Musiktheater oder Oper für Kinder? Es herrscht Uneinigkeit. Sicher ist: Kinder sollen an dieses Genre herangeführt werden. Theatermacher und Intendanten sprechen darüber, als betrete man Neuland, während Komponisten seit Jahren auf Abnehmer warten. Die einen schwingen einmal mehr die pädagogische Keule, während die anderen aus Erfahrung hohen künstlerischen Anspruch propagieren.
Schnawwl, das seit 30 Jahren bestehende Kinder- und Jugendtheater am Nationaltheater Mannheim, gehört wohl zu den Vorreitern darin, das Durchschnittsalter des Opernpublikums durch Heranführung junger Generationen zu senken. Im November 2009 schon fand deshalb in Kooperation mit der ASSITEJ (International Association of Theatre for Children and Young People) und dem Kinder- und Jugendtheaterzentrum dort ein Symposium zu diesem Thema statt. Opernmacher, Kinder- und Jugendtheatermacher, freie Musiktheaterpädagogen, Komponisten, Autoren und Librettisten diskutierten darüber, wie Musiktheater für Kinder – beziehungsweise „Junge Oper“ – aussehen und was es bewirken sollte, ferner wie es zu realisieren ist. Der Schmalspur des Angebots mit Aufgüssen von „Zauberflöte“ und „Hänsel und Gretel“ sollte ein Ende bereitet werden. Das dabei entstandene Mannheimer Manifest resümiert die inhaltliche Arbeit, stellt aber auch Forderungen an Theaterintendanzen.
Doch das pädagogisch grundierte Papier liest sich so, als genüge ein entsprechendes Angebot, um das junge Publikum zu erreichen. Kein Wort über die letzten Elterngenerationen, denen der Zugang zu künstlerischen Ausdrucksformen bereits versagt geblieben ist, die aber das Wahrnehmen des Angebots ihrer Kinder bestimmen – zumindest seitdem Bildungseinrichtungen die Zuständigkeit dafür abgegeben haben. Werden Eltern, die am künstlerisch-kulturellen Leben nicht teilnehmen, ihre Kinder an ein solches heranführen? Erst recht, wenn es sich um zeitgenössische Kompositionen handelt, wie es das Mannheimer Manifest fordert? „Die Eltern sind das Problem, nicht die Kinder“, so die Erfahrung von Peter Marino, der nicht nur Werke für Kinder komponiert hat, sondern auch als Theaterpädagoge und musikalischer Leiter im „Club XM“ der Staatsoper Hannover Kinder- und Jugendprojekte durchgeführt hat. „Die Eltern wissen oft nicht einmal, wie sie sich im Theater benehmen sollen.“
Regine Koch, einst Leiterin der von August Everding gegründeten Abteilung THEATER+SCHULE an der Bayerischen Theaterakademie greift, mit ihrem privaten Unternehmen für Musikpädagogik „cultur_recept“ häufig auf klassische Musikliteratur zurück, um die Elternhürde zu nehmen. An der Theaterakademie hing die Auswahl der Stücke stets von der Intendanz ab, doch fand Koch den Zugriff auf Kinder und Jugendliche direkt über Schulen und Institutionen.
Die Teilnehmer waren dort zudem nicht immer nur Zuschauer, sondern auch Protagonisten, die aktiv an Veranstaltungen teilnahmen, ja sie in regelmäßigen Workshops sogar selbst gestalteten. Ein erfolgreicher Mix, der allerdings den indirekten Everding-Nachfolger Klaus Zehelein nicht weiter interessierte. „Wir haben 14 Jahre Aufbauarbeit in Kartons gepackt und abgestellt“, so das bittere Resümee von Regine Koch. Davor hatten Hellmuth Matiasek Musicals, Vizepräsident Klaus Schultz zeitgenössische Stoffe und Christoph Albrecht bekannte Literatur favorisiert.
