Am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik hat Michaela Kaufmann untersucht, welchen Einfluss Programmhefte auf das Hörerlebnis haben. Ein Gespräch über Framing, die Bewertung von Musik und den Prestige-Effekt.
neue musikzeitung: Der Begriff Framing ist ja gerade in aller Munde. Jetzt, könnte man sagen, wenden Sie ihn sogar in der klassischen Musik an. Denn mit Ihrer aktuellen Studie haben Sie ja das Framing in Programmhefttexten untersucht, oder?
Michaela Kaufmann: Genau darum ging es uns. Wir haben unsere Studie am sogenannten informierten Hören orientiert. Seit das Konzert selbst ins-titutionalisiert wurde, ist es gängige Praxis, dass es Programmhefttexte gibt. Und mit ihnen die Idee, dass man sich vor dem Hören Wissen über Musik aneignet, durch das man ein tieferes Verständnis der Musik erhält oder einen höheren Musikgenuss erreicht. Das ist eine Art Framing des Hörens. Unsere Grundannahme war, dass das Hören dadurch beeinflusst wird.
nmz: Wie genau haben Sie das untersucht?
Kaufmann: In Programmhefttexte finden unzählige Arten von Informationen Eingang. Etwa über die Biografie des Komponisten, das Werk selbst, seinen musikgeschichtlichen Kontext oder mögliche Interpretationen; sie leiten den Leser anhand einer analysierend-deutenden Beschreibung durch den musikalischen Verlauf. In unserer Studie haben wir uns auf die Untersuchung zweier Aspekte beschränkt: Zum einen interessierte uns der Einfluss des Komponistennamen auf die Einschätzung der Musik. Zum anderen fragten wir, ob verschiedene Arten des Beschreibens von Musik zu unterschiedlichen Einschätzungen der Musik führen. In unserer Studie hörten alle Teilnehmer/-innen den ersten Satz aus einer Sinfonia in Es-Dur von Josef Myslivecek (1737–1781). Während eine Hälfte der Teilnehmer/-innen den korrekten Komponistennamen erhielt, wurde der anderen Hälfte gegenüber behauptet, es handele sich um die Ouvertüre zu Ascanio in Alba von Wolfgang Amadé Mozart (1756–1791). Vor dem Hören lasen die Teilnehmer beider Gruppen zudem einen Programmhefttext. Eine Hälfte der Teilnehmer/-innen las einen Text, der auf lebhafte Weise und mit blumiger Sprache die expressive Bedeutsamkeit der Sinfonia beschrieb, während der Text der anderen Hälfte in musikanalytischer Sprache, möglichst ohne Metaphern, die formalen Eigenheiten darlegte. Danach haben die Teilnehmer/-innen Fragen zu ihrer Einschätzung der Musik beantwortet.
Schreibstile
nmz: Bei den Programmhefttexten stellen Sie die Kategorien „analytisch“ und „expressiv“ auf. Ist das nicht eine künstliche Unterscheidung?
Kaufmann: Die Unterscheidung der Schreibstile basiert auf einer Einteilung des Sprachphilosophen Albrecht Wellmer, der „verstehendes Hören“ als Hören von Musik als strukturelle Zusammenhänge oder Bedeutsamkeit beschreibt. Natürlich ist es eine künstliche Unterscheidung, ein „echter“ Programmhefttext enthält in der Regel beide Elemente. Unsere Texte sind in hohem Maße konstruiert, um Vergleichbarkeit herzustellen.
nmz: Welche Auswirkungen hatte der Schreibstil auf die Bewertung der Musik?
Kaufmann: Auf das Gefallen hatte er einen großen Einfluss. Den Teilnehmer/-innen, die den expressiven Text gelesen haben, gefiel die Sinfonia von Josef Myslivecek besser als denjenigen, die den analytischen Text gelesen haben.
nmz: Wie erklären Sie das?
Kaufmann: Wir haben verschiedene Erklärungsansätze: Zum einen wird durch das lebendige Schreiben eine stärkere emotionale Erregung beim Hörer hervorgerufen. Aus früherer Forschung ist bekannt, dass der Grad an emotionaler Regung beim Hörer ein zuverlässiger Indikator für das Gefallen und den Genuss beim Musikerleben ist. Musik, die uns emotional berührt, gefällt uns tendenziell besser.
Emotionaler Zugang
nmz: Also ist der Hörer nach der Lektüre eines expressiven Textes im Konzert auch stärker emotional involviert?
Kaufmann: Unsere Ergebnisse bejahen diese Frage. Allerdings haben wir die Studie mit nur einem Stück aus dem 18. Jahrhundert durchgeführt, weswegen ich die Ergebnisse nur eingeschränkt generalisieren würde. So wäre etwa zu fragen, ob das für zeitgenössische Musik genauso gelten kann. Es ist gut vorstellbar, dass die Hörer von zeitgenössischer Musik dankbar wären für analytische Informationen zum Aufbau des Stückes, insbesondere wenn sie die Musik nicht kennen. Ich würde vermuten, dass in so einem Fall das analytische Schreiben über Musik zu einem höheren Hörgenuss führen kann. Dieser Frage werden wir mit einer weiteren Studie erst auf den Grund gehen.
nmz: Es kommt also sehr auf die Musik an.
