DIN-Normen in der Musik? Gibt es nicht! Überall kreativer Wildwuchs. Nicht einmal auf einen gemeinsamen Stimmton hat man sich durch die Jahrhunderte einigen können. Der Hertz-Wert für das Orientierungs-a’ schwankt(e) je nach Pariser, Wiener, Berliner, St. Petersburger Stimmung, je nach den Praktiken in der Scala oder bei Steinway in New York, zwischen 430 und 457 Herz. Warum sollte es der regelfreudigen EU-Kommission nicht noch einfallen, einen Normenkatalog für die Bewertungen in Musikwettbewerben zu schaffen? Bis dahin bedienen sich die Jurygremien ihres eigenen Maßstabs, urteilen nach eigenem Gusto und bestem Wissen und Vermögen, sei es in Brüssel, Cincinatti, Genf, Prag, Moskau, Warschau oder Tokyo – und eben in München.
Ein gutes Beispiel, wie unterschiedlich künstlerische Qualitäten eingeschätzt werden, lieferte jüngst ein Streichquartett, dem in Reggio Emilia der erste Preis versagt wurde, aber wenige Wochen danach in Sydney zum Sieger gekrönt wurde. Dass Preisträger im Münchner ARD-Wettbewerb möglicherweise anderswo durchs Sieb fallen, ist kaum anzunehmen, aber nicht ausgeschlossen. Denn dieser ARD-Wettbewerb, der Podiumsreife voraussetzt, gehört unumstrittenerweise zu den anspruchsvollsten internationalen Wettbewerben. Seinen Anforderungen zollt der Nachwuchs allergrößten Respekt. Wettbewerbe untereinander zu vergleichen und zu bewerten muss schon deshalb misslingen, weil die Repertoire- und Interpretations-Anforderungen in Umfang und Schwierigkeit, die organisatorischen und atmosphärischen Gegebenheiten ebenso divergieren wie die jeweilige Tagesform der Kandidaten.
Es gäbe eben die unterschiedlichsten Wettbewerbe, die zahlreichen kleinen und die wenigen gewichtigen großen. Rund 135 sind derzeit in der Weltföderation (WFIMC) zusammengeschlossen, die – ähnlich wie die Vereinigung der Jugendmusikwettbewerbe (EMCY) – die Durchführung an Qualitätsstandards bindet. So sieht Axel Lindstädt, seit fünf Jahren des ARD-Wettbewerbes künstlerischer Leiter, „keine Konkurrenz der verschiedenen Wettbewerbe, eher Kongruenz, denn irgendwie ergänzen sie sich gegenseitig. Es gibt eben unterschiedliche Profile, denken wir nur an die zahlreichen Spezialwettbewerbe. Das Besondere am ARD-Wettbewerb jedenfalls besteht in den jährlich wechselnden Fächerkombinationen, die immer wieder neues Interesse erzeugen.“ Jetzt ist der Münchner Wettbewerb in seinem 60. Jahrgang angelangt, 1952 von der Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten gestiftet, sieben Jahre nach dem totalen Desaster. Damals war Zeit zum Aufbruch, reif, neue Gründe zu legen, Neues zu schaffen. Jahre besonderer Inspiration. Auch zwei weitere Institutionen feiern gleichzeitig ihren 60. Geburtstag, Partner, die in ihrem Auftrag dicht beieinander liegen:
- die Jeunesses Musicales in Deutschland, der es um junge Hörer ebenso geht wie um praxisnahe Nachwuchsförderung,
- die für sie herausgebrachte Zeitung „Musikalische Jugend“, 15 Jahre später in „neue musikzeitung“ umgetauft.
- Alle Drei verbindet das gleiche Anliegen, haben dieselbe Zielgruppe im Visier, nämlich die Orientierung und Perspektiven suchenden jungen Musiker der Kriegsgeneration.
„Rundfunk lädt zur Reifeprüfung“ – unter dieser Überschrift liest man in der ersten Ausgabe des ersten MJ-Jahrgangs der heutigen „neuen musikzeitung“: „Zum ersten Male in der Geschichte seiner Musik lädt Deutschland die musikalische Jugend der Welt zu einem Concert in des Wortes ursprünglichen Sinn: Die Rundfunkanstalten der Bundesrepublik führen gemeinsam einen internationalen Wettbewerb durch. Der junge Künstler solle die Möglichkeit haben, die Konturen seiner Persönlichkeit selbst aufzuzeigen sowohl in außergewöhnlicher Vielseitigkeit wie auch in ausgeprägter und überzeugender Spezialisierung ...“.
