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Das Ensemble Quadro Nuevo trifft auf die Inklusive Band Vollgas aus Fürth. Foto: Max Wagner
Das Ensemble Quadro Nuevo trifft auf die Inklusive Band Vollgas aus Fürth. Foto: Max Wagner
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Wer kann Inklusion?

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Musikhochschule und gleichberechtigte Teilhabe: Eine Spurensuche · Von Irmgard Merkt
Publikationsdatum
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Nichts Geringeres als das: Gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am kulturellen Leben. So will es die Gesetzgebung. Im Prinzip. In der UN-Behindertenrechtskonvention, durch die Bundesregierung im Jahr 2009 ratifiziert, heißt es in Artikel 30, Absatz 1 und 2 recht klar und unmissverständlich: (1) Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen, gleichberechtigt mit anderen am kulturellen Leben teilzunehmen, und treffen alle geeigneten Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen a) Zugang zu kulturellem Material in zugänglichen Formaten haben; b) Zugang zu Fernsehprogrammen, Filmen, Theatervorstellungen und anderen kulturellen Aktivitäten in zugänglichen Formaten haben; c) Zugang zu Orten kultureller Darbietungen oder Dienstleistungen, wie Theatern, Museen, Kinos, Bibliotheken und Tourismusdiensten, sowie, so weit wie möglich, zu Denkmälern und Stätten von nationaler kultureller Bedeutung haben. (2) Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit zu geben, ihr kreatives, künstlerisches und intellektuelles Potenzial zu entfalten und zu nutzen, nicht nur für sich selbst, sondern auch zur Bereicherung der Gesellschaft.

Manches an geeigneter politischer Willenskundgebung ist in den vergangenen 12 Jahren passiert. Die Kanzlerin war mehrfach Hauptrednerin beim Jahresempfang des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.  Jürgen Dusel, derzeit noch eben dieser Beauftragte, hat am 22. Juni 2021 eine bundesweit rezipierte Online-Veranstaltung „Kultur braucht Inklusion – Inklusion braucht Kultur“ in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kulturrat durchgeführt. Die Staatsministerin für Kultur und Medien fördert das Netzwerk Kultur und Inklusion (https://kultur-und-inklusion.net/ zuletzt 15.11.2021) und den Verbund Inklusion, ein Netzwerk von sieben Museen, das multiperspektivisch an Fragen der Öffnung der beteiligten Häuser für Menschen mit Behinderungen arbeitet (https://www.museumspaedagogik.org/projekte/verbund-inklusion zuletzt 15.11.2021).

Ja, es gibt sie, die richtigen Signale und die eine und die andere geeignete Maßnahme von oben, top-down. Artikel 30 Absatz 1 ist dabei leichter umzusetzen als Absatz 2. Rampen, Aufzüge, barrierefreie Homepages, Hinweisschilder, taktile Bodenleitsysteme, Induktionsschleifen und Anderes mehr unterstützen Teilhabe durch Rezeption, Teilhabe durch Teilnahme. Die Maßnahmen kosten „nur“ Geld und sind dann längerfristig und für Viele nutzbar und nützlich. Absatz 2 hingegen stellt sehr viel weitergehende Anforderungen: Teilhabe durch Produktion, Teilhabe durch künstlerische Tätigkeit, Teilhabe als Ergebnis von Bildung und Ausbildung im künstlerisch-kreativen Bereich, Teilhabe durch öffentliche Präsenz von Menschen mit Beeinträchtigung im Kulturbetrieb. 

Wer bildet diejenigen begabten Menschen mit Beeinträchtigung aus, die einen künstlerischen Beruf ergreifen wollen? Wer bildet diejenigen aus, die in pädagogischen Kontexten Freude und Interesse aller Beteiligten an der Rezeptions- und der Produktionsebene der Künste, insbesondere an der Musik wecken? Wer bildet diejenigen aus, die das Prinzip Inklusion in ihrer zukünftigen beruflichen Praxis umsetzen, die Lehrerinnen und Lehrer, die Künstlerinnen und Künstler, die gemeinsamen Unterricht, die gemeinsame künstlerische Projekte von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit weniger und mehr Beeinträchtigungen gestalten? Wer kann eigentlich Inklusion? Der Blick richtet sich auf die Institutionen der Ausbildung für künstlerische und künstlerisch-pädagogische Berufe – und ihre Lehrenden.

