Dirigenten sind sensible Musiker, umsichtige Impulsgeber und Vermittler. Je nach Temperament aber auch diktatorische Chefs, magische Dompteure oder nüchterne Taktelle. Gleich zwölf junge Dirigenten traten Mitte Oktober beim Deutschen Dirigentenpreis an. Nach 2017 wurde der Wettbewerb zum zweiten Mal vom Deutschen Musikrat mit Kölner Partnern veranstaltet. Die finale Runde mit lediglich drei Dirigenten verlangte eine Auswahl an klassischem, romantischem und modernem Opern- und Konzertrepertoire. Auf dem Programm standen Werke von Mozart, Beethoven, Schumann, Brahms, Verdi, Puccini, Offenbach, Strauss, Ravel, Strawinsky und Berg.
Schließlich dirigierten die drei Finalisten das Abschlusskonzert mit Sängern, Gürzenich- und WDR-Orchester, in dessen Anschluss die Preise verkündet wurden: Den Ersten Preis erhielt Julio García Vico (*1992, Spanien), den Zweiten Gábor Hontvári (*1993, Ungarn) und den Dritten Chloé van Soeterstède (*1988, Frankreich). Den Vorsitz der siebenköpfigen Jury führte der Dirigent Lothar Zagrosek, der selbst bei Hans Swarowsky, István Kertész, Bruno Maderna und Herbert von Karajan studierte und diverse GMD-Stellen und Intendanzen innehatte. Als Ehrenvorsitzender des Wettbewerbs firmierte der Dirigent und Musikwissenschaftler Peter Gülke, der ebenfalls in mehreren Städten wirkte und 2014 mit dem Ernst von Siemens Musikpreis ausgezeichnet wurde. Im Vorfeld des 2. Deutschen Dirigentenpreises gaben beide Dirigenten Auskunft über Anforderungen, Qualifikationen und das veränderte Rollenbild des Dirigenten heute.
neue musikzeitung: Wie haben Sie beim Deutschen Dirigentenpreis aus 91 eingegangenen Bewerbungen die Vorauswahl getroffen?
Lothar Zagrosek: Wir haben Videos geschickt bekommen und diese dann individuell nach jeweils eigenen Maßstäben bewertet. Dann haben wir uns drei Tage zusammengesetzt und zwölf Kandidaten ausgewählt, mit drei oder vier in der Reserve, falls jemand abspringt. Jetzt wollen wir im Realitäts-Check sehen, ob die Bewerber auch wirklich ihrer Video-Vorstellung entsprechen, denn das Medium kann auch manipulativ sein.
nmz: In welchem Verhältnis sehen Sie Quantität und Qualität der Bewerber?
Peter Gülke: Da ist Masse und Klasse. Und das auseinander zu kriegen, bleibt immer ein ganz großes Problem. Wir haben die zwölf Kandidaten zuerst nur am Klavier mit Sängern erlebt, und bei diesem Stand der Dinge steht mir noch kein Urteil zu. Wir haben zu oft erlebt, dass Leute, die am Klavier gut waren, es vor dem Orchester nicht mehr waren, und umgekehrt. Das hängt damit zusammen, dass unser Beruf mit so außerordentlich unterschiedlichen Qualifikationen verbunden ist, die bei jedem etwas anders entwickelt sind. Deswegen fällt eine endgültige Urteilsbildung oft sehr schwer. Ich finde es daher gut, wenn die Mitglieder der Jury Kontroversen austragen und sich das Urteilen schwer machen.
Zagrosek: Der Vorteil von Masse ist, dass dann vielleicht auch mehr Klasse übrig bleibt. Wenn sich nur ganz wenige bewerben, ist die Gefahr groß, dass nichts wirklich Nennenswertes dabei ist. Ich denke aber, wir haben einige sehr interessante Leute ausgesucht.
nmz: Der Deutsche Dirigentenpreis umfasst neben Preisgeldern in Gesamthöhe von dreißigtausend Euro überdies Konzertengagements der Preisträger bei den kooperierenden beiden Kölner Orchestern sowie bei Orchestern in Bonn, Hof, München, Nürnberg und Landau. Ist der Musikbetrieb so undurchlässig, dass es Wettbewerbe braucht, um Opernhäuser und Orchester auf neue Talente hinzuweisen?
Zagrosek: Unabhängig von den Institutionen ist erst einmal wichtig, dass die Dirigenten selbst so einen Wettbewerb brauchen, unbedingt! Ein Dirigent hat ja kein Instrument, mit dem er durch die Welt ziehen könnte. Ein Orchester lässt sich schlecht einpacken. Die wenigen Gelegenheiten, die man hat, ein Orchester zu dirigieren, auch zur Selbstvergewisserung, muss man nutzen. Dazu ist ein Wettbewerb da. Außerdem bedarf es bei einem so breiten Repertoire, wie man es beim Wettbewerb abliefern muss, einer ganz speziellen Art der Vorbereitung, die einem im späteren Beruf unheimlich nützlich ist. Man muss wichtige Stücke sofort präsent und eine klare Probenstrategie haben, und das alles hundertprozentig abliefern können. Das wird in keiner Hochschule vermittelt. Doch genau das finde ich unheimlich wichtig.
