Für westliche Ohren klingt orientalische oder zentralasiatische Musik immer noch irgendwie exotisch, schwer unterscheidbar und – aus Unkenntnis – manchmal auch etwas gleichförmig. Gerne wird hierzulande auf Klänge dieser Herkunft kurzerhand das abwertende Etikett „Weltmusik“ gepappt. Das mag auch daran liegen, dass dieser in Wahrheit gewaltige Musik-Kosmos tatsächlich in irritierender Weise anschlussfähig ist in alle erdenklichen Richtungen: Natürlich an folkloristisch unterhaltende, an den Pop angrenzende Bereiche (wo das Etikett Weltmusik noch am ehesten passt), an früh-sakrale, meditative Musiktraditionen der christlich-orthodoxen Sphäre vornehmlich des Ostens, aber auch an Strukturen Neuer Musik minimalistischer Prägung, die sich periodisch wiederholender „Patterns“ bedienen, wie die orientalische und zentralasiatische Musik und nicht zuletzt auch an die Improvisationen des Jazz.
Alle diese Spielarten und noch einige mehr, beziehungsweise zahlreiche Ausprägungen von Grenzgängen dieser Musikwelt waren am letzten März-Wochenende in Lissabon zu erleben. Dort wurde in den Räumlichkeiten der Gulbenkian-Stiftung ein neuer Musikwettbewerb ausgetragen, der sich der Tradition nicht-westlicher Klänge widmet. Die „Aga Khan Music Awards“ fanden erstmals statt und haben Preise im Wert von insgesamt 500.000 US-Dollar (rund 440.000 Euro) vergeben. Nominiert waren Künstler aus 46 Ländern. Die Preise wurden in sechs Kategorien verliehen, darunter „Bildung“, „Kreation“ und „Soziale Inklusion“. Während die Preisträger dieser Kategorien bereits vorab bekannt gegeben wurden, entschied sich erst in Lissabon, wer den Preis in der Kategorie „Performance“ erhält.
Der „Aga Khan Music Award“ als Ganzes richtet sich nicht nur an Künstler, sondern an Menschen, die mit der Musik, der Bildung und der Bewahrung und Weiterentwicklung traditioneller Klänge in – wie es heißt – „Gesellschaften auf der ganzen Welt, in denen Muslime eine bedeutende Präsenz haben“ beschäftigt sind. Die Preise unter seinem Dach wollen sich laut seinem Stifter Aga Khan erstmals konkret auf die vielen verschiedenen Musikrichtungen konzentrieren, die aus der islamischen Kultur hervorgegangen sind.
Sagenhafter Reichtum
Der Stifter Karim Aga Khan IV ist der religiöse Führer der ismailitischen Nizariten, die vorwiegend in Zentral-asien leben, und etwa 10 bis 15 Millionen Anhänger zählen. Der Titel „His Highness Prince Aga Khan IV.“ wurde ihm als Hoheitstitel von der britischen Königin 1957 verliehen. Der 82-Jährige ist Geschäftsmann, der unter anderem mit Hotels einen sagenhaften Reichtum angehäuft hat, die Aga-Khan-Dynastie steht auch für einen gewissen, sehr weltlichen Glamour-Faktor, so war etwa der Vater des amtierenden Aga Khan mit der Hollywood-Diva Rita Hayworth verheiratet und sein Amtsvorgänger Aga Khan III. mit einer Französin, die als Begum Aga Khan Stammgast in Bayreuth war. Die heutige Aga-Khan-Foundation gilt als größte und einflussreichste NGO überhaupt mit Entwicklungsprojekten in der ganzen Welt, die sich erklärtermaßen für Toleranz und Frieden einsetzen.
Im Wettbewerb treten 14 Musikerinnen und Musiker an, vom Iran über Palästina, Syrien bis Pakistan, vier Frauen und zehn Männer. Die meisten treten solistisch auf, erlaubt sind aber bis zu zwei Begleitmusiker/-innen. Neben mehreren Oud-Solisten – mit und ohne Gesang – kommen auch exotischere Instrumente zum Einsatz wie ein winziges Harmonium, das pakistanisch-indische Streichinstrument Sarangi in Verbindung mit Sufi-Gesang, das Hackbrett Santur, die persische Ney-Flöte in einem betörend intensiven, wie improvisiert wirkenden Marathon-Solo, die indische Sarod-Laute und einiges mehr. Ganz zu schweigen von den Stimmkünsten, die vom archaischen Kehlgesang bis hin zu chansonesken Spielarten vertreten sind. Für die Künstler ist es in ihren Herkunftsländern meist sehr schwierig, eine Karriere aufzubauen, denn vielerorts herrscht strikte Zensur, wie im Iran, oder es herrscht Krieg, wie in Syrien, und meistens lässt die Infrastruktur für die Verbreitung zu wünschen übrig. Viele der Musiker, die beim Wettbewerb auftreten, sind ins Exil gegangen, um ihre Musik auszuüben. Ihre Bio-
grafien lesen sich überwiegend abenteuerlich.
