Frankfurt-Sossenheim und Bremen Osterholz-Tenever haben einiges gemeinsam. Beides sind ehemalige Dörfer, die nun in der Peripherie liegen. An beiden Orten kann man von Hochhausanlagen hinüber auf Fachwerkbauten oder reetgedeckte Ställe blicken. An beiden Orten könnte es passieren, dass sich Eltern im Supermarkt wiedererkennen und sofort ein gemeinsames Gesprächsthema haben: Kostüme nähen für die Stadtteil-Oper.
Orte wie Tenever und Sossenheim gibt es überall. Hier als auch da spielen Sprachenvielfalt und Kinderarmut eine Rolle. Hier werden „bildungsferne“ Zielgruppen evaluiert, hier soll möglichst vielen Aufwachsenden kulturelle Teilhabe ermöglicht werden. Oftmals ist es hier die Schule und nicht das Elternhaus, wo Kinder und Jugendliche die größtmögliche Chance auf Verlässlichkeit haben. Verlässlichkeit ist Grundlage für jede Beziehungsarbeit, diese wiederum Voraussetzung zum Lernen und zu einem vertrauensvollen, gemeinsamen Gestalten. Aus dieser Perspektive betrachtet wird klar, dass an dem reichhaltigen Vermittlungs-Angebot von Kultureinrichtungen, mit dem Schulen konfrontiert werden, oftmals das Wichtigste fehlt: Kontinuität.
Dass Inhalte der kulturellen Bildung mittlerweile auf den höchsten Ebenen diskutiert werden, bringt viel Gutes. Programme wie „Künste öffnen Welten“ ermöglichen Kooperationen zwischen sozio-kulturellen Einrichtungen, Kulturinstitutionen und Schulen – wie die letzte Evaluation zeigt, auch über das Förderende hinaus. Im Diskurs finden sich aber dennoch Erfahrungswerte von Bildungseinrichtungen viel zu selten wieder. Um wen soll es wirklich gehen, wenn wir von Kindern und Jugendlichen als Zielgruppe sprechen? Die Gestaltung der Angebote liegt mehrheitlich bei Kulturinstitutionen – die sich im Gegensatz zu den Schulen vor Ort kaum auskennen. Ein so genanntes „Stadtteil-Projekt“ ist nicht einfach so aus dem Boden zu stampfen, es bedarf jahrelanger Annäherung und Identifikation. Nur wer die Bedingungen vor Ort kennt und den Kontakt zu allen Akteuren gleichermaßen sucht, kann einen Unterschied machen. So wie in Sossenheim, wo eine Grundschule diese besondere und einmalige Rolle spielt. Unterstützt durch außerschulische Partner und Gast-Künstler stemmte das Kollegium ein nicht nur für die Ressourcen einer Grundschule höchst ambitioniertes Vorhaben: eine Stadtteil-Oper.
Idee und Umsetzung
Die erste Stadtteil-Oper entstand 2009 im Zukunftslabor, einer Initiative der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Das Orchester probt in eigenen Räumlichkeiten in der Gesamtschule Bremen-Ost und ist im Stadtteil dank dieser ungewöhnlichen Wohngemeinschaft schon mehr als zehn Jahre zu Hause. Bis zu 600 Schüler/-innen und Lehrkräfte, Bewohner, Engagierte des lokalen Vereinslebens und natürlich die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen mit Solisten und Gastkünstlern bringen alle ein bis zwei Jahre eine Stadtteil-Oper auf die Bühne. Künstlerischer und pädagogischer Anspruch, ergebnisorientiertes und prozessorientiertes Arbeiten sind hier keine Widersprüche, sondern bedingen sich gegenseitig. Letztendlich ist es diese Haltung, die das Prinzip der Stadtteil-Oper übertragbar macht – nicht die Größe ist entscheidend, und schon gar nicht die notwendige Unterstützung eines ganzen Orchesters. Gepaart mit Entrepreneurship und Mut können aus dieser Haltung heraus für jeden anderen Ort neue Lösungen entwickelt werden.