Gülke: Ein weiterer wichtiger Faktor ist, dass sich die interessantesten Vertreter der jungen Dirigentengeneration bei uns im Wettbewerb auch untereinander kennen lernen. Manchmal hatte ich bei Kursen den Eindruck, die Teilnehmer lernen voneinander mehr als von uns Unterrichtenden. Ein Wettbewerb ist ein Sammelpunkt, der die Kommunikation unter den Dirigierenden ermöglicht. Etliche Generalmusikdirektorenstellen sind inzwischen von ehemaligen Teilnehmern des Dirigentenforums besetzt. Dem steht freilich gegenüber, dass manche, die bei uns rausgeflogen sind, trotzdem ihren Weg gemacht haben und dass auch manche ihren Weg grandios gemacht haben, die überhaupt nicht bei uns waren. Dieses Risiko gehört zur Institution Dirigentenpreis dazu. Aber immer wenn ich bis in die letzte Zeit im Ausland mit jungen Dirigenten gearbeitet habe, habe ich erfahren, wie sehr man Deutschland um diesen Wettbewerb beneidet.
nmz: Sind die Orchester und Opernhäuser in Deutschland zu ängstlich bei Engagements junger Talente?
Zagrosek: Die Frage ist: Wer ist bei diesen Opernhäusern und Orchestern für die Auswahl der Dirigenten zuständig? Da sieht es in der Tat trübe aus in Deutschland, finde ich. Es gibt ganz, ganz wenige Intendanten, die das Thema wirklich beherrschen. Sie können eher noch Sänger beurteilen, aber kaum über Dirigenten Auskunft geben. Freilich kann ein Vordirigat auch nur einen kleinen Ausschnitt dessen zeigen, was ein Dirigent wirklich kann und später auch braucht. Aus der Vielzahl an Dirigenten den richtigen für eine bestimmte Aufgabe auszuwählen, ist wirklich keine leichte Aufgabe. Daher ist eine Einrichtung wie der Deutsche Dirigentenpreis sehr hilfreich, weil eine soche Auszeichnung auch ein Qualifikationsmerkmal sein kann, auf das sich Intendanten bei der Suche nach Dirigenten berufen können.
Einer der letzten Universalisten
nmz: Der Opern- und Konzertbetrieb stellt sehr verschiedene Anforderungen. Lassen sich dennoch wesentliche Fähigkeiten benennen, die ein Dirigent unbedingt haben sollte?
Gülke: Man braucht unglaublich unterschiedliche Qualifikationen. Wenn ich mich unter Kollegen umgucke, so hat der eine ein wahnsinnig gutes Gehör, ist aber kein guter Musiker, oder umgekehrt. Dann gibt es Leute, die sind schlagtechnisch sehr gut, aber versenden musikalisch „nüscht“. Es gibt auch Leute, die einfach in ihrer Persönlichkeitswirkung auf das Orchester sehr suggestiv wirken und zum Beispiel eine besonders ausgepichte Dirigiertechnik gar nicht nötig haben, um zu Ergebnissen zu kommen, für die andere sehr viel länger brauchen. Gerade in einer Zeit, in der die Spezifikation immer weiter geht, finde ich es sehr wichtig, dass wir auch das Bewusstsein aufrecht erhalten, dass ein Dirigent einer der letzten Universalisten ist. Er soll nach Möglichkeit für die Musik von Henry Purcell bis Helmut Lachenmann zuständig sein und nicht – was wir ja im Moment sehr stark erleben – zu früh zu sehr spezialisiert, wie es die Musikwelt leider liebt: Für bestimmte Sachen lädt man diesen Dirigenten ein, für andere Dinge den anderen. Gegen diese Tendenz zur Spezialisierung eine gewisse Universalität in Bildungsfragen aufrechtzuerhalten, finde ich wahnsinnig wichtig.
Zagrosek: Das kann ich nur unterstreichen. Doch gibt es beim Dirigieren auch eine untere Ebene von Dingen, die man auch unabhängig von der Persönlichkeit eines Dirigenten abchecken kann: Körpersprache, Handwerk, Klarheit des Schlags und Probendisposition, also dass man eine Strategie hat, wie man drei Tage probiert und genau weiß, was man am ersten Tag geschafft haben muss.
Gülke: Wir stehen ja heute Orchestern gegenüber, die spieltechnisch insgesamt höhere Ansprüche haben als vor fünfzig Jahren. Noch zu meiner Studienzeit war ein Stück wie Strawinskys „Die Geschichte vom Soldaten“ ein Stück von alleroberster Schwierigkeit, rein schlagtechnisch. Heute liegen die Probleme eher darin, wie ich mit einem 2/4-Andante von Haydn umgehe. Man kommt kaum mehr zu einem Orchester, in dem nicht irgendwelche Spezialisten sind, die sich mit historischer Aufführungspraxis auskennen oder über die Handhabe aleatorischer Verfahrensweisen gut Bescheid wissen. Der sehr erfreuliche Anstieg spieltechnischer Qualitäten in allen Orchestern stellt dann aber auch höhere Anforderungen an uns Dirigenten. Da dürfen elementare Verständigungskategorien dann keine Rolle mehr spielen – also wie gebe ich einen Auftakt oder wie schätze ich ein, was ein Orchester beim nächsten Mal von selbst korrigiert.