Die anfangs geübte 12er-, später 25er-Punktebewertung für technische Leistung, für allgemeine musikalische Anlage und Entwicklungsstufe, Sicherheit des Stilgefühls und geistige Durchdringung des wiedergegebenen Werkes hat an Brisanz nichts verloren. Nur andere Vokabeln sind an ihre Stelle getreten, die noch präziser und spektakulärer ausdrücken, was der junge Künstler mitbringen solle, wobei kein Kriterium Überbewertung erfahren dürfe: technisches Können, musikalische Gestaltung, künstlerische Persönlichkeit und Stimm- beziehungsweise Tonqualität.
Schon davor, 1947 bis 1950, geht Radio Frankfurt, der spätere Hessische Rundfunk, auf Nachwuchssuche und wird in einem Wettbewerb fündig: Erika Köth und Christa Ludwig gehören zu den Entdeckten, in der Jury Eminenzen wie Gieseking, Strub, Varga, Walcha. Diese Erfahrungen mögen den Entscheid beflügelt haben, einen gemeinsamen Wettbewerb der Landesrundfunkanstalten zu installieren und bis heute gemeinsam zu tragen. Zunächst war lediglich die Stiftung eines allgemeinen Musikpreises der Rundfunkanstalten, mit 20.000 Mark veranschlagt, die ungestaffelt vergeben werden sollten. Sie sind mittlerweile auf rund 100.000 Euro und fast 50.000 gestiftete Fördermittel angewachsen. Eine Schlüsselrolle in der Gründungsphase hatte wohl der als Orgelwissenschaftler und Bachforscher bekannte Hermann Keller, Präsident des Tonkünstler-Verbandes. In seiner Rolle als Rektor der Stuttgarter Musikhochschule bringt er Anfang 1951 dem damaligen BR-Intendanten Rudolf von Scholtz den Vorschlag eines gemeinsamen Wettbewerbes ein, den sich dieser zu eigen macht. Er findet rasch Zustimmung im Gremium der ARD, das den Münchner Sender spontan mit der Federführung betraut.
Lob und Neid
Von Jahrgang zu Jahrgang wächst der ARD-Wettbewerb. Den Startkategorien Klavier, dann Geige, Flöte und Duo Violine und Klavier folgen nach und nach, im unterschiedlichen Wechsel, bis zu sieben Fächer pro Jahr, die gesamte Instrumentenpartitur, Klavier und Sologesang bevorzugt, auch Nischeninstrumente wie Blockflöte und Cembalo. Neben der Solisten- ist die kammermusikalische Leistung in den Standartkategorien Klavierduo, Klaviertrio, Streichquartett und Bläserquintett gefragt.
Zum Lob und Neid der anderen Landesrundfunkanstalten waltet und gestaltet BR-Klassik bis heute den Münchner Wettbewerb bravourös, erfolgreich und nachhaltig, freilich zwischendurch immer wieder bangend, wenn „innerhalb der ARD die sogenannten Gemeinschaftssendungen und -einrichtungen gelegentlich auf den Prüfstand gestellt werden“ (Linstädt). Vorerst scheint der jetzt auf vier Kategorien jährlich reduzierte ARD-Wettbewerb trotz der auferlegten Einsparungen von 30 Prozent gesichert.
Für die souveräne Durchführung des Wettbewerbes, für seine inhaltliche, organisatorische und atmosphärische Ausgestaltung bis zum zunehmend öffentlichkeitswirksamen Kultur-Event sorgten im ersten Dezennium Erik Maschat, dann 40 Jahre hindurch Jürgen Meyer-Josten mit Renate Ronnefeldt und Gisela Maus. Neue Akzente, zum Beispiel das zeitgenössische Auftragswerk als spannendes Pflichtprogramm, brachte dann Christoph Poppen mit Ingeborg Krause ein. Dazu kamen erweiterte Förderprojekte für die Preisträger in Form des ARD-Festivals, das BR-Klassik übernimmt und das sich mehr oder weniger auch in den Kulturwellen der ARD-Sender wiederfindet. Was motiviert die steigende Zahl an Bewerber, aus allen Erdteilen nach München anzureisen, fragen wir Axel Linstädt: „Ich denke, am wenigstens sind es die Geldpreise, obwohl sie sicher auch eine gewisse Rolle spielen. Letztlich geht es darum, sich zu beweisen und den eigenen Stellenwert – innerhalb der Szene aber auch für sich selbst – zu erfahren. Unser Anliegen: Nachwuchsförderung auf höchstem Niveau, die Besten ihres Faches zu finden, um sie weiterzuempfehlen und ihnen Entwicklungsspielräume zu eröffnen. Mir erscheint der Ruf des Wettbewerbs als sehr wichtig, und es ist eigentlich eine Binsenwahrheit: Die Qualität eines Wettbewerbs steht und fällt nicht zuletzt mit der Qualität seiner Juroren. Ohne übersteigertes Selbstbewusstsein meine ich, dass wir in dieser Hinsicht doch stets ein gutes Händchen hatten.“ Wo findet man in der Tat für über ein halbes Jahrhundert eine solche Topliste internationaler Musikkapazitäten?