Spuren

Wesentliche Merkmale des Selbstverständnisses der 24 Musikhochschulen Deutschlands zeigen sich in den jeweiligen kurzen Selbstbeschreibungen auf der Homepage der Rektorenkonferenz RKM. Eine systematisch-statis­tische Auswertung des Wortschatzes der Selbstbeschreibungen würde zweifellos eine überdurchschnittliche Häufung von Begriffen wie Einzigartigkeit, Exzellenz und Spitzenförderung, Internationalität und Berufsorientierung oder ihrer Synonyma ergeben. Einige wenige Hochschulen verstehen sich zusätzlich bereits auf dieser Ebene als Anwälte auch exzellenter zukünftiger Breitenbildung; die HfMDK Frankfurt am Main etwa „setzt sich mit langfristig angelegten Projekten für die Teilhabe aller Menschen an den Künsten ein“.

„Inklusion“ selbst taucht wenn, dann auf den Homepages der einzelnen Hochschulen auf. Die Unterschiede in der Präsenz des Begriffes zwischen den Hochschulen sind allerdings erheblich. Die Musikhochschule Lübeck hat als eine der Pionier-Hochschulen in Sachen Inklusion auf ihrer Homepage einen eigenen Button Inklusion, dem zahlreiche Informationen hinterlegt sind. Die Abfrage „Inklusion“ über die Suchfunktion der Hauptseite der Hochschule für Musik und Theater München ergibt hingegen zumindest am 18. November 2021 „insgesamt 0 Ergebnisse“. 

Das Mosaik: Lehre und Forschung

Das Netzwerk Kultur und Inklusion hat im Jahr 2019 mit Unterstützung der Kulturministerkonferenz der Länder eine Befragung der künstlerischen Hochschulen zum Thema Inklusion durchgeführt (vgl. Keuchel 2019). Die Ergebnisse sind auf der Homepage des Netzwerks dokumentiert, sie werden hier nicht umfänglich wiederholt. Nur soviel: Die Hochschulen sehen einen großen Informations- und Weiterbildungsbedarf gerade für ihre Lehrenden. Denn: Wer kann Inklusion? Wer hat Wissen und Erfahrung im Unterrichten von Studierenden mit Beeinträchtigung an der Hochschule selbst? Wer hat Wissen und Erfahrung im Unterrichten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Beeinträchtigung, wer hat Wissen und Erfahrung im Unterrichten von inklusiven Gruppen oder Klassen?

Wer könnten die Lehrenden sein? Ja, es gibt sie, Menschen die Sonderpädagogik UND Musik studiert haben und können. Menschen mit einem musikalischen und musikpädagogischen Fachstudium und jahrelanger Erfahrung im Unterrichten von Menschen mit Beeinträchtigung. Menschen mit Musikstudium und Interesse an inklusiv-pädagogischem und inklusiv-künstlerischem Arbeiten. Das Knowhow entwickelt sich bottom-up in der engagierten Praxis. Menschen mit einer solchen Praxiserfahrung UND der Lust auf Vermittlung gehören als Lehrende an die Hochschulen. Aber nicht nur sie: Auch Menschen mit Beeinträchtigung selbst gehören als Mitglieder eines inklusiv orientierten Chores oder Ensembles an die Hochschulen. Lernen für die Berufspraxis heißt Begegnung mit der zukünftigen „Klientel“ auch schon im Studium. Beispiele für diese Praxis sind das Ensemble All Stars Inclusive Band am Institut für musikpädagogische Forschung, Musikdidaktik und Elementares Musizieren (imp) der Musikuniversität Wien oder die Kooperation der Musikhochschule Köln mit der Anna-Freud-Schule, die zu hochrangigen Hochschulkonzerten führt. Der Hochschulwettbewerb Musikpädagogik hat 2012 das Projekt „Wir singen gemeinsam“ der Musikhochschule Detmold ausgezeichnet, in dem Studierende mit Kindern mit und ohne geistige Beeinträchtigung musikalisch gearbeitet haben (https://hwmp.hfmt-koeln.de/preistraegerarchiv/2012-duesseldorf/zuletzt 19.11.2021). Kooperation auf institutioneller und künstlerischer Ebene – das ist eines der unumgänglichen Gebote der Inklusion.