International und genreübergreifend
Die Jury ist international und bewusst genreübergreifend besetzt, also nicht nur mit ausgewiesenen Spezialisten für orientalische Musik: Dabei sind unter anderem David Harrington, der erste Geiger des New Yorker Kronos-Quartet und der Choreograf Akram Khan. Im Lenkungsausschuss begleitet bereits seit geraumer Zeit der amerikanische Musikologe Theodor Levin das Projekt, das als Forschungsprojekt startete und einen jahrzehntelangen Vorlauf hatte: „Die Auszeichnungen umfassen natürlich eine viel weitere Geographie als nur Zentralasien. Unsere musikalische Initiative begann ihre Arbeit in Zentralasien 2002. Aber wir arbeiten jetzt in elf Ländern, und die Grundidee der Auszeichnungen war, unsere Wirkung auszudehnen jenseits des Kerns der Region, wo wir begonnen hatten. Um so also weiterzugehen, zeigen wir Musiker aus all diesen Ländern, repräsentiert durch die Preisträger.“
Am Abend vor dem Wettbewerb begrüßt ein Konzert die zahlreichen Besucher und Wettbewerbsteilnehmer in der Gulbenkian-Foundation. Auf dem Podium sitzt das Gulbenkian-Orchester unter der Leitung von Pedro Neves und Solisten mit traditionellen Instrumenten. Dieses Programm, unterfüttert mit satt instrumentiertem Orchesterklang ist ein Beispiel dafür, wie weit selbst in Teilen der orientalischen Tradition eine Verwestlichung stattfindet, sozusagen als eine Art freundlicher Übernahme, was aber niemanden zu stören scheint. Auf der Bühne steht unter anderem der Dutar-Spieler Sirodjddin Jurajev aus Tadschikistan, den der Musikologe Theodor Levin schon lange begleitet: „Ich würde sagen, Sirodjddin Jurajev ist einer der besten Dutar-Spieler in Zentralasien. Und angefangen hat er als Student in einer Schule, die wir 2003 gegründet und unterstützt haben. Wir arbeiten also seit 16 Jahren mit ihm. Das ist das Ergebnis dieses langfristigen Engagements.“
Sieben Stunden Musik
Der folgende Wettbewerbstag ist anstrengend: Jeder Kandidat und jede Kandidatin hat jeweils 25 bis maximal 30 Minuten Zeit, sich zu präsentieren. Das sind sieben Stunden Musik an einem Tag. Das Rennen macht am Ende ein Außenseiter: Der 1983 geborene Ägypter Mustafa Said, ein blinder Künstler, der zugleich Oud-Spieler, Sänger, Musikwissenschaftler und Komponist ist.
Mustafa Saids vielfältige Karriere ist nicht ungewöhnlich in diesem Wettbewerb, die meisten der Teilnehmer sind auch Forscher, Musikwissenschaftler und Komponisten. Die Wahl der Jury ist dennoch nicht ganz unumstritten, da Mustafa Said sehr eigenwillig musiziert und ihm einige in der Konkurrenz in Sachen Virtuosität überlegen schienen. Technische Fähigkeiten stehen beim Aga Khan Music Award aber erklärtermaßen nicht im Vordergrund.
Der amerikanische Musikologe Levin hat die Jury beraten: „Es war eine schwierige Entscheidung, denn es waren so viele überragende Interpreten und so viele unterschiedliche Qualitäten und Bereiche, die erkennbar wurden. Deshalb war es schwer zu vergleichen. Aber Mustafa Said ist fraglos ein brillanter Musiker mit einer tiefen Vorstellungskraft für Musik und einer großen Energie. Und er arbeitet über eine ganze Reihe von Interpretationsansätzen und Kompositionstechniken hinweg und schafft Verbindungen zwischen diesen verschiedenen Elementen, indem er fragt: Wie können wir das Archiv nutzen, um unsere Kreativität anzuregen?“
Theodor Levin ist sozusagen die wissenschaftliche „graue Eminenz“ im Hintergrund des lange angelegten Musikprojekts der Stiftung. Er wuchs auf mit westlicher Klassik und spielte Klavier. Doch dann reiste er als Jugendlicher in den Orient und kam erstmals in Kontakt mit Musik aus dem Mittleren Osten, aus der Türkei und aus Zentralasien, die ihn tief beeindruckte. „Ich hatte das Glück, ein Jahr in Usbekistan verbringen zu können. In den 1970er-Jahren! Ich war damals der einzige Amerikaner, der in Usbekistan lebte und studierte die einheimische traditionelle Musik. Ja, ich mache das schon seit fast fünfzig Jahren!“
Garant für Seriosität
Theodor Levin hat das große und maßgebliche Kompendium „The Music of Central Asia“ verfasst und ist der wohl beste Kenner dieser im weitesten Sinne klassischen orientalischen Musik. Und ein Garant für die Seriosität des immer noch wachsenden Musikprojekts der Aga Khan Stiftung, die den hoch dotierten Preis in Zukunft alle zwei Jahre ausloben will. „Ich betrachte mich immer noch als Student von dieser Musik. Es ist so riesengroß und so tief, dass man in einem Leben höchstens damit beginnen kann, denke ich. Die schönste Belohnung ist für mich, Entdeckungen zu machen von neuen Richtungen von verwandten musikalischen ‚Dialekten‘ und Sprachen.“
- Die Autorin reiste auf Einladung der Aga Khan Stiftung nach Lissabon.