Ergebnisorientiert sind die Aufführungen, die eine breite Öffentlichkeit im Stadtteil selbst ansprechen und im besten Falle überregional aufmerksam machen; die aber auch für die Beteiligten ein wichtiges Ziel darstellen. Prozessorientiert ist alles, was zu diesen Aufführungen hinführt und was ihre besondere Qualität ausmacht. Bei einer Stadtteil-Oper ist zu Beginn kein fertiges Stück vorhanden, vieles entsteht mit und für die Beteiligten. „Sehnsucht nach Isfahan“ wurde 2015 auf Interessen, Möglichkeiten und Bedürfnisse der Beteiligten in Bremen zugeschnitten. Die Akteure in Sossenheim haben die musikalische und szenische Beteiligung altersgerecht und auf ganz eigene Weise umgesetzt. „Sehnsucht nach Isfahan“ ist eine klassische Pasticcio-Oper: Neue Texte von Adnan G. Köse unterlegt von bereits existierende Musik. Musik, die sich aufgrund ihrer Struktur leicht und im Sinne des Werkes bearbeiten lässt, und die gleichermaßen eine Herausforderung für Schüler/-innen und Profis darstellt. Denn eines ist klar: Eine Stadtteil-Oper wird für alle gemacht, auch für die beteiligten Künstler. Mit einer Auswahl von Musik Georg Friedrich Händels gelang es, den scheinbaren Widerspruch zwischen Laien und Profis auf der Bühne aufzuheben. Anspruchsvolle Arien oder Instrumentalwerke, die nur von den professionellen Musikern und den Solisten gespielt werden, stehen unmittelbar neben Stücken, deren Bearbeitungen durch Kinder- oder Sprechchor, Schulorchester oder Choreographien erweitert sind.
Die schlichte Sarabande d-Moll HWV 437 beispielsweise fungiert als eine Art Leitmotiv. In Bremen war sie eine Herausforderung für Streicher- und Bläserklassen. In Sossenheim, wo keine Schüler mit Instrumenten beteiligt waren, diente das Stück als Vorlage für Tanzeinlagen der 3. und 4. Klassen. Und beide Male waren virtuose, stilistische Variationen auch Momente der professionellen Musiker, die das Klangeschehen immer wieder unterstützend auffingen und dafür sorgten, dass sich die musikalische Beteiligung der Schüler bestmöglich entfalten konnte. Individuell auf die jeweiligen Bedürfnisse einzugehen, heißt oftmals, den Schwierigkeitsgrad anzupassen. Da in Sossenheim dank des Programms „Primacanta – jedem Kind seine Stimme“ ab der 1. Klasse Stimmbildung Teil des Musikunterrichts ist, konnte der Part des Kinderchores beispielsweise anspruchsvoller gestaltet werden als in Bremen. Für alle teilnehmenden Schüler/-innen gilt: Die Inhalte (musikalische und szenische Darstellung, Kunst, aber auch historische Hintergründe, Naturwissenschaften und gesellschaftliche Themen) werden geschickt in den Lehrplan eingearbeitet und gemeinsam während des Unterrichts erarbeitet.
Eine Thematik, die verbindet
Das Thema der Oper ist mit der Geschichte des persischen Universalgelehrten Ibn Sina so gewählt, dass generationenübergreifendes Arbeiten im Stadtteil möglich ist. Damit die Produktion eine Eigendynamik entwickeln und von alleine Gesprächsthema werden kann, sind die Handlungsmomente so angelegt, dass sie für verschiedenste Altersstufen relevant sind und Anknüpfungspunkte für unterschiedliche Lebenswelten bieten. Die Story verbindet die abenteuerliche Reise des jungen Ibn Sina mit der Frage, welch wichtige Rolle die Freiheit für Lernen und Lehren spielt. Allein die Tatsache, dass die historische Figur des Ibn Sina hierzulande nur wenigen Menschen bekannt ist, in der arabischen und persischen Welt aber enorm geschätzt wird, ist ein Türöffner. Aus Sossenheim wurde berichtet, dass zwar wenige Eltern mit dem Genre „Oper“ etwas anzufangen wussten, bei einigen aber die Identifikation mit der Hauptperson sehr stark war. Elternarbeit ist gerade für Grundschulen essentiell, und das Engagement der Elternschaft bei der Stadtteil-Oper in Sossenheim war laut Schulleiter Ulrich Grünenwald überraschend gut: „Es hat mich sehr gefreut, dass wir auch solche Eltern erreicht haben, die sich sonst eher nicht so sehr beteiligen“. Wenn es der Schule mit eigenen Mitteln gelingt, Eltern in kulturelle Projekte zu involvieren, die sonst vor dem Besuch eines Elternabends zurückschrecken, ist dies eine enorme Leistung.
