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Wo Picasso und Bacon auf Bartók und Boulez treffen

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Moderne zum Anfassen: Sechs Beispiele wie man in Luzern Neue Musik aufführt · Von Andreas Kolb
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Als Intendant Michael Haefliger vor sieben Jahren – 52 Jahre nach dem legendären Gründungskonzert Toscaninis in Luzern-Tribschen – die Internationalen Musikfestwochen Luzern in Lucerne Festival umbenannte, betrieb er damit nicht nur Namenskosmetik. Unter seiner Federführung hat sich das Festival in herausragender Weise dem zeitgenössischen Repertoire angenommen. Haefliger und der zuständige Dramaturg für die Moderne, Mark Sattler, denken bei der Programmgestaltung von Beginn an immer auch an die Vermittlung – Ziel ist es, die gewohnte Form des bürgerlichen Musikkonzertes weiter zu entwickeln. 2004 konnte dann die Lucerne Festival Academy unter der künstlerischen Leitung von Pierre Boulez aus der Taufe gehoben werden. Dem Lucerne Festival gelingt damit der Spagat, ein glanzvolles Repräsentationsfestival und gleichzeitig ein Mekka für die Moderne zu sein. Auch in diesem Sommer gab es wieder bemerkenswerte Beispiele progressiver Vermittlung zeitgenössischer Musik.

Konzertvermittlung beginnt bei der Auswahl der Künstler: Lädt man den Dirigenten Sir Jonathan Nott als Artist étoile – wie 2007 geschehen – ein, dann verbindet er schon in seiner Person in idealer Weise Tradition und Moderne sowie Musik mit der Kunst ihrer Vermittlung. Nott war von 1997 bis 2002 Chefdirigent des Luzerner Festspielorchesters und 2000 bis 2003 Chef des Ensemble Intercontemporain. So fanden sich in den Programmen mit seinen Bamberger Sinfonikern Wagners Rheingold genauso wie Werke von Isabel Mundry, György Ligeti und Peter Eötvös. Konzertvermittlung heißt für Nott auch unorthodoxe Programmkonzeption: Mit Richard Strauss’ Alpensinfonie nahmen er und die Bamberger zum Beispiel Kinder und Jugendliche aus dem Kanton Luzern mit auf eine musikalische Alpenwanderung, das Publikum im Late Night Konzert dagegen setzte sich – ganz dem Programm mit Holsts „Planeten“ und John Williams Star Wars-Epos entsprechend – hauptsächlich aus Trekkies und Star Wars-Fans zusammen. Diesen empfahl sich Nott als unterhaltsamer Moderator und profunder Star-Wars-Kenner.

Karlheinz Stockhausens „Gruppen“, einer der Klassiker der Moderne, was Rauminszenierung anbelangt, stand im Mittelpunkt eines Konzertes des Academy-Orchesters. Boulez, der im März 1958 die Uraufführung zusammen mit dem Komponisten und Bruno Maderna dirigiert hatte, beließ es nicht bei einer einmaligen „konventionellen“ Aufführung durch drei Dirigenten und drei Orchester. Die drei Orchester führten das halbstündige Werk an einem Abend zweimal auf, einmal dirigiert von Teilnehmern des Dirigier-Meisterkurses von Peter Eötvös, einmal von den Meistern selber: Peter Eötvös, Jean Deroyer und Pierre Boulez. Unterbrochen war dieses vergleichende Hören durch ein Podiumsgespräch mit Boulez, Eötvos und der Stockhausenforscherin Imke Misch unter der Moderation des DRS-Redakteurs Andreas Müller-Crepon.

Anekdoten über die Uraufführung und Informationen zur Komposition verschafften dem Publikum einen authentischen Einblick in das Werk, seine Geschichte, seine Bauweise und die daraus resultierenden Besonderheiten der Aufführung. Zu bestaunen waren neben Stockhausens „Gruppen“ – die immer dann am faszinierendsten klingen, wenn Stockhausen den strengen Serialismus für kurze Zeit außer Kraft setzt und seiner Intuition folgt – drei junge Dirigenten: Hsiao-Lin Liao, Pablo Heras-Casado und Kevin John Edusei führten das Orchester sicher und inspiriert durch Raum und Klang. Souverän auch das in drei Mal 40 Musiker geteilte Academy-Orchester – hier waren die zukünftigen Botschafter der Moderne bereits zu hören.
Wieder eine andere Form der Musikvermittlung praktizierte Boulez bei der Aufführung von „Sur Incises“ für drei Klaviere, drei Harfen und drei Schlagzeuge durch ihn und Studenten der Festival Academy. (Siehe DVD-Rezension „Tonsetzer, filmisch in Szene gesetzt“ nmz 7/8-07) Auf Anfrage von Bruno Maderna schrieb Boulez 1994 das Klavierstück „Incise“ für den Klavierwettbewerb concours Umberto Micheli à Milan. Bevor das Stück erklang, erläuterte er wie er dann zwei Jahre später die Paraphrase beziehungsweise Erweiterung „Sur Incises“ komponiert hatte.

Noch einmal vollzog er vor dem Auditorium nach, was ihn zu der nicht alltäglichen Besetzung von drei mal drei „ausklingenden“ Instrumenten Klavier, Harfe und Schlagzeug motivierte. Aus einem Klavier machte er zunächst drei, inspiriert von Strawinskys Concerto für zwei Klaviere solo. „Noch nicht sehr originell“, dachte Boulez und ergänzte die Klaviere um die Kombination mit Harfe. Auch hier brauchte Boulez drei Instrumente, unter anderem auch deshalb, damit die Harfen schnell genug chromatisch spielen konnten. „Das war nicht genug, und ich dachte jetzt an die Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug von Bartók, wo dieser die Klaviere mit Schlagzeug oder Pauken oder Xylophon kombiniert“. Boulez nahm also drei Schlagzeuger, die Instrumente mit Tonhöhe spielten. Jetzt konnte er wunderbar abwechslungsreich zwischen den Ensembles kombinieren: vom homogen Klang bis zu den unterschiedlichsten Kombinationen. Boulez erfand für „Sur Incises“ das Format Trio gewissermaßen neu. Eine Vorgehensweise, die Boulez seit jeher auszeichnet: Er komponiert nicht für Ensembles, er formt die Ensembles nach seinen kompositorischen Ideen. „Incises“, das meint wörtlich übersetzt Intarsien. Unter diesen Einlegearbeiten verstand Boulez schnelle Motive, die in eine Textur eingestreut sind. Wie er diese schnellen Passagen vergrößert, ausweitet und mit seinem dreifachen Instrumentarium ganz anders zum Klingen bringt als bei der ursprünglichen Klavierfassung, das demonstrierte er bei einem ausführlichen Vortrag im vollbesetzten Luzerner Saal.

Musikvermittlung ist Programmgestaltung: Pierre-Laurent Aimard, neben Jonathan Nott der zweite Artist étoile dieses Luzerner Sommers, hat etliche der waghalsigen Etüden György Ligetis uraufgeführt. Seine Ligeti-Konzert-abende sind legendär. Fürs Lucerne Festival programmierte er einmal anders: Zwischen sechs ausgewählten Etüden Ligetis platzierte er welche von Debussy, Chopin, Rachmaninow, Liszt, Messiaen, Bartók und Skrjabin: die Ligetischen Fingerübungen erschienen so in neuem Licht, konnten aus ganz anderer Perspektive gehört werden. So kann Musikvermittlung ohne ein einziges Wort der Erklärung funktionieren.

Noch ein Konzert verdient unter dem Vermittlungsaspekt besondere Erwähnung: Pablo Picasso und Francis Bacon haben sich realiter nie getroffen. Peter Fischer, Direktor des Kunstmuseums Luzern, brachte die Künstler in einer Ausstellung des Kunstmuseums Luzern gewissermaßen erstmals zusammen. Eine Begegnung, die auch Katharina Rengger, Leiterin der Lucerne Festival Academy, zu einem Konzert ihrer Akademisten im Kunstmuseum inspirierte. Die jungen Musiker spielten in diversen Kammerbesetzungen Werke von Béla Bartók, Sandor Veress, György Ligeti vor den Bildern von Bacon und Picasso. Raus aus dem Konzertsaal – hinein in neue, unübliche Aufführungsräume, wo sich plötzlich ein anderes Publikum einfindet, auch das ist moderne Musikvermittlung.

Als letztes Beispiel mag der öffentliche Meisterkurs von Peter Eötvös an der Musikhochschule Luzern dienen. Wie jedes Jahr nutzten Konzertbesucher die Möglichkeit eines derart intimen Einblicks in die Werkstatt eines Komponisten. Eötvös probte mit den Luzerner Studenten sein Kammermusikwerk. Spielweisen neuer Musik kennen lernen, jüngere Musikgeschichte hören, das Entstehen eines Kunstwerks während der Proben hautnah verfolgen, sowie die Möglichkeit persönlicher Gespräche mit Interpreten und dem Meister waren weitere Beispiele, was die Vermittlung Neuer Musik heute alles sein kann.

Die beschriebenen Varianten von Musikvermittlung sind jede für sich genommen nicht spektakulär. In Anbetracht der Sperrigkeit neuer Musik und der beinahe selbstverständlichen Verflechtung von Werk und dazugehöriger Vermittlungs- und Präsentationsidee ist das Ganze der Luzerner Musikvermittlungspraxis mehr als die Summe seiner Teile.

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