Bei diesem Hin und Her kam ein Auftrag zur Kinderoper „Rübezahl“ an Bernhard Weidner (*1965) schließlich nicht zustande. Nun will er sie dennoch realisieren, nicht zuletzt aufgrund des guten Librettos. „Ich bin glücklich darüber, weil es Farbigkeit und Musikalität hat“, sagt der Münchner Komponist, der in Würzburg bei Bertold Hummel und Heinz Winbeck studiert hatte. 2003 arbeitete er erstmals mit der Autorin Sybille Neuhaus überaus fruchtbar zusammen. Für das Kinderkonzert KLONK des A•DEvantgarde Festivals war damals „Glück“ entstanden, eine musikalische Szene für Kinder ab sechs Jahren. Als Dramatikerin und Dramaturgin ist Neuhaus bereit, Hand in Hand mit Weidner zu arbeiten und der Musik sprachlich entgegenzukommen. Etwa 80 Minuten lang soll die neue Kinderoper werden. Mit dem Bedarf an sieben Singstimmen und zwölf Instrumentalisten ist bisher keine Uraufführungsmöglichkeit gefunden. Doch den Umfang, den die Länge und der Facettenreichtum des Stoffes erfordern, könne er nicht reduzieren, betont Weidner.
Ein Punkt, an dem sich die Geister scheiden. Intendanzen und Veranstalter vertreten mit dem Begriff „kindergerecht“ meistens die Ansicht, die Musik müsse anders sein, was dann auf eine Vereinfachung, Verniedlichung und kompositorische Rückständigkeit hinausläuft. Doch weder Hörgewohnheiten noch Vorurteile sind angeboren. Kinder sind vielmehr mit einer kongenialen Empfänglichkeit und Sensibilität für künstlerische Ausdrucksformen ausgestattet. Davon geht auch Weidner aus: „Für mich besteht kein Unterschied zu Erwachsenen, wenn es um den Anspruch an Feinsinnigkeit und Poesie geht.“ Zu entscheiden, was Kindern ästhetisch zugemutet werden kann, sei eine verantwortungsvolle Aufgabe, der er sich jedoch bewusst intuitiv und unideologisch stellt.
„Natürlich schlage ich nicht brachialst zu, aber ich habe da kein Blatt vor den Mund genommen“, sagt auch Helga Pogatschar (*1966). Ihre „Mini-Oper für Kinder und Unerwachsene“, ein szenisches Konzert für eine Stimme und ein Neue-Musik-Sextett unter dem Titel „Maus und Monster“ nach dem Text des renommierten Kinder- und Jugendbuchautors Rudolf Herfurtner, fand viel Zuspruch bei Publikum und Kritikern. Die Kinderjury eines Musikmagazins gab der dazugehörigen CD die volle Punktzahl und kommentierte euphorisch. Und obwohl offenbar Theater nach Stücken für Kinder suchen, findet Pogatschars Werk keine Interessenten.
Die einstige Pianistin nahm zunächst Kompositionsunterricht bei Peter Kiesewetter und Kai Westermann, schnupperte dann in Göteborg in elektroakustische Komposition herein, um schließlich an der Münchner Musikhochschule Komposition für Film und Fernsehen zu absolvieren. Sie gehört gewiss zu den führenden Münchner Avantgarde-Komponistinnen und -Komponisten. Bei „Maus und Monster“ verzichtete sie auf Elektronik und gab sich darin dem „spielerischen Umgang mit Sprache, Sinn, Klangverwandtschaften“ hin. „Klare, einfache Geschichten sind immer gut, wenn sie viel Freiraum zu Entwicklung der eigenen Phantasie lassen“, so ihre Erfahrung mit Musikwerken für Kinder. Sie hat bereits zahlreiche Vertonungen von Kindergeschichten gemacht, die meisten für CDs.
Musik könne sehr viel Wissen transportieren, betont Pogatschar, solange der pädagogische Zeigefinger allenfalls zum Nasebohren verwendet wird. Neben erzählenden Stoffen sagen ihr auch Assoziationsketten oder absurde und paradoxe Inhalten zu. Pogatschar beobachtet bei Kindern einen unbedarften Umgang mit jeglicher Art von Musik. „Wenn es üblich wäre, dass man Oper hört, würden Kinder auch Oper hören“, ist sie absolut überzeugt. Von Richtlinien und Vorgaben, wie sie das Mannheimer Manifest formuliert, hält sie überhaupt nichts. „Komponisten sind nicht blöd“, entrüstet sie sich vielmehr.
