„Jetzt klingt es so, und du denkst, es geht so weiter – aber es geht anders weiter. Es wird eine Zukunft entworfen.“ (Gerd Zacher, 2005) | Essen, im Juni. – 1968, als die Evangelische Kirchgemeinde Essen-Rellinghausen bei der Berliner Orgelbauwerkstatt Prof. Karl Schuke eine „große Kammerorgel“ bestellt, gilt Ornament noch als Verbrechen. Kirchen sind „Gottesdienststätten“ und werden, wie die Orgeln, „in Dienst gestellt“. Dass man dazu nüchtern zu erscheinen hat, haben protestantische Orgelprospekte immer schon verinnerlicht. Auch die Schuke-Orgel im Essener Süden macht da keine Ausnahme. Umso überraschender die gesteigerte Aufmerksamkeit im 50-Jahr-Jubiläum: Festschrift, Festgottesdienst, Festkonzerte, dazu ein „Kompositionsworkshop für Kinder“. Eine Blütenlese.
„Es wird eine Zukunft entworfen.“ Es hätte die Überschrift sein können, vielleicht sein müssen. Andererseits durfte man froh sein, dass das Wort wenigstens den Aufstieg zum Motto geschafft hatte. So stand es denn, mitsamt Kontext, über dem Programm zum Festkonzert, illuminierte mit schönen Schlagschatten – „1968 / 2018. 50 Jahre Schuke-Orgel in Rellinghausen“ – und leuchtete auf verheißungsvolle Weise selbst. Apropos: Die Beleuchtung jenes künstlerischen Erbes, das mit dem überraschenden Tod Gerd Zachers im Jahr 2014 zur Übernahme frei geworden war, diese Aufgabe hat Matthias Geuting unter den aktiven Zacher-Schülern wie kein Zweiter zu seiner gemacht. Als Zacher-Interpret auf der Orgelbank vermittelt sein Spiel größte Authentizität, verbindet Klarheit und Feuer. Hinzu kommt die Kunst, einem Konzertprogramm Binnenbezug mitzugeben. Letzteres ebenso ein Stück Erbschaft wie ein Nachdenken über Musik, das sparsam ist mit den Worten, aber genau. Wie eben das Gerd-Zacher-Wort von der Zukunft, die nicht passiert, die nicht irgendwie kommt oder auch nicht, die sich nicht ereignet, sondern die entworfen wird. Und zwar auf der Orgel.
Zacher-Pedal
Wie und mit welchen Ergebnissen gehört auch in Sachen Königinneninstrument zu den spannendsten Kapiteln der jüngeren Geschichte des Bündnisses von Komposition und Interpretation. György Ligeti zum Beispiel. In dessen erster Orgel-Etüde „Harmonies“ sollten „fahle, merkwürdig fremdartige“ Klangfarben vorherrschen, was den Widmungsträger dieser 1967 entstandenen Arbeit, was Gerd Zacher auf die geniale Idee eines flexiblen Windes brachte. In Gestalt einer Winddrossel hat ihn die Berliner Orgelbauwerkstatt Schuke dann für Rellinghausen stufenlos regelbar gemacht. – So weit, so gut. Andererseits schien es, als ob sich die Orgelbauer davon einen richtigen Begriff erst noch machen müssen, war doch im Festschrift-Beitrag des Firmenvertreters nachzulesen, dass der Klang durch besagte Drossel „beliebig verfälscht“ werden könne. – Irgendwie spukt es wohl noch immer herum, das Bild, wonach die einen Klänge „richtig“, die anderen leider „falsch“ sind. Was einem Klangerfinder wie Gerd Zacher wohl nur ein müdes Lächeln abgenötigt hätte und was sich an den musizierten Programmteilen auch mühelos überprüfen ließ.
Mit „Szmaty“ (Polnisch für Lumpen) hatte Matthias Geuting ein Zacher-Stück aus dem Jahr 1968 an den Anfang des Festkonzerts gesetzt, das für den politischen Geist jener Jahre symptomatisch war: Kombination aus aufgerauter Außenhaut und latenter Umfunktionierung von Traditionsbezügen. Ganz ähnlich wie die politische Predigt der Zeit ruft das Stück ein Psalmwort auf (das von den verteilten Kleidern: 22,19), münzt den Stoff aber gleich um auf Aktuelles, Brennendes: die Entführung des Komponisten Isang Yun durch den südkoreanischen Geheimdienst. So sehr der Vorgang Geschichte geworden ist – den geschärften Kunstwillen dahinter hörte man noch immer, all die instrumentalen Anspielungen aus den Wortbestandteilen wie mit dem Schmiedehammer herausgetrieben: Schweller-Summen, Registeranschluss-Schallen, Staccatissimo-Spucken, Rauschwerk und Cluster als klangmalerische Anklage fürs angetane Unrecht: Musik, Kunst als Einspruchsinstanz.
