„Musikwettbewerbe unter Legitimationsdruck – wie Beziehungsgeflechte und suggestive Faktoren Juryurteile beeinflussen“. So lautet der Titel der wissenschaftlichen Arbeit von Nora Sophie Kienast, die 2022 von der Martin Luther Universität Halle-Wittenberg als Dissertation angenommen wurde und jetzt als Band 4 der Beiträge zur empirischen Forschung, herausgegeben von Christoph Louven vorliegt (Electronic Publishing Osnabrück). Die Autorin Nora Sophie Kienast studierte Flöte an der Musikhochschule Lübeck und Musikwissenschaft an der Universität Leipzig. Zwischenzeitlich arbeitete sie als Volontärin, dann als Redakteurin und erhielt für ihre Promotion an der MLU Halle-Wittenberg ein Stipendium der Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit.
Durch einen Wettbewerbsgewinn können sich die jungen Künstler*innen also im Konzertleben profilieren, etablieren und Netzwerke aufbauen. Wettbewerbe fungieren oftmals als Türöffner in die Welt des Konzertbetriebs. Der Jury kommt hierbei eine äußerst verantwortungsvolle Aufgabe zu: Sie entscheidet über Karrieren und Lebensläufe. Einflussnahme durch Jurymitglieder kann dabei ein Problem darstellen und wird in der Community viel diskutiert und auch immer wieder in der Presse problematisiert. Insgesamt befragte Kienast 14 Personen, darunter vier Teilnehmende an Wettbewerbern und 10 Juror*innen. Beinahe alle sind Professor*innen an Deutschen Musikhochschulen oder aktive Orchestermusiker*innen. Es wurden nur diejenigen Jurierenden und Teilnehmenden befragt, die Orchesterinstrumente spielten oder Vorspiele mit Instrumenten bewerteten. Gesang als Disziplin wurde außen vor gelassen, da sich hier Bewertungsrelevanzen ergeben, die sich mit denen der Instrumentalkategorien kaum vergleichen lassen. Generell werden die Gesprächspartner*innen anonymisiert zitiert. Allen Befragten wurden zufällig ausgewählte weibliche und männliche Vornamen zugewiesen, die nicht unbedingt mit dem wahren Geschlecht der/des jeweiligen Interviewten übereinstimmen. Die der Jurierenden lauten Andreas, Birgit, Stefan, Katrin, Martina, Michael, Petra, Sabine, Susanne und Thomas; die der Teilnehmenden Felix, Jan, Jonas und Moritz.
Lesen Sie im Folgenden Auszüge aus der wissenschaftlichen Untersuchung von Nora Sophie Kienast.
Bedeutung der Jury
So groß die Bedeutung der Jury ist, so unklar sind die Vorgänge, die in einer Jury vonstattengehen, bis ein Endergebnis feststeht. Vergebene Punkte beziehungsweise Wertungen werden nie bekannt gegeben. Die Jury muss ihre Urteile nicht begründen und sie sind unanfechtbar. Die Öffentlichkeit erfährt also zum Beispiel nicht, warum Kandidat X ins Finale kam, Kandidatin Y aber nach der ersten Runde rausgeflogen ist. Das führt zu Mutmaßungen über Vorgänge in Jurys. Hans-Günther Bastian und Adam Kormann konstatieren (Bastian, Hans Günther; Kormann, Adam; Wie Juroren urteilen, in: Das Orchester 9/1996, S. 8.): „Das Urteilsverhalten von Juroren bleibt weitgehend ein Buch mit sieben Siegeln, sozusagen terra incognita.“
Oft lehren Jurierende als Professor*innen an Musikhochschulen. So entsteht immer wieder die Situation, dass sie im selben Wettbewerb auf eigene Studierende treffen. Oberflächlich betrachtet, stellt das kein Fairness-Problem dar: Sie dürfen sie in der Regel nicht bewerten. Doch viele Jurierende kennen sich gut. Die Musikwelt ist trotz der Internationalität klein. Es stellt sich also unwillkürlich die Frage, welchen Einfluss die Bekanntschaft zwischen Jurymitgliedern auf die Ergebnisfindung hat. Für Reinhart von Gutzeit geht demnach die größte Gefahr von „Mitgliedern der Jury aus, die gerne dem Schüler eines Jurykollegen besonderes Wohlwollen entgegenbringen. Deshalb hilft es wenig, wenn der Juror beim eigenen Schüler nicht mitwertet. […] Bei vielen internationalen Profi-Wettbewerben setzt man sich über diese Erkenntnis hinweg, obgleich sie niemandem verborgen bleiben kann“. (Gutzeit, Reinhart von; Die Botschaften der Wettbewerbe, in: Üben & Musizieren, 5/2003, S. 10.)