Die Forschung zum Thema Kultur, beziehungsweise Musik und Inklusion findet derzeit überwiegend nicht an den künstlerischen Hochschulen statt, wohl aber im Kontext lehramtbildender und anderer pädagogischer Studiengänge. Der Band Kultur – Inklusion – Forschung dokumentiert unterschiedliche Forschungsansätze, wie sie im Rahmen der gleichnamigen Tagung an der Universität Siegen präsentiert wurden (Gerland 2017); die aktuell erschienene Arbeit von Heidi Zacheja reflektiert nicht nur Bisheriges zum Thema inklusive Musikpädagogik, sondern auch ein Theorie-Praxis-Konzept (Zacheja 2021). An der Hochschule für Musik in Trossingen entsteht derzeit eine mit einem Stipendium geförderte Dissertation „Theater mit Musik – Inklusion im künstlerisch-pädagogischen Kontext“. Die Arbeit untersucht eine Seminarveranstaltung, in der Studierende und Menschen mit Beeinträchtigung gemeinsam künstlerisch aktiv sind (https://www.hfm-trossingen.de/studium/studienabschluesse/julia-wernicke, zuletzt 19.11.2021).

 Das Mosaik wird vielfältiger und bunter – nach wie vor überwiegt die Bottom-up-Arbeit einiger engagierter Personen. Was wäre Top-down zu tun? Was wäre zu tun, um das Thema Inklusion über die Empfehlungen des Netzwerks Kultur und Inklusion von 2019 hinaus zur unaufgeregten Selbstverständlichkeit werden zu lassen? So könnte es erst einmal, Schritt für Schritt, gehen:

  • Die Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen erweitert ihr Aufgabenspektrum im Hinblick auf Lehre, Forschung und künstlerische Entwicklungsvorhaben um den Aspekt der Inklusion
  • Die Hochschulen treten in regelmäßigen Erfahrungsaustausch über ihre jeweiligen Inklusionsvorhaben.
  • Die Wettbewerbe D-BÜ und der Hochschulwettbewerb Musikpädagogik richten eine Kategorie Inklusion ein.

„Wenn Gruppen in den Medien nicht zu sehen sind, dann fehlen ihre Perspektiven“ sagt der Journalist Chiponda Chimbelu, tätig für die Deutsche Welle. Wenn Menschen mit Beeinträchtigungen in den Studiengängen, in Wettbewerben und in den Künsten nicht zu sehen sind, dann fehlen nicht nur ihre Perspektiven, sondern es fehlt auch die Möglichkeit der Entwicklung hin zu einer immer selbstverständlicheren inklusiven Gesellschaft. Exzellenz, Internationalität und einfach Spitze in Sachen Inklusion – wären das nicht auch attraktive Ziele für die Musikhochschulen des Landes?

Literatur und Internetquellen:

  • Gerland, Juliane (Hg.) 2017 Kultur Inklusion Forschung. Weinheim, Basel: Beltz Juventa
  • Keuchel, Susanne (2019) https://kultur-und-inklusion.net/empfehlungen-des-netzwerks-kultur-und-… (Zuletzt 18.11.2021)
  • Zacheja, Heidi (2021) Studierende für den inklusiven Musikunterricht ausbilden. Entwicklung und Evaluation eines Theorie-Praxis-Seminarkonzepts in der Lehramtsausbildung. Münster, New York: Waxmann

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