte ein Idealtempo seiner Werke im Sinn gehabt und gibt zahlreiche Kriterien für die Wahl des richtigen Tempos an: Taktart, Tempo- und Affektbezeichnung, Tonart, Gesangs- und Atemtechnik, schnellste Notenwerte, Satzstruktur und rhythmische Komplexität, harmonischer Verlauf, Charakter und Klang des Instruments (vgl. Rampe, Siegbert: Mozarts Claviermusik. Klangwelt und Aufführungspraxis. Ein Handbuch. Kassel 2001). Erst ein Abwägen dieser Parameter ermögliche, das angemessene Tempo zu finden.
Leopold Mozart schreibt in seinem „Versuch einer gründlichen Violinschule“ von 1756: „Der Tact macht die Melodie: folglich ist er die Seele der Musik. Er belebt nicht nur allein dieselbe; sondern er erhält auch alle Glieder derselben in ihrer Ordnung.“ Die Verbindung der einzelnen Zählzeiten zur Gesamtheit des Taktes muss für den Hörer ebenso spürbar bleiben wie die einzelnen Zählzeiten innerhalb des Taktes. Ein 3/8-Takt lässt ein langsameres Tempo zu als ein 6/8-Takt, wogegen der 2/2-Takt flüssiger als der 4/4-Takt ist. Bezeichnungen wie Allegro oder Andante sind als Ergänzung zu den übrigen Parametern des Stückes zu betrachten. Sie sind als Hinweis auf den Affektgehalt des Stückes zu deuten und deshalb nicht nur Tempo-, sondern vor allem Affektbezeichnungen. Nachfolgend die gebräuchlichsten von langsam bis schnell: Grave, Largo, Adagio, Andante, Vivace (!), Allegretto, Allegro, Presto. Diese können durch Zusatzwörter präzisiert werden. Eine Verstärkung des Affektgehaltes lassen Wörter wie assai, molto oder affetuoso erkennen. Abmilderungen sind ma non troppo, moderato, in gewissem Sinne auch spiritoso oder maestoso.
Auch die Tonart des Stückes liefert Hinweise auf dessen Stimmung. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein waren den einzelnen Tonarten genaue Klangeigenschaften zugeordnet. Sie rühren von der ungleich schwebenden Temperatur her, die noch in Mozarts Zeit größtenteils verwendet wurde, sodass tatsächlich jede Tonart anders geklungen hat. So galt zum Beispiel D-Dur als „scharf und eigensinnig“, Es-Dur dagegen als „pathetisch“ und „klagend“, d-Moll als „erhaben“, h-Moll dagegen als „bizarr“ et cetera. Generell kann man sagen, dass Tonarten mit weniger Vorzeichen zu extremeren Tempi neigen, diejenigen mit vielen Vorzeichen eher zu gemäßigteren Tempi. Kreuztonarten werden oft schneller genommen als b-Tonarten.
Im 18. Jahrhundert galt die menschliche Stimme als das ideale Musikinstrument. Daher orientierte sich auch die Instrumentalmusik am Gesang. Für die Temponahme hat das folgende Konsequenz: Ein musikalischer Bogen muss so flüssig gespielt werden, dass er auf einen Atem gesungen werden kann. Die schnellsten Notenwerte müssen mit der vorgeschriebenen Artikulation deutlich nachvollziehbar umgesetzt werden können. Das Tempo muss sich demnach auch an der schnellsten beziehungsweise schwierigsten Passage orientieren. Und auch polyphones Stimmengeflecht darf niemals undurchsichtig oder wirr erscheinen. Daher erfordern gerade Fugen oder fugato-Passagen, die bei Mozart gar nicht selten zu finden sind, ein gemäßigtes Tempo. In langsamen Sätzen hingegen besteht die Gefahr, dass bei zu langsamem Tempo die Komposition quasi zerfällt. Auch bei raschen Harmoniewechseln sollte das Tempo nicht zu schnell gewählt werden, um den Spannungsverlauf nachvollziehen zu können. Halb- oder ganztaktige Harmoniewechsel deuten hingegen eher auf ein flüssigeres Tempo hin.