Auffällige Ergebnisse nähren Gerüchte. Dass Jurierende bei Wettbewerben möglicherweise Ergebnisse manipulieren, ist eine schon immer da gewesene Kritik, die im Hintergrund schwelt.
Intransparenz zieht sich wie ein roter Faden durch die Abläufe von internationalen Musikwettbewerben auch in Deutschland. Sie findet sich auch in anderen Bereichen. Die Veranstalter der deutschen Wettbewerbe formulieren zwar Richtlinien für die Jury, doch diese sind der Öffentlichkeit selten zugänglich (eine Ausnahme bildet z. B. der Internationale Bachwettbewerb Leipzig.) Unklar ist auch das Bewertungsprozedere. Werden Punkte vergeben? Wenn ja, in welcher Form? Diskutieren die Jurierenden miteinander? Unklar ist auch, wer die Jurymitglieder auswählt oder ob es bestimmte Kriterien gibt, die diese erfüllen müssen. Den Wettbewerbsteilnehmenden bleibt, darauf zu vertrauen, von einer möglichst heterogenen Gruppe bewertet zu werden, in der sich charakterfeste Menschen befinden.
Intransparenz scheint aber in manchen Fällen auch deswegen zu herrschen, weil Abläufe intern unklar sind. „Beurteilungskriterien im Musikwettbewerb und deren Gewichtung sind vielfach den Juroren überlassen.“ (Rohlfs, Eckart; Wettbewerbe und Preise, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, zweite, neubearbeitete Ausgabe, Sachteil 9, hrsg. von Ludwig Finscher, Kassel u. a. 2007, Sp. 1988.) Es liegt gleichsam in der Natur der Sache, dass so viel Unklarheit herrscht, wenn es darum geht, Musikperformances zu bewerten. Ein Musikwettbewerb ist ein Paradoxon in sich. Musik ist, ganz im Gegensatz beispielsweise zu den meisten Sportarten, kaum messbar – es mangelt an objektiven Bewertungsmöglichkeiten. Deswegen müssten Wettbewerbsveranstalter umso mehr für öffentlich nachvollziehbare, klare Abläufe sowie Bewertungsstrukturen sorgen und damit Transparenz schaffen.
Vor diesem Hintergrund scheinen sich Probleme im Hinblick auf die Fairness bei internationalen Musikwettbewerben zu ergeben. Daher stellen sich folgende Fragen:
- Wie gelangen Jurierende zu ihren Urteilen und welche Bewertungskriterien wenden sie an?
- Welche Auswirkungen haben Beziehungsgeflechte innerhalb der Jury und zwischen Jurierenden und Teilnehmenden auf die Bewertung?
- Welche anderen Einflussfaktoren auf Bewertungen ergeben sich aus der Jury heraus und welche suggestiven Faktoren beeinflussen die Jurierenden neben dem reinen Spiel der Teilnehmenden in ihren Bewertungen?
Diese Fragen wurden in der Dissertation hauptsächlich durch die Auswertung von Leitfadeninterviews mit zehn Jurymitgliedern und vier Teilnehmenden höchstrangiger klassischer Musikwettbewerbe unter Zusicherung von Anonymität und anschließender Pseudonymisierung beantwortet.