Im Volkshaus Sossenheim war neben den Solisten und Musikern die gesamte Schule an den Aufführungen am 17. und 18. Mai beteiligt. Kostümbild, Maske, Catering und Logistik sowie ein Projektchor lagen in der Verantwortung von Kollegium, Eltern, ehrenamtlichen Helfern und des Kultur- und Förderkreises Sossenheim, der gleichzeitig auch als Veranstalter in Erscheinung trat. Die jüngsten Beteiligten, die Kinder der 1. und 2. Klassen, besetzten die vorderen Reihen im Publikum, waren aber in geschickt gewählten Zeitabständen aktiv ins Bühnengeschehen eingebunden. Als Szenerien auf dem Bühnenhintergrund dienten Projektionen von Arbeiten, die bei der Beschäftigung mit der Handlung im Unterricht entstanden waren. Hier wurde ersichtlich, wie intensiv sich die Schüler mit der Handlung und der Entwicklung der Charaktere auseinandergesetzt hatten. Es war nicht die erstaunlich detaillierte Landkarte oder die geschickt skizzierte Karawane, die überraschten. Vielmehr waren es Bilder, Collagen oder kurze Stop-Motion-Filme, die deutlich machten, auf welch emotionale Weise die Kinder die Handlung verarbeitet hatten. Welche Bedeutung hat es, wenn eine jahrhundertealte Bibliothek voll handgeschriebener Rollen und Bücher verbrannt wird? Was bedeutet es für Ibn Sina, der hier Schüler unterrichtet hat? Was bedeutet es für diese Schüler? Hier spiegelt sich in einem einzigen Augenblick der Aufführung ein Zusammenspiel aus dem, was die Profis musikalisch zum Klingen bringen und dem, was die Schüler in monatelanger Arbeit entwickelt haben. Ein starker Moment, in dem völlig irrelevant wird, wer auf welchem handwerklichen Niveau unterwegs ist. Die Mittel sind richtig gewählt, und es entsteht ein völlig überzeugender, ausdrucksstarker Gesamteindruck.
Gelingensbedingungen und Herausforderungen
Das Projekt in Sossenheim zeigt deutlich, dass eine enge Zusammenarbeit mit der Schulleitung unbedingt notwendig ist – diese muss hinter dem Vorhaben stehen. „Die Kollegen haben es wirklich alle mitgetragen, mit unterschiedlicher Intensität, wie das eben so ist. Aber nach der Aufführung waren alle begeistert, was wir im Laufe dieses Jahres auf die Beine gestellt haben, was die Schüler geschafft haben“, so Schulleiter Ulrich Grünenwald. Das erfahrene Produktionsteam, angeleitet von Anne Rumpf, mit den Gästen Sabine Fischmann (Szene) und Markus Neumeyer (Musik) ist Bindeglied zu außerschulischen Kooperationspartnern. Hierzu gehört neben Einrichtungen im Stadtteil auch das mittlerweile der Landesmusikakademie Hessen übertragene Programm „Primacanta – jedem Kind seine Stimme“.
Anne Rumpf ist sowohl als Musikpädagogin an der Henri-Dunant-Schule als auch im Rahmen der Lehrerausbildung an der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst tätig. Sie erhofft sich, dass Schnittstellen zur Ausbildung an Hochschulen verstetigt werden und dass in Zukunft „Studierende der künstlerischen und pädagogischen Studiengänge gleichermaßen involviert sein könnten“. Studierende füllten die Solopartien und bildeten das Kammerensemble, unterstützt von zwei Musikern der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Wichtig für solch ein Projekt ist auch der langsame, stetige Aufbau schuleigener Routinen: Anne Rumpf kam 2010 bereits an eine musikalisch vorgeprägte, aktive und offene Schule. Schulübergreifenden Konzerten folgten immer größer werdende Theaterproduktionen, bald auch mit Gastmusikern. Dank der Verortung im Unterricht nehmen alle Schüler der Henri-Dunant-Schule im Laufe ihrer Schulzeit an mindestens einer Musiktheaterproduktion teil.
Das besondere an einer Stadteil-Oper sind keinesfalls nur bewegende Aufführungen. In der Kommunikation ist es besonders wichtig, den Prozess hinter dem Bühnengeschehen sichbar und erfahrbar zu machen, Entwicklungsmöglichkeiten der Beteiligten und gesellschaftliche Relevanz zu thematisieren. Dies ist besonders auch im Hinblick auf die Finanzierung und die Gewinnung von Sponsoren nötig. Schulen hätten zwar per se den Auftrag, kulturelle Bildung zu leisten, aber kein Budget für derartige Projekte, kritisiert Anne Rumpf. Inwieweit das Dezernat für Integration und Bildung Frankfurt die Idee eines wachsenden kontinuierlichen Angebots weiterhin finanziell unterstützen kann und wird, ist offen. In der Frage der Finanzierung liegt die eigentliche Herausforderung eines solch komplexen Unterfangens: sich kontinuierlich weiterentwickeln zu dürfen, den Beteiligten keine einmalige, sondern eine regelmäßige Chance zu geben. Eine Chance, Beziehungen aufzubauen.
Nur durch Wiederholung können Akteure vor Ort herausfinden, was Sinn und Mehrwert stiftet. Ulrich Grünenwald spricht von sogenannten „Splittern“, die im Stadtteil zu finden sind – zum Beispiel Begegnungen von Menschen, die trotz unterschiedlicher Hintergründe plötzlich Gesprächsthemen finden. Der Anspruch, die Motivation und das Engagements aller Stadtteil-Oper-Beteiligten, diese Splitter nach und nach weiter zusammenzufügen, ist groß. Es bleibt zu hoffen, dass dieses ungewöhnliche Modell zahlreiche Unterstützer findet, die sich diesem Gedanken tatkräftig anschließen.