Blitz und Donner
Womit umstandslos der Bogen geschlagen war zum Hauptwerk des Festkonzerts, der als Uraufführung präsentierten Kantate „hörst du“ für Sopran und Orgel von Juan Allende-Blin nach dem Paul-Celan-Gedicht „Bei Wein und Verlorenheit“. Eine Arbeit, die im gleichen Maß Betroffenheit hinterließ, wie das Gefühl, eine Komposition spontan verstanden zu haben. Dass Chiffrieren und Dechiffrieren, rätselhaft sein und klar sein in der Kunst keine Gegensätze darstellen, vermittelt die Handschrift des im Februar 90 Jahre gewordenen Komponisten auch in dieser jüngsten Beschäftigung mit dem Werk Celans. Eine Wortkunst, von der sich Juan Allende-Blin zeitlebens hat berühren lassen. Wie auch in diesem Fall. Dass das Stück „dem Andenken der Opfer des Massakers von Ascq am 1./2. April 1944“ gewidmet ist, rückt den für Paul Celan entscheidenden Referenzpunkt ins Zentrum: die Gewalterfahrung des 20. Jahrhunderts.
Das Stück begann leise im Summend-Vorsprachlichen, um sich allmählich in einen Klage-, einen Anklageton zu steigern und zuzusteuern auf eine posttraumatische Nachkriegserfahrung des Dichters: „sie / logen unser Gewieher / um in eine / ihrer bebilderten Sprachen“ – ein Moment, in dem das Stück laut wurde, laut werden musste. Blitz und Donner fielen von der Orgelempore und zwischen Singen und Schreien ward der Spielraum eng. Mit Hasti Molavian, einer jungen iranischen Sopranistin und Matthias Geuting an der Schuke-Orgel hatte diese Kantate ihre denkbar verlässlichsten Anwälte gefunden. Ein Höhepunkt, der freilich umgekehrt auch das Gefälle spürbar werden ließ.
In Sylvano Bussottis 1968 entstandenem „Julio organum julii“ für Sprecher und Orgel begegnete man dem grübelnden Geist von ’68. Eine wild notierte Text-/Musikkomposition ventilierte, variierte ein Lieblingsmotiv der Zeit, wonach das Private politisch ist. Im direkten Gegenschnitt zu „Szmaty“ vermittelte sich freilich eher langatmiges Kreisen. Und dass eben auch die andere Seite von ’68, der Hang zum Innerlichwerden, seine Fortsetzung gefunden hat, war spürbar an „Canticum canticorum“, einem 2017 entstandenen Stück für Sopran und Orgel des texanischen Komponisten Carter Williams, der aus seiner Faszination für Mystisches, für Sufi und Hildegard von Bingen, keinen Hehl macht.
Geerdet erschien demgegenüber ein originär Rellinghausener Kapitel aus dem großen Fortsetzungsroman Prinzip Hoffnung. Dass daran tatsächlich alle mitschreiben dürfen und auch sollen, hat vor anderthalb Jahren zu einer Orgel-Kompositionswerkstatt für Kinder geführt, deren Ergebnisse im Rahmen der Schuke-Festtage präsentiert wurden: Die Titel durch die Bank kindlich, die Musiken mehrheitlich lautmalerisch, worauf es aber nicht ankam. Was vielmehr zählte, war ein Angebot, das Begeisterung weckte, fraglos wegen der glücklichen Verbindung von Weltzugewandtheit und Kreativitätssinn. Das Ganze eine Idee der Kirchenmusikerin Sabine Rosenboom, die sich dafür der Assistenz und Beratung der Essener Komponistin Karin Haußmann versichert hatte. Rekrutiert hatten sich die Rellinghausener Jungkomponisten mehrheitlich aus dem Kinder- und Jugendchor der Kirchengemeinde. Dass insbesondere das Herz der Mentorin für die Sache brannte (und brennt), erklärte sich Karin Haußmann selbst aus dem Umstand, dass ihr „als Kind diese Anlaufstellen und Förderungen dringend gefehlt haben“. In jedem Fall sieht sie eine ganz neue Aufgabe: „Wenn Kinder ein Instrument lernen wollen, ist das kein Problem. Man wendet sich an die örtliche Musikschule oder an Privatlehrer und schon hat das Kind Klavierunterricht oder was auch immer. Mir ist schon klar, dass Kinder, die komponieren, bei weitem nicht in dieser großen Zahl vorkommen, trotzdem ist es ein großes Manko in unserer Unterrichtslandschaft, dass Kompositionsunterricht (nicht Theorie!) fast nicht vorkommt. Was wir hier in Rellinghausen sehen, ist dies: Die Zahl der begabten Interessenten wächst, wenn man erst einmal das Angebot schafft.“ Hat Rellinghausen gemacht. So proletarisch, so bürgerlich es dort zugehen mag – eine Königin hält dort Hof.