Die aus der Sozialwissenschaft stammende qualitative Methode ermöglicht einen tiefen und intimen Blick in ein bestimmtes Forschungsfeld, wie er durch eine quantitative Methode (z. B. Informationsgewinn durch Fragebogen) so nicht erreicht werden kann. Jedoch lassen sich mit dieser Methode wegen der geringen Stichprobe keine Allgemeingültigkeiten ableiten. Ziel ist entschieden nicht, Musikwettbewerbe nach der Béla Bartók zugeschriebenen Metapher, Wettbewerbe seien für Pferde, nicht für Künstler, für sinnlos zu erklären – denn sie sind ein wichtiger, potentiell karrierefördernder Bestandteil der (Selbst-)Ausbildung der Teilnehmenden. Vielmehr sollen Problematiken identifiziert und Lösungswege aufgezeigt werden, Musikwettbewerben zu besserer Legitimation zu verhelfen.
Ergebnisse der Untersuchung
1. Die Tätigkeit der Jurierenden
Die Aussagen der befragten Jurierenden zeigen, wie schwierig die Bewertung von Musikperformances ist – auch für Expertinnen und Experten: Hinter der Quantifikation stehen höchst komplexe, individuelle und instabile Konstrukte. Einige Befragte gehen an ihre Bewertungen systematisch-rational heran, andere werten eher emotionsgesteuert. Auch in Bezug auf Bewertungskriterien herrschen persönliche Systematiken vor. Teilweise urteilen die Befragten nach ganz ähnlichen Kriterien, wie das technische Vermögen, aber sie nutzen auch individuelle Kriterien, wie etwa Bühnensicherheit. Herausgearbeitet wurde, dass neben den expliziten weitere implizite Bewertungskriterien wie subjektives Empfinden („Bauchentscheidung“, Jurorin Kathrin) und persönlicher Geschmack relevant im Entscheidungsprozess sind. Diese dienen wohl auch als Entscheidungsmittel, um die expliziten Kriterien anzuwenden. Diese Ergebnisse machen auch deutlich: Musik überhaupt zu quantifizieren, etwas so Komplexes und Reiches an „Zwischentönen“ (Jurorin Susanne) in eine Punktzahl zu zwingen, stellt einen Widerspruch zum Musik-Erlebnis dar.
Da der Bewertungsprozess derart individuellen Strukturen folgt, erscheint es unbedingt angezeigt, den Jurierenden mehr Orientierungshilfen zu liefern. Die bisherigen Abläufe bei internationalen Musikwettbewerben lassen noch sehr viel Raum zur Professionalisierung.
Erschwerend kommt zu den fragilen Bewertungskonstrukten hinzu, dass auf die Jurierenden unbewusst viele Faktoren visuell einwirken, die sie in ihren Wertungen beeinflussen: Generell spielt die potentielle Überlagerung des Visuellen über das Auditive eine Rolle, Bewegung am Instrument, Gesichtsausdruck, instrumentale Spezifika, ein Gender-/Race-Bias, Attraktivität und Kleidung. Hinzu kommen weitere Einflussfaktoren, etwa Vorab-Informationen über Teilnehmende oder deren Reihenfolge im Wettbewerb. Um die Objektivität der Juryentscheidungen zu steigern, müssten die Veranstalter zwingend an irgendeinem Zeitpunkt im Wettbewerb die Jurierenden nur zuhören lassen, ohne, dass sie die Vorspielenden sehen. Bei Probespielen für Orchesterstellen ist das Spielen hinter dem Vorhang Usus. Hier ist man sich der Beeinflussung durch Visuelles bewusst.