Zagrosek: Das Repertoire, das die Bewerber jetzt beim Dirigentenpreis proben und leiten werden, ist sehr divers. Mir waren dabei zwei Dinge wichtig: zum einen, dass man die Dirigenten daraufhin testet, wie sie mit neuer Musik umgehen; zum anderen, wie bewähren sie sich in der Oper, denn das gibt es in keinem anderen Wettbewerb. Doch gerade das ist eine typisch deutsche Komponente, weil der Musikbetrieb in den deutschsprachigen Ländern vor allem auf dem Theater- und Opernwesen basiert. In der Breite braucht man Konzert und Oper, die sich gegenseitig befruchten. Was man im Symphonischen an Präzision erwartet, braucht man auch in der Oper, und was man dort an Kreativität und Spontaneität abliefern muss, das tut auch im Konzert gut.
„Lass die Finger davon!“
nmz: Die Persönlichkeit spielt bei jedem Musiker eine Rolle, beim Dirigenten aber wohl in besonderer Weise. Wann tritt ein Musiker aus der direkten instrumentalen Hervorbringung von Musik heraus, um als Dirigent andere beim Musizieren anzuleiten? Wie war das bei Ihnen?
Zagrosek: Die Frage nach der eigenen Disposition als Dirigent will ich nicht so persönlich beantworten, kann dazu aber eine sehr erhellende Anekdote liefern. Mein Vater war Geiger und wollte auf keinen Fall, dass ich Dirigent werde, denn für ihn waren Dirigenten alle Verbrecher. Und meine Schwester war am Bayerischen Rundfunk die Sekretärin von Herrn Ulrich Dibelius. Eines Tages schickte mich mein Vater mit meiner Schwester mit, damit sie mich dem Dibelius vorstellt und der mich mal anschaut und abschätzt, ob aus mir ein Dirigent werden könnte. Ich war also bei Dibelius und habe mich mit ihm unterhalten. Und als ich dann draußen war, sagte meine Schwester zu mir: „Du, der hat g’sagt, das hat überhaupt keinen Sinn. Lass es! Lass die Finger davon!“ Das war doch irgendwo eine Fehleinschätzung.
nmz: War Dibelius als studierter Musikpädagoge und Redakteur für neue Musik am BR überhaupt berufen, ihre Befähigung zur Dirigentenlaufbahn zu beurteilen?
Zagrosek: Im Ergebnis jedenfalls nicht. Das ist aber typisch dafür, dass Persönlichkeiten sich auch entwickeln können, und dass man nicht mit dem ersten Blick den Daumen heben oder senken darf. Das gilt natürlich auch für unseren Wettbewerb. Eine authentische Persönlichkeit ist für mich jemand, der nicht behaupten will, dass er mit etwas in jedem Fall Recht hat, der aber dennoch gegenüber anders Denkenden seine Auffassung und Überzeugung total vertritt. Das ist glaube ich eine Haltung, die für einen Dirigenten wichtig ist, und zugleich nicht ausschließt, dass sich die persönliche Einstellung zu einer Literatur im Laufe des Lebens verändert, man früher etwas so gemacht hat und jetzt anders.
Gülke: Wer ist zum Dirigenten berufen? Ganz schwierige Frage. Wir kennen auch viele Musiker und Sänger, die in dem, was sie musikalisch produzieren, viel stärkere und viel eindeutiger definierbare Persönlichkeiten sind als im täglichen Umgang. Die Frage nach der Persönlichkeit des Dirigenten ist schon wahnsinnig wichtig. Ich würde da generell sagen: Persönlichkeit lässt sich nicht unterrichten.
Doch ich will damit nicht sagen, dass das nicht auch wachsen kann. Auch das Moment der Ermutigung gehört zum Dirigierunterricht, wenn ich merke, dass ein Delinquent überhaupt befähigt ist. Wir Dirigenten stehen alle im Wind. Immer wieder sind wir in Wettbewerbssituationen. Selbst wenn ich mit einem Orchester arbeite, das ich bereits kenne und das mich vielleicht sogar schätzt, und ich dort nun schon zum dritten Mal die gleiche Sinfonie mache, dann ist trotzdem jede Probe für mich eine Prüfungssituation – jedes Mal, jedes Mal! Jedes Konzert und jede Oper, die wir dirigieren, bringt eine Prüfungssituation mit sich. Schwierige Stellen, die wir alle haben, kommen auf die Zehntelsekunde auf uns zu und dem können wir uns nicht entziehen.
Zagrosek: Und wir können sie auch nicht korrigieren, wenn sie gewesen sind.
Gülke: Wenn es verhauen ist, ist es verhauen. Daran können Menschen dann natürlich auch wachsen. Ich habe es mehrmals erlebt, dass aus Schülern, von denen ich dachte, wie wird der sich wohl unter dem scharfen Wind dieses Berufs behaupten, richtig gute Leute geworden sind, die dann