Kaufmann: Ein weiterer Hinweis darauf, dass dieses Ergebnis nicht ohne Weiteres für alle Musik gilt, liefert eine zweite von uns durchgeführte Studie. Dabei konnten wir erkennen, dass der Einfluss der Texte je nach Formteil unterschiedlich stark ausfiel. Die Einschätzung der Exposition zeigte sich stark beeinflussbar, nicht aber die der Durchführung. Eine mögliche Erklärung ist, dass die Exposition formal tendenziell übersichtlicher und musikalisch weniger komplex ist als die Durchführung. In der Durchführung, so die Vermutung, passiert musikalisch bereits so viel, dass sich der Hörer bei der Einschätzung für außermusikalische Informationen weniger empfänglich zeigt.
nmz: Inwieweit würden Sie Ihre Studie als repräsentativ für das Konzertleben bezeichnen?
Kaufmann: Es gibt Aufzeichnungen über das Durchschnittsalter der Konzertgänger heute – das liegt auf jeden Fall höher als unser Durchschnittsalter von 46 Jahren. Uns war es wichtig, Menschen zu erreichen, die selbst schon langjährige Erfahrung als Musikhörer mitbringen, etwa oft ins Konzert gehen und mit der Praxis von Programmhefttexten vertraut sind. Die Frage nach der Repräsentativität ist schwierig. Wir wissen zum Beispiel nicht, wann der durchschnittliche Konzertgänger tatsächlich den Programmhefttext liest, ob das – wenn überhaupt – vor, während oder erst nach dem Konzert der Fall ist. Ebenso wenig können wir einschätzen, für welche Informationen sich der Einzelne besonders interessiert oder wie genau die Texte gelesen werden. Wir planen eine Studie, die diese Fragen beantworten möchte, um besser einschätzen zu können, inwieweit unsere Laborsituation mit der realen Konzertsituation überhaupt vergleichbar ist.
Prestige-Suggestion
nmz: Sie haben in Ihrer Studie auch den sogenannten Prestige-Effekt untersucht. Einer Hälfte der Teilnehmer haben Sie ja gesagt, das ausgewählte Stück sei von Mozart komponiert. Zeigt sich das in den Ergebnissen? Nach dem Motto: Weil Mozart draufsteht, muss es gut sein?
Kaufmann: Unsere Studie hat das relativiert: Wird die Gesamtgruppe der Teilnehmer betrachtet, konnten wir keinen signifikanten Prestige-Effekt finden; den Teilnehmer/-innen in der Mozart-Gruppe hat die Sinfonia also nicht besser gefallen als denen der Myslivecek-Gruppe. Allerdings zeigt die Betrachtung nach Altersgruppen, dass der Komponistenname bei den jüngeren Teilnehmer/-innen zwischen 20 und 35 Jahren sehr wohl einen Einfluss auf das Gefallen übt, nicht jedoch bei den älteren Teilnehmern. Wir vermuten, dass jüngere und eventuell weniger hörerfahrene Teilnehmer/-innen eher eine Art ästhetischen Autopiloten bei ihrer Beurteilung aktiviert haben im Sinne von „wenn es Mozart ist, wird es schon gut sein“, sich also auf das Etikett „Mozart“ verlassen haben.
nmz: Und das ältere Publikum vertraut eher dem eigenen Urteil?
Kaufmann: Es scheint, dass ältere Personen weniger empfänglich sind für Prestige-Suggestion. Existierende Forschung zeigt, dass sich ältere Personen generell weniger von externen Informationen beeinflussen lassen, wenn sie sich ein Urteil bilden sollen. Eine andere Forschungsgruppe konnte zudem zeigen, dass erfahrene Hörer – unabhängig vom Alter – viel eher die in Programmhefttexten angebotenen Interpretationsangebote zugunsten ihrer eigenen Interpretation der Musik zurückweisen. Eine weitere Erklärung könnte dahingehend lauten, dass es in den letzten Jahren im Konzertleben immer gängiger geworden ist, Kompositionen weniger bekannter Komponisten aufzuführen, ohne diese abzuwerten. Wenn das konzerterfahrene Publikum einen Komponisten aus dem 18. Jahrhundert nicht kennt, lässt es sich vom unbekannten Namen heute womöglich weniger beeinflussen.
nmz: Eine letzte Frage: Lesen Sie eigentlich immer das Programmheft, wenn Sie ins Konzert gehen?
Kaufmann: Meistens, ja. Und nach der Studie natürlich noch mal anders.
- Interview: Jesper Klein