Auch Peter Marino hat so seine Probleme mit einem derart dogmatischen Ansatz und dem pädagogischen Grundton. „Dann wird nichts Neues entstehen“, sieht er als Folge. Abgesehen von der klischeehaften und unrealistischen Beschwörung des gleichberechtigten Zusammenwirkens aller Künste – „Regie oder Schauspieler können nicht in den Kompositionsprozess eingebunden werden!“ –, sieht er die Orientierung am Kinder- und Jugendtheater als problematisch an. „Oper ist eine viel komplexere Form“, die zudem mit weit weniger Text auskommen muss. Die Erfahrungen aus dem Theater, das sehr konkret und erklärend werden kann, reichen da nicht aus: „Ich würde grundsätzlicher denken“, empfiehlt er. Dass man an die Erfahrungen von Kindern anknüpfen solle, wundert Marino schon sehr. „Oper knüpfte noch nie an Erfahrungen des Publikums an“, außerdem auf welche Erfahrungen, und wozu? Wichtig wäre es, Kindern das Zuhören beizubringen, damit sie die übergeordneten Inhalte wahrnehmen können. Inhalte aus dem Leben um uns herum, wie es im Sprechtheater möglich ist, seien keine tauglichen Opernstoffe. Das Eingehen aufs Niveau der Kinder wecke noch mehr Skepsis. „Man muss sich davor hüten, dass die Musik einfach sein muss“, konstatiert er aus eigener Erfahrung.
Schon als Kind trieb sich Peter Marino (*1968) auf dem grünen Hügel herum, wurde Statist und hörte unter der Treppe versteckt Wagner-Opern, die für ihn einfach nur Märchen waren. Studiert hat er dann in Würzburg Klavier, Komposition und Orchesterleitung. In Hannover arbeitete er unter anderem an der Staatsoper, wo auch seine Oper „Mutter Bajazzo“ in den Spielzeiten 2007/08 und 2008/09 aufgeführt wurde. Als Teilnehmer der Rheinsberger Opernwerkstatt hat Marino dieses Genre sorgfältig studiert. Aber auch mit Werken für Kinder machte er bereits seine ersten Erfahrungen. „Der gestiefelte Kater“ für ein Bläserquintett, vom NDR auf CD gebannt, wird seit der Entstehung 2004 regelmäßig gespielt. Das Ventus Quintett Salzburg hat bereits ein Nachfolgewerk in Auftrag gegeben: „Die kleine Hexe“ mit dem Text von Ottfried Preußler. Für die gerade entstehende Oper „Richard“, eine mit der Librettistin Iris Winkler gemeinsam ersonnene märchenhafte Geschichte um den pubertierenden Richard Wagner, konnte Marino bisher keinen Abnehmer finden. Zum Glück bekam der Komponist für dieses Projekt, das die Mitwirkung von musikalisch fortgeschrittenen Kindern und Jugendlichen auf der Bühne und im Orchester berücksichtigt, ein Arbeitsstipendium des Kultusministeriums von Niedersachsen zuerkannt. So kann die fantastische Sagenwelt Wagners in die heutige Zeit übertragen und in eine humorvolle Oper verwandelt werden.
Eins bleibt im Mannheimer Manifest unumstritten: „Kinder haben ein Recht auf Teilhabe an Kunst und Kultur.“ In unserer Medien dominierten Zeit sei hinzugefügt, dass dies nur in einem unmittelbaren Live-Erlebnis sinnvoll ist, „weil in diesem Erlebnisraum einfach stärkere und persönlichere Erfahrungen möglich sind“, wie Neuhaus und Weidner formulierten. Aber dass man das Genre erst neu erfinden muss, ist wohl ein Irrtum. Werke für Kinder entstehen schon seit vielen Jahren, kommen aber meistens über eine Uraufführung nicht hinaus. Die Gründe dafür sind vielfältig und beginnen mit dem fatalen Irrtum, dass Kinderproduktionen mit einem geringeren Budget auskommen müssen. Halbherzige Unternehmungen verfehlen aber grundsätzlich ihr Ziel, denn Kinder und Jugendliche haben einen ausgesprochenen Sinn für Qualität.
Es zeigt sich, dass eklatante Differenzen darüber bestehen, was man Kindern heute zumuten kann. Während sie am PC und vor dem Fernseher mit komplexen und oft brutalen Zusammenhängen spielend umgehen, wird in künstlerischen Dingen das Niveau unentwegt zurückschraubt und alles immerzu didaktisch verabreicht. Der dabei geweckte Eindruck von Banalität und Belanglosigkeit ist der Sache gewiss nicht förderlich.