2. Wie einige Jurierende Ergebnisse manipulieren
Die Jurierenden teilen einen ähnlichen Karriereweg – viele unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten gibt es nicht. Lebenswege kreuzen sich. Viele kennen sich bereits vor der gemeinsamen Jurytätigkeit. Innerhalb einer Jury bilden sich Macht- und Autoritätsgefälle ab, ebenso wie Antipathien und Sympathien. Es können auch Abhängigkeiten herrschen, wie Juror Michael schildert: „Und ich kannte die nicht, und ich wollte von denen nichts, und die wollten von mir nichts, es geht ja meistens so, lädst du mich ein, lad’ ich dich ein […].“ Laut Jurorin Birgit ist es immer ein „Geben und Nehmen“. Generell herrschen bei Wettbewerben kaum entwirrbare Beziehungsgeflechte (auch zwischen Jurierenden und Teilnehmenden).
Kommunikation in der Jury scheint anhand der Aussagen ein starker Einflussfaktor auf Juryurteile zu sein. Im informellen Pausengespräch etwa können Meinungen und Bemerkungen geäußert werden, die beeinflussend auf andere wirken. Jurorin Martina meint dazu, man müsse sich „vor eventuellen Beeinflussungsversuchen wappnen und sich immun machen“. Michael schildert, dass sehr unterschiedliche Charaktere in Wettbewerbsjurys vertreten sind: „Rampensäue, […] die die anderen versuchen zu überzeugen“ vs. „manche sagen zu allem Ja und Amen“. Dominante Jurierende mit einer ‚Agenda‘ nutzen anscheinend Kommunikation aus, um auf diesem Wege Stimmung zu machen oder Meinungen zu manipulieren. Juror Stefan fordert daher ein ‚Sprechverbot‘. Jurorin Susanne sieht es ähnlich: „Ich find ’ s auch eigentlich besser, wenn nicht [diskutiert wird], weil da geht dann die Manipulation dann los.“
Jurierende können aber auch auf andere Weise Einfluss auf Ergebnisse nehmen und so für einen unfairen Wettbewerb sorgen: Günstlinge profitieren, andere Teilnehmende werden übervorteilt. Drei Manipulationsarten konnten anhand der Interviews identifiziert werden. Eine ist die verbotene Kontaktaufnahme. Stefan erzählt von Situationen, die im Heimlichen ablaufen: „Aber es gibt welche, die dann sich nochmal [im laufenden Wettbewerb] unterrichten lassen, ist alles streng verboten, passiert trotzdem, fahren irgendwie heimlich weg […].“ Auch Birgit erzählt: „Das wird häufig gemacht und leider sehr häufig, und das erzählen mir meine Schüler dann auch, wenn die das sehen.“ Ein weiteres Manipulationsmittel ist das Herunterpunkten unliebsamer Teilnehmender. Jurorin Petra schildert: „Also normalerweise darf man ja nicht für seine eigenen Studenten oder Studentinnen Punkte vergeben. Du kannst ja deine Leute nicht beeinflussen, aber du kannst natürlich die anderen auf derselben Ebene, die kannst du natürlich runterdrücken, das ist klar.“
Die sicherlich perfideste Manipulationsart sind „Deals“ (Juror Stefan) oder wie Petra es nennt: „Kartenspiele unter dem Tisch“. Gemeint ist gemeinschaftliches Punkten. Susanne sagt: „[…] dass sich da jetzt Gruppen bilden, die jetzt irgendwie gegen einen votieren würden, das gibt es natürlich […].“ Birgit konstatiert: „Ich mein’, natürlich können sich Juroren, wenn sie es ganz fies wollen, es immer irgendwie beim Essen, auf dem Klo, oder sonst wo absprechen. Solche gibt es auch […].“
Jurorin Sabine berichtet: „Das geht ja viel weiter. Dann ist der eine in [Hochschulstandort] zum Beispiel und der andere in [Hochschulstandort] und sagt, wenn du meinen jetzt zum Zug kommen lässt, dann lad’ ich dich zur Masterclass zu mir ein. Also es geht ja, es gibt ja viele Möglichkeiten, sich zu revanchieren, ja.“
Vor allem die Intransparenz des Bewertungsprozesses macht es möglich, dass Jurierende Ergebnisse manipulieren. Susanne sagt dazu: „Wenn man die Chance gibt zur Einflussnahme, ist der Mensch anfällig, das dann auch zu nutzen.“ „Da, wo Menschen sind, menschelt’s“, sagt Sabine. „Natürlich ist es auch dann ein bisschen auffällig, wenn bestimmte Dozenten als Juror bei einem Wettbewerb sind, wenn dann immer die eigenen Studenten dann weiterkommen und – das mag Zufall sein“, erklärt Susanne weiter.