Rund 14.000 Wettbewerbsteilnehmer, 88 Prozent aus dem Ausland, registrierte der ARD-Wettbewerb in seinen 60 Jahrgängen. Knapp 5 Prozent wurden mit Preisen ausgezeichnet – namentlich zu finden in zwei aufschlussreichen Designer-Dokumentationen für die Jahre 1952 bis 2001 und 2001 bis 2005, ergänzt durch Tondokumente aus BR-Mitschnitten. Folgewirkung? Jene hoch talentierten Künstler sind es, die sozial- und arbeitsmarktpolitisch gesehen nach und nach aktiv in das Musikleben hineinwachsen, es mitgestalten, beleben, bereichern, als ausübende Musiker rund um den Erdball, in führenden Orchestern, auf den Musikbühnen, als Solisten oder Kammermusiker oder als Lehrende. Und dann schon auf der anderen Seite des Jurytisches als Beurteiler des nachrückenden Nachwuchses.
Natürlich fehlt es nicht an kritischen Stimmen, zum einen die nie endende Diskussion, ob und wieweit künstlerische Leistung beurteilbar ist, zum anderen, wenn über die Preiswürdigkeit eines prämierten oder nicht genügend prämierten Interpreten öffentlich gestritten wird. Kritisch durchleuchtet haben den Wettbewerb im Laufe der sechs Jahrzehnte namhafte Kritiker und Musikredakteure in Tages- und Fachjournalen (einschließlich „neue musikzeitung“) und damit gewichtige und konstruktive Themenbeiträge geliefert, neben Hans Georg Bonte sind uns Namen in Erinnerung wie Joachim Kaiser, Wolf-Eberhard von Lewinski, Charlotte Nennecke, Walter Panofsky, K.H. Ruppel, Helmut Schmidt-Garre, Wolfgang Schreiber, Karl Schumann, Antonio Mingotti oder Ludwig Wismeyer, meist endend mit der zweiten Binsenwahrheit, dass es letztlich darauf ankommt, was ein Preisträger aus seinem Preis macht, wie er den gebotenen Karriereschub durch weitere hochkarätige künstlerische Präsentation zu nutzen versteht.
Jetzt, in der ersten Septemberhälfte, wird in München dieser Jubiläumswettbewerb in den Kategorien Klavier, Oboe, Orgel und Trompete ausgetragen. Da lässt sich erneut erleben, wie Münchens Publikum schon in den einzelnen Runden die Vorspielsäle füllt, mitfiebert und sich für die Stimmabgabe in den Abschlusskonzerten der Preisträger am 14., 15. und 16. September rüstet.
Stimmen von Musikern
So erinnern sich ehemalige Preisträger, beispielsweise die Flötistin Irena Grafenauer: „dass mein Selbstwertgefühl etwas größer wurde, mich beim BR-Symphonieorchester zu bewerben“, der Sänger Simon Estes: „Die Erfahrung hat mir musikalisch, stimmlich und beruflich sehr viel gebracht“, Posaunist Branimir Slokar: „le concours offre une reconnaissance artique favorable au démarrage de leur Carriere ...“, Cellistin Angelica May: „Für wie viele Musiker, die auf der internationalen Musikszene absolut führend waren und sind, war München das Tor zur Welt“, Fagottist Klaus Thunemann: „in meiner Musikerlaufbahn ‚Nutznießer’ des Wettbewerbes“, Thomas Quasthoff: „für mich hatte der ARD-Musikwettbewerb eine sehr persönliche, sehr große Bedeutung“, Organistin Hedwig Bilgram: „Der 1. Preis gab meiner musikalischen Entwicklung einen ungeheuren Motivationsschub“, Hornist Peter Damm: „... zum Ansporn wurde, löste Energie für fortgesetztes Streben nach Höherem aus“, Oboist Hansjörg Schellenberger: „Der Motivationsschub und zugleich die Bestätigung für meinen bisherigen Weg waren von größter Bedeutung“, Pianist Kalle Randalu: „Der Gewinn hat mein Leben maßgeblich beeinflusst“, Kontrabassist Michinori Bunya: „Der Wettbewerb ist kein Kampf gegen andere Kandidaten, sondern ein wichtiges, konzentriertes Gespräch mit sich selbst oder mit der Musik, die in einem läuft. Die Preisträger sind heute zum Beispiel Mitglieder der Berliner Philharmoniker, des Orchesters der Scala, Professoren in Wien und Manchester ...“.