Schließlich gilt es noch, Charakter und Klang des Instruments zu berücksichtigen. Hierbei sollten zunächst die Unterschiede zwischen Mozarts Instrumentarium, also Hammerklavier, Cembalo und Clavichord, und dem modernen Konzertflügel betrachtet werden. Tondauer und Klangvolumen haben ebenso stetig zugenommen wie die Dauer des Einschwingvorgangs oder das Tastengewicht. Das bedeutet, dass schnelle Sätze auf einem modernen Flügel tendenziell langsamer zu nehmen sind, dass aber in langsamen Sätzen auch langsamere Tempi möglich sind, ohne dass die Komposition zerfällt. Auch die akustischen Eigenschaften des Aufführungsortes sind bei der Tempowahl zu berücksichtigen. Grundsätzlich sollte in überakustischen Räumen das Tempo in schnellen Sätzen gemäßigt, in akustisch trockenen Räumen die langsamen Sätze behutsam beschleunigt werden.
Daniel Gottlob Türk nennt in seiner Klavierschule von 1789 einen weiteren entscheidenden Aspekt für die Tempowahl: „Ein jedes gute Tonstück hat irgend einen bestimmten (herrschenden) Charakter, das heißt, der Komponist hat einen gewissen Grad der Freude oder Traurigkeit, des Scherzes oder Ernstes, der Wuth oder Gelassenheit u.s.w. darin ausgedrückt.“ Diesen Charakter herauszufinden ist wohl die wichtigste Aufgabe des Spielers und wird daher auch großen Einfluss auf die Temponahme haben. Den musikalischen Gesetzmäßigkeiten des 18. Jahrhunderts nach muss man diesen Charakter aus dem Notentext selbst herauslesen können. Johann Joachim Quantz erläutert in seinem 1789 erschienenen „Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen“ neben der Tonart und den Vortragsbezeichnungen die auftretenden Intervalle, Notenwerte und Dissonanzen als entscheidende Faktoren für den Charakter des Stückes: „Man kann die Leidenschaft erkennen; aus den vorkommenden Intervallen, ob solche nahe oder entfernet liegen, und ob die Noten geschleifet [gebunden] oder gestoßen werden sollen. Durch die geschleiften und nahe an einander liegenden Intervalle wird das Schmeichelnde, Traurige, und Zärtliche; durch die kurz gestoßenen, oder in entfernten Sprüngen bestehenden Noten […] wird das Lustige und Freche ausgedrücket. Punktirte und anhaltende Noten drücken das Ernsthafte und Pathetische; die Untermischung langer Noten, als halber und ganzer Tacte, unter geschwinden, aber, das Prächtige und Erhabene aus.“ All diese Anhaltspunkte sind dennoch nicht absolut zu sehen. Gefühl, Erfahrung und Intuition sind am Ende ausschlaggebend, jedoch nur bedingt lehrbar.
Sonata facile
Wie kann man nun das bisher Gesagte praktisch anwenden und sich an das richtige Tempo herantasten? Anhand eines sehr populären und auch im Klavierunterricht beliebten Werkes, der Sonata facile (KV 545), soll die Arbeit des Interpreten im Bezug auf die Erarbeitung des richtigen Tempos nachvollzogen werden. Wesentliche Indizien finden sich bereits am Anfang des Werkes:
Das Stück steht im 4/4-Takt. Hätte Mozart einen Allabreve-Takt vorgeschrieben, wäre das Tempo schneller, flüssiger zu nehmen. Denkbar wäre auch, dieses Stück im Allabreve-Takt mit kleineren Notenwerten zu notieren, was nochmals eine Temposteigerung (zumindest relativ) zur Folge gehabt hätte. Im 4/4-Takt allerdings sollte jeder der vier Taktschläge spürbar sein. Dafür sind die metrischen Impulse, die von der Zählzeit 1 ausgehen, weniger stark und akzentuiert als im Allabreve. Die Satzbezeichnung lautet Allegro, was nach Leopold Mozart „lustig, doch nicht übereilt“ bedeutet. Auch die Tonart C-Dur deutet eher auf ein gemäßigtes Tempo hin. Häufig wird sie assoziiert mit Charaktereigenschaften wie Unschuld, Einfalt, Naivität, aber auch Heiterkeit, Fröhlichkeit und Ernst. Im Gegensatz dazu deutet der harmonische Verlauf eher auf ein schnelleres Tempo hin. Ganz- oder halbtaktige Harmoniewechsel (auch im weiteren Verlauf des Satzes) sowie das Fehlen ausladender Modulationen lassen einen raschen Fortschritt zu. Das Tempo darf also nicht zu gemächlich sein, damit es nicht langweilig wirkt.