3. Warum manipulieren einige Jurierende?
Der Musikwettbewerb fungiert für die Lehrenden in Jurys als Präsentationsplattform gegenüber Jury-Kollegium, Publikum, Medien und den Teilnehmenden: Sofern eigene Studierende vorspielen, dient ihr Spiel (im besten Fall) als Qualitätsbeweis der pädagogischen Arbeit. Susanne sagt: „Jeder […] sieht den Erfolg der Studenten in erster Linie als die eigenen Meriten.“ Birgit erklärt: „Natürlich würde ich gern mein Ego pinseln und meinen eigenen Schüler auf dem Siegertreppchen sehen.“ Wer erfolgreich teilnehmende Studierende im Wettbewerb hat, der wird interessanter – als Juror*in wie als Professor*in. Das verhilft zu größerer Autorität und Macht im System. Der Musikwettbewerb spielt dadurch auch eine Rolle als Karriereplattform der lehrenden Jurierenden. Wenn also Jurierende Ergebnisse im vordergründigen Sinne für ihre Studierenden manipulieren, steht dahinter wohl auch ein gewisser Eigennutz: Gewinnt ein*e Schüler*in, können sie sich diesen Gewinn von ihrer Musikhochschule durch die besonderen Leistungsbezüge sogar in bare Münze umwandeln lassen. Ebenso können sich lehrende Jurymitglieder nach neuen Studierenden umsehen und Kontakt mit vielversprechenden Talenten aufbauen. Musikwettbewerbe ähneln damit Marktplätzen für die lehrenden Jurymitglieder.
All das stellt einen zu starken Anreiz dar, den Wettbewerbsausgang zu beeinflussen. Insbesondere lehrende Jurierende mit eigenen Studierenden im selben Wettbewerb stellen also eine Gefahr für einen fairen Wettbewerbsablauf dar: Sie nutzen Intransparenz und laxe Wettbewerbsregularien für ihre Zwecke und verschaffen ihren Protegés Vorteile. Alle befragten Jurierenden äußerten sich zu dieser heiklen Thematik und gaben an, dass manche Kolleginnen und Kollegen versuchen, Einfluss zu nehmen – doch es ist zu unterstellen, dass die Mehrheit der Jurierenden integer agiert. Daher müssen die Veranstalter – auch im eigenen Interesse – dem Machtmissbrauch Einhalt gebieten. Analog zum Bild des Marktplatzes muss dieser reguliert und auf ein legales Fundament gestellt werden. Der Schwarzmarkt gehört abgeschafft. Es ist unwahrscheinlich, dass Veranstaltern Manipulationsversuche verborgen bleiben. Dabei sind es die manipulierenden Jurymitglieder, die dem Ansehen und so dem Wettbewerb selbst schaden und ihm die Legitimation entziehen: ein Paradoxon. Die Veranstalter führen ihren eigenen Wettbewerb ad absurdum. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Jurierenden große Macht innerhalb des Wettbewerbssystems haben.
Teilnehmer Moritz nimmt eine fast fatalistische Haltung ein. Auf die Frage, ob ihn selbst mögliche Manipulationen der Jurierenden von der Wettbewerbsteilnahme abhalten würden, antwortet er: „Nee, was kann man dagegen machen? […] Es wird sich nie etwas ändern, es ist irgendwie fast Tradition.“
4. Leitfaden für Änderungen im Wettbewerbsprozedere
Auf Moritz’ Frage, was man dagegen machen kann, kann man antworten: einiges. Schon kleine Veränderungen im Ablauf können für mehr Chancengerechtigkeit und Fairness Großes bewirken – um eine Legitimationsgrundlage zu schaffen und Manipulationen deutlich zu erschweren sowie suggestive Einflussfaktoren zu minimieren.
