Lange, bevor Edwin Gordon in Deutschland als Musikpädagoge wahrgenommen wurde, war er als Musikpsychologe bekannt und galt als Pionier auf dem Gebiet der Begabungsforschung, in der er nicht nur zahlreiche Tests entwickelt hatte, sondern vor allem die Begabungsentwicklung von Kindern untersuchte, angetrieben von der Frage, wie sich das musikalische Denken in Kindern und Jugendlichen entwickle und verändere.
Mit dem statistischen Nachweis einer developmental und stabilized aptitude hatte er Neuland betreten und ist oft missverstanden worden. Einen Großteil seiner wissenschaftlichen Arbeit widmete er dann der Entwicklung einer musikalischen Lerntheorie, zu deren Grundlage er das kognitionspsychologische Konstrukt der Audiation machte – ein Begriff, den er prägte und der sich in der Musikpädagogik allmählich durchgesetzt hat. Sein pädagogisches Interesse galt der Frage, „how we learn when we learn“. Dies beobachtete und analysierte er in der Praxis einer behutsamen musical guidance im Gordon Institute of Music Learning (GIML). So wurde er auch zum Pionier des frühkindlichen Musiklernens. Das 1996 in Freiburg gegründete Gordon Institut für frühkindliches Musiklernen (GIfM) geht auf ihn zurück; ohne ihn wäre die dortige Arbeit in Eltern-Kind-Gruppen nicht möglich gewesen. 2003 wurde eine Gordon Gesellschaft gegründet, die wesentlich zur Verbreitung seiner pädagogischen Ansätze beitrug. Sein Einfluss auf das musikpädagogische Denken ist heute unübersehbar; die lerntheoretischen Einsichten haben die Musikpsychologie ebenso befruchtet wie seine Erkenntnisse der Begabungsforschung.
Edwin Gordon wurde am 14. September 1927 in Stamford (CT) geboren. Er studierte Kontrabass an der Eastman School of Music (Rochester, NY) und promovierte an der University of Iowa über Drake‘s Music Aptitude Test. Als klassischer Kontrabassist ausgebildet, fand er bald den Weg zum Jazz und wurde Bassist der Gene Krupa Band, spielte mit vielen namhaften Jazzmusikern. Die Nähe zum Jazz hat sein musikalisches Bewusstsein maßgeblich geprägt. Ohne die Jazz-Improvisation mit ihrem spezifischen Denken in Musik ist sein Konzept der Audiation nicht vorstellbar. Seit 1958 forschte und lehrte er an den Universitäten in Iowa und Buffalo (NY) und hatte von 1979 bis 1994 den Carl Seashore Lehrstuhl für „Research in Music Education“ an der Temple University in Philadelphia (PA) inne. Nach seiner Emeritierung siedelte er nach Columbia (SC) über, wo er von 1995 bis 2000 als Research Professor an der University of South Carolina wirkte. Während seiner Tätigkeit als Universitätslehrer und Forscher betreute er über 60 Doktoranden und wurde als charismatischer Lehrer zu Vorträgen und Kursen in ganz Amerika sowie nach Europa und Asien eingeladen.
Nach intensiver Forschungs- und Lehrtätigkeit fand er im Alter zurück zur künstlerischen Praxis, allerdings auf einem neuen Gebiet. In seinem Wohnort Columbia richtete er ein Atelier ein, in dem er sich der Bildhauerei und Malerei widmete.
Edwin Gordon ist nach schwerer Krankheit am 4. Dezember 2015 im Alter von 88 Jahren in einem Hospiz in Fort Dodge, Iowa, gestorben.