Die satztechnisch dichteste Stelle des ersten Satzes findet sich in den Takten 18ff. beziehungsweise T. 63ff. (siehe oben):
Dass diese Takte zum retardieren verleiten, weiß der Autor aus eigener Erfahrung. Auch Takt 11 und 56 sind mit den schnellen Arpeggien der linken Hand heikel, ganz abgesehen von den Trillern in Takt 25 beziehungsweise 70. Eine deutliche Ausführung dieser Stellen verlangt ein maßvolles, nicht zu eiliges Tempo.
Der Affekt des ersten Satzes lässt sich analog zur C-Dur-Charakteristik als eine Mischung aus Heiterkeit und Ernst beschreiben. Es finden sich keine großen Sprünge, keine heftigen Dissonanzen oder komplizierten Rhythmen. Natürlich muss, gerade bei Mozart, der Charakter an jeder Stelle neu untersucht werden und die Mannigfaltigkeit der im Stück enthaltenen Affekte und der damit verbundenen rhetorischen Mittel aufgedeckt werden.
Angesichts dieser Überlegungen lässt sich eine konkrete Tempoangabe andeuten. Siegbert Rampe, der im Zweifelsfall das Tempo eher schneller als langsamer nimmt, schlägt für das Allegro der Sonata facile Viertel=144–152 vor. Auf einem modernen Klavier würde ich maximal Tempo 140, eher noch 136 wählen. „Im Takt spielen“ bedeutete für Mozart jedoch nicht, metronomisch zu spielen, sondern das Grundtempo zu halten. Natürlich müssen die Melodien atmen, die Phrasierung abgeschlossen oder an bestimmten Stellen auch manche Noten minimal vorgezogen werden können, um den jeweiligen Affekt und Charakter plastisch zum Ausdruck zu bringen und einen abwechslungsreichen und dennoch in sich schlüssigen Vortrag zu gewährleisten.
Für den Unterricht ergeben sich zum Beispiel folgende didaktische Überlegungen, um den Schüler an das angemessene Tempo heranzuführen:
Mit der schwierigsten Stelle beginnen: Nach ihr wird sich das Grundtempo des gesamten Stückes richten (müssen).
Mit extremen Tempi spielen: eine extrem langsame einer extrem schnellen Version gegenüberstellen: Dies gibt dem Schüler ein klares Gefühl von dem „zuviel“ oder „zuwenig“ in der Temponahme.
Einzelne Melodiebögen gemeinsam singen: Kann die Phrase nicht auf einen Atem gesungen werden, ist das Tempo vermutlich zu langsam.
Zum Stück mit Impulsen auf dem Taktanfang dirigieren: Wenn die Impulse ins Leere laufen, das heißt der Arm den Schwung unterbrechen muss, weil die Zeit bis zum nächsten Impuls zu lang ist, ist das Tempo wohl zu langsam gewählt.
Zum Stück dirigieren, und zwar mit allen Taktschwerpunkten: Wenn die Dirigierbewegungen zu hektisch werden, ist das Tempo wahrscheinlich zu schnell, es sei denn alle anderen Parameter des Stückes lassen auf eine sehr rasche Ausführung schließen.
Den Harmonieverlauf in Auszügen gemeinsam analysieren: Manchmal werden Harmoniewechsel beziehungsweise harmonische Spannungen übersehen, demzufolge auch zu schnell überspielt und vom Zuhörer schließlich überhört.
Den Schüler den Charakter des Stückes (z.B. anhand der oben aufgeführten Indizien) mit Worten möglichst genau beschreiben lassen: Meistens findet man auf diese Weise automatisch beziehungsweise intuitiv das richtige Tempo.