Verantwortlich für den Ablauf von Musikwettbewerben sind die Veranstalter. Nachfolgend werden dazu die wichtigsten Vorschläge vorgestellt. Die Wettbewerbsregularien werden dabei gleichsam vom Kopf auf die Füße gestellt: Nicht mehr die Jurierenden stehen im Mittelpunkt, sondern die Teilnehmenden.
Transparenz und Nachvollziehbarkeit schaffen
Hier geht es darum, die Öffentlichkeit bzw. Teilnehmende darüber zu informieren, wie das Bewertungsprozedere abläuft (Wie werden Urteile vergeben? Wie werden sie ausgewertet?) und welches Reglement die Jury einhalten muss. Zudem sollte transparent gemacht werden, nach welchen Kriterien die Jurierenden ausgewählt werden und wer für die Auswahl zuständig ist.
Systematisierung des Bewertungsprozesses
Ziel einer Systematisierung des Bewertungsprozesses ist, die Objektivität im gesamten Bewertungsprozess zu steigern. Dazu gehört unter anderem vorab zu klären und festzulegen, welche Kriterien allgemein in die Bewertung einfließen (z. B. technische Beherrschung, Ausdruck, Intonation, etc.). Es ist unumgänglich, dass die Jury ihre Urteile mittels eines Kriterienkatalogs abgibt, um Validität (Gültigkeit), Reliabilität (Verlässlichkeit) und Fairness der Beurteilungen gewährleisten zu können. Der Kriterienkatalog trägt dazu bei, dass Jurierende in ihren Bewertungen einzelne Kriterien nicht überbetonen. Vorab veröffentlicht, hilft er auch den Teilnehmenden, sich zu orientieren.
Vermeidung von Lehrenden in Jurys
Wie beschrieben, stellen Professor*innen auf vielerlei Weisen eine Gefahr für einen fairen Wettbewerbsablauf dar. Unentwirrbar erscheinen die Beziehungsgeflechte und damit verbundene Abhängigkeitsverhältnisse und Sympathien wie Antipathien innerhalb der Jury, die durch teilnehmende Studierende eine Intensivierung erfahren. An die Stelle der Lehrenden könnten zum Beispiel die Inhaber*innen von Solostellen renommierter Orchester ohne Lehrauftrag treten sowie Tonmeister*innen. Geeignet erscheinen ferner erfahrene Musikkritiker*innen, Dirigent*innen, Korrepetitor*innen sowie Mitarbeitende von Agenturen.
Audiovisuelle und anonyme Audio-Bedingung
Die meisten Einflussfaktoren auf Jury-Urteile werden erst dadurch virulent, dass die Jurierenden die Teilnehmenden auf der Bühne sehen. Die durch das Auge wahrnehmbaren Eigenheiten der Teilnehmenden – z. B. die Bewegung am Instrument, die Attraktivität/das Aussehen, der Gesichtsausdruck – lenken vom Kern, der erzeugten Musik und der instrumentalen Beherrschung, ab und verschleiern ihn. Und nur, weil die Jurierenden die Vorspielenden in der Vortragssituation als ihnen bekannte Personen erkennen, werden die Jurierenden getriggert, ihre Urteile zu manipulieren. Diese nun so offensichtlichen Einflussfaktoren müssen dazu führen, Wettbewerbsvorspiele hinter einem Vorhang stattfinden zu lassen – zumal Bühnenpräsenz auch hörbar ist. Jedoch ist die Vorstellung, einen Wettbewerb auf diese Art abzuhalten, durchaus ‚unsinnlich‘. Sie entbehrt Natürlichkeit, denn in der Konzertsituation spielt die Performance eine gewichtige Rolle. In dieser Hinsicht haben beide Bedingungen – die audiovisuelle wie die Nur-Audio-Bedingung – bei Musikwettbewerben ihre Berechtigung.
Veröffentlichung aller Ergebnisse
Zentral im Sinne von Fairness und Transparenz ist es, alle vergebenen Punkte, also auch die einzelnen Wertungen des Kriterienkatalogs, zu veröffentlichen. Die Ergebnisse werden für die Teilnehmenden und das Publikum durch die Punkteveröffentlichung nachvollziehbar: einerseits inhaltlich, andererseits prozessual, also aus welchen Zahlen sie sich zusammensetzen. Dadurch wird auch eine differenziertere Preisvergabe möglich: Diejenigen Teilnehmenden können mit Sonderpreisen bedacht werden, die die meisten Punkte in den jeweiligen Kategorien erhielten. Das trägt auch dazu bei, die Vielfalt von Musikalität und musikalischer Begabung zu verdeutlichen.
Aufbrechen der starren Jurysitzordnung (verteilt im Raum statt nebeneinander)
Jurierende kommunizieren während eines Wettbewerbs, etwa zwischen den Auftritten der Vorspielenden oder den Werken, sowohl verbal als auch non-verbal miteinander. Viele Befragte äußerten den Wunsch, die Kommunikation als Einfallstor für Manipulationen und Ausspielmöglichkeit von Abhängigkeits- und Machtverhältnissen weitgehend zu unterbinden. Diesem Wunsch zu entsprechen, wäre bei Musikwettbewerben ein Leichtes: Die Jurierenden müssten lediglich auseinandergesetzt werden, zum Beispiel verteilt im Raum anstatt wie sonst nebeneinander an einem langen Tisch.
Schlussfolgerungen
Die Einwirkungen auf Jury-Urteile in ihrer Gesamtheit zeigen, dass internationale Musikwettbewerbe unfair ablaufen. Das macht deutlich, welche Relevanz die Dissertation nicht nur wissenschaftlich, sondern auch lebenspraktisch für viele junge Musiker*innen hat, da sie gravierende Missstände aufzeigt.
Es liegt nahe, dass die Ergebnisse auch auf Prüfungssituationen an Musikhochschulen sowie auf Gesangs- und Kompositionswettbewerbe übertragbar sind; genauso auf Wettbewerbe in Tanz, Schauspiel oder in den bildenden Künsten. Auch hier gibt es kaum objektive Kriterien, die über herausragende Qualität entscheiden können. Im Vordergrund von künstlerischen Wettbewerben muss vielmehr stehen, Chancengerechtigkeit für alle Teilnehmenden zu erreichen – diese ins Zentrum zu rücken und Einflussfaktoren auf Jury-Urteile zu minimieren.
Eine Unwucht der Regularien bei Musikwettbewerben zugunsten der Jury geht seit Jahrzehnten auf Kosten der Teilnehmenden. Es gilt der Satz von Lisa McCormick: „[…] candidates have the most at stake and the least control over the process.“ (McCormick, Lisa; Performing Civility: International Competitions in Classical Music, Cambridge 2015, S. 166.)
Es ist anzunehmen, dass die unfairen Musikwettbewerbe Teil eines autoritären Systems sind, das die E-Musik-Branche hintergründig bestimmt. Anders ist kaum zu erklären, dass Jurierende zu keiner Rechenschaft ihres Tuns und Wertens verpflichtet sind und sie abgeschirmt von der Öffentlichkeit agieren dürfen. Ein Korrektiv ist offensichtlich nicht gewollt. Die Veranstalter sind hier in der Pflicht. Über bestehende Machtstrukturen sollten sie sich hinwegsetzen und vielmehr Fairness und Transparenz schaffen – denen zuliebe, um die es eigentlich geht: junge Musikerinnen und Musiker. Sie sind die Mutigen, die sich dem Risiko des Vergleichs stellen, dem Risiko der Niederlage.