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Zeitgenössische Musik bewegt

Untertitel
Plädoyer für einen vorurteilsfreien Umgang mit Neuem in der Musikpädagogik
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Mit dem Begriff „Zeitgenössische Musik“ werden unterschiedlichste musikalische Strömungen der ernsten, klassischen Musik ab zirka 1910 bezeichnet. Das sich ablösen von tradierten Kompositionstechniken und Klängen war und ist das erklärte Ziel ihrer Vertreter. Viele Strömungen innerhalb des Genres führen dazu, dass es auch zahlreiche Bezeichnungen gibt. Ich beschränke mich in diesem Artikel auf die Begriffe „Neue Musik“ und „Zeitgenössische Musik“. Diese Bezeichnungen berücksichtigen die verschiedenen Strömungen und Ästhetiken.

Durch die Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Musik als praktizierende Musikerin sowie durch Musik und Bewegung, erfuhr ich eine emotionale Begeisterung für dieses Genre und beschäftige mich seither intensiv mit dieser Zeitkunst. Noch vor meinem Studium im Fach Musik und Bewegung konnte ich auf Anhieb nicht nachvollziehen, welche Motivation die Komponist*innen dazu geführt hat, frei vom Melodiegedanken tonale Strukturen in tradiertem Kontext nicht mehr zu verwenden und dabei andere Parameter wie Tonhöhe, Dynamik, Rhythmus oder Klangstruktur in den Mittelpunkt zu rücken.

Dem Fach Musik und Bewegung, in seinem Ursprung auch Rhythmik genannt, liegt im Kern die Wechselwirkung der beiden Parameter Musik und Bewegung zu Grunde. Der Körper fungiert als Instrument, kann Musik sichtbar machen oder ihr etwas entgegenstellen. Außerdem kann die Bewegung durch verschiedene Instrumente in Musik übersetzt und hörbar gemacht werden. Diese Wechselwirkung ist auch Grundlage für die künstlerisch-pädagogische Arbeit in Musik und Bewegung mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.

Im Gespräch mit Kolleg*innen aus den Bereichen Musikschule, Grundschule und auch der Hochschule stieß ich immer wieder auf Vorurteile gegenüber der Vermittlung Neuer Musik. Auch in der Fachliteratur stößt man auf vermeintliche Problemstellungen im Vermittlungskontext der Zeitgenössischen Musik. Mit einigen dieser Vorurteile möchte ich nachfolgend aufräumen:

„Grundschulkinder interessieren sich nicht für Neue Musik.“

Schon 1980 machte Hans Günther Bas­tian darauf aufmerksam, dass aus der Tatsache, dass Neue Musik nicht im Rezeptionskatalog der Schüler*innen auftaucht, keine einseitigen Fehlschlüsse gezogen werden dürfen. Denn wie soll man sich für bestimmte Genres interessieren, die einem nicht bekannt sind! Die Präferenz für eine bestimmte Musikrichtung ist auch das Resultat eines Lern- und Erfahrungsprozesses, den es durch uns Dozent*innen und Musiklehrpersonen in Gang zu setzen gilt. Damit Kinder positiv über zeitgenössische Musik urteilen können, brauchen sie die Möglichkeit, selbst zu experimentieren, zu improvisieren und zu gestalten.

„Durch Musik aus den aktuellen Charts sind die Schüler*innen innerhalb des Unterrichts motivierter, da sie in ihrer persönlichen Erlebniswelt abgeholt werden.“

Populäre Musik ist gewiss oft einfacher zu vermitteln, da sowohl Leh­rer­*innen als auch Schüler*innen oftmals bereits einen Zugang zu dieser Musik haben. Meiner Meinung nach liegt unser Berufsauftrag jedoch nicht nur darin zu bedienen, was schon bekannt ist, sondern auch Horizonte zu erweitern, neue Reize zu schaffen, einen möglichst breiten Erfahrungsschatz anzulegen und dabei die Offenohrigkeit der Kinder so lange wie möglich zu fördern und somit zu erhalten. Diese Offenohrigkeit gegenüber allen Musikstilen, die bis in die ersten Grundschuljahre reicht, wurde von Gabriele Schellberg und Heiner Gembris in ihrer Offenohrigkeitsstudie von 2007 nachgewiesen.

Mittlerweile ist zu beobachten, dass die aktuelle klassische Musik, die sogenannte Zeitkunst in musikalischem Sinne, nur von einer Minderheit gespielt beziehungsweise gehört wird. Für all diejenigen, die im pädagogischen Kontext mit Musik arbeiten, ist folgende Frage ein wichtiger Denkanstoß: Ist es nicht eine schöne Vorstellung, sich mit der Musik der Komponist*innen aus der heutigen Zeit zu befassen, die mit den gleichen gesellschaftlichen und politischen Einflüssen konfrontiert sind wie wir?
Denn es liegt nicht an den Kindern, dass Zeitgenössische Musik nicht in ihrem Rezeptionskatalog vorkommt, sondern am stiefmütterlichen Umgang in Bezug auf die Vermittlung Neuer Musik.

„Neue Musik ist so willkürlich.“

Im Gegensatz zu Musik aus anderen Epochen hat zeitgenössische Musik keine generelle Grammatik, an der man sich orientieren kann, das stimmt. Es besteht aber die Möglichkeit musikalische Werke einzuordnen. Stefan Fricke und Susanne Laurentius haben zusammen mit dem Deutschen Musikrat und dem Deutschen Musikinformationszentrum einen Artikel zu elf Ästhetiken und Klangströmungen Zeitgenössischer Musik herausgegeben. Ich werde nachfolgend kurz einige der wichtigsten Strömungen und Ästhetiken für das Fach Musik und Bewegung erläutern:

In der Kategorie „Klang-Ränder“ geht es den Komponist*innen darum, die extremen Polaritäten des Klanges sowie die Tiefenstrukturen im Klang zu erfassen und auszureizen.
Bei der Strömung „Klang-Körper“ wird die Tatsache, dass Musik spürbare Bewegung ist, mit in die Komposition eingebracht. Außerdem werden neue Spieltechniken tradierter Instrumente entwickelt. Die Ästhetik der „Klang-Spiele“ beinhaltet vor allem das große Feld der Improvisation, die eine Fokussierung auf den Klang als eigenständiges Material unter Berücksichtigung sozialer Aspekte vorsieht. 

Die Zuordnung eines Musikstückes zu einer Strömung oder Ästhetik erfolgt individuell. Ein Werk kann dabei mehreren Strömungen und Ästhetiken zugeordnet werden.

„Neue Musik versteht sowieso niemand.“

Diese Aussage gründet vor allem in fehlender Beschäftigung oder auch Möglichkeit der Auseinandersetzung mit dieser Tonkunst. Beschäftigt man sich beispielsweise mit den Musiklehrmitteln der Grundschule, stellte man schnell fest, dass ganz selten Werke der Zeitgenössischen Musik darin enthalten sind. Mit viel Glück stößt man neben Béla Bartók und Modest Mussorgski als späteste Vertreter noch auf John Cages 4’33’’. Es gibt folglich gerade für Grundschullehrer*innen keinen Leitfaden für die Arbeit mit Neuer Musik. Und so ist es auch bei vielen Musiklehrkräften im Bereich Musik und Bewegung bzw. Elementarer Musikpädagogik. Es bedarf dringend einer Steigerung der Wertigkeit dieses Genres in der Ausbildung von Grundschul- und Musiklehrkräften von Seiten der Hochschulen.

„Neue Musik kann ohne gesellschaftlichen, historischen oder auch politischen Wissenshintergrund nicht gehört und verstanden werden.“

Auf dieses Vorurteil stößt man oft in älterer Fachliteratur der Musikpädagogik und Musikwissenschaft. Es führte dazu, dass Neue Musik erst mit Schüler*innen der höheren Schulstufen behandelt wird, weil diese kognitiv fähig sind, die außermusikalischen Zusammenhänge zu erfassen. Diese Aussage hält sich bis heute hartnäckig. Aber was bedeutet Verstehen überhaupt? Verstehen bedeutet laut Wilfried Gruhn das Durchdringen von Inhalten sowie das Erfassen von Aussagen. Diese Art des Verstehens besteht dabei aus dem rationalen und dem emotionalen Verständnis.

Ersteres beinhaltet die Fähigkeit des Entschlüsselns von gesendeten Zeichen. Zweiteres bedeutet, dass man sich einfühlen und einverstanden sein kann. In ästhetischen Bereichen ist das emotionale Verständnis allerdings viel höher gesetzt als im Bereich der sachlichen Informationsvermittlung. Die Flüchtigkeit von Musik hat zur Folge, dass Musik nicht physisch greifbar und somit auch nicht direkt begreifbar ist, was den hohen Stellenwert des emotionalen Verständnisses erklärt. Verstehen beruht auf Erfahrungen, das heißt man vergleicht alles Neue mit schon gemachten Erfahrungen. Ohne diese Erfahrungen und Eindrücke kann kein Verstehen zustanden kommen. Als Instrumentalist*in findet die erste Begegnung mit Zeitgenössischer Musik oft auf rationaler Ebene statt, da man sich meist zu Beginn mit dem detaillierten Notentext beschäftigt. So ist es oft auch bei Schüler*innen weiterführender Schulen, die sich meist anhand detaillierter Analysen mit Zeitgenössischer Musik beschäftigen und so eher Schwierigkeiten haben, einen emotionalen Zugang zu finden. Dem liegt vor allem folgendes Problem zu Grunde: Je intensiver der Umgang mit dem Detail, um so geringer die emotionale Beteiligung. Im Umkehrschluss daraus gilt, je stärker die ganzheitliche Wahrnehmung, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit sich angesprochen und mitgenommen zu fühlen.

Wilfried Gruhn beschreibt mehrere Verstehensschichten eines Musikwerks. Insgesamt gibt es drei dieser Schichten, die inhaltlich immer detailreicher werden. Ich möchte hier vor allem auf die erste und für mein Anliegen wichtigste Schicht eingehen – die Außenschicht. Bei dieser geht es um den Vollzug tonlicher Gesten. Diese beziehen sich dabei auf den Ausdrucksgehalt von Musik. Während man ein Musikstück hört, werden diese Ausdrucksgesten innerlich nachgebildet und man erlangt ein Gefühl der Bewegtheit, entwickelt also Emotionen in Bezug auf das Gehörte. Die Beschreibung der Außenschicht des Verstehens eines Musikwerkes mit Worten aus dem Bewegungsrepertoire (Geste, Bewegtheit, Emotion, etc.) zeigt, dass genau dort, nämlich in Bewegung, diese ersten Erfahrungen gemacht werden sollten. Gruhn beschreibt weiter, dass die emotionale Verstehenskomponente auf einer ganzheitlichen Wahrnehmung basiert, die ohne Bewegung nicht denkbar wäre. Es zeigt sich also, dass der erste Kontakt mit Musik auf der emotionalen, wahrnehmenden Ebene gezielt über Bewegung stattfinden soll und dass so Erfahrungen angelegt werden, auf denen weitere Verstehensprozesse aufgebaut werden können.

Wichtig ist zu erkennen, dass Zeitgenössische Musik nicht als komplexes Konstrukt an Grundschulkinder vermittelt werden kann, dass aber der Grundstein durch das Schaffen eines emotionalen Zugangs für die Vermittlung Zeitgenössischer Musik gelegt wird. Das Grundschulalter ist vor allem wegen der Unvoreingenommenheit und Offenohrigkeit der Kinder der geeignete Zeitraum für die erste Begegnung mit dieser Musik. Es spricht viel dafür, das Fach Musik und Bewegung mit Neuer Musik in Verbindung zu bringen. Dies gelingt zum Beispiel im Rahmen von Klassenmusizieren in Musik und Bewegung. Die Zuteilung von Musikstücken zu den entsprechenden Ästhetiken und Strömungen gibt dabei Anhaltspunkte für die Erarbeitung methodischer Möglichkeiten. Man erreicht beim Klassenmusizieren Kinder aus allen sozialen Schichten und ermöglicht ihnen durch die Arbeit in Musik und Bewegung einen ästhetischen Zugang zur Kunst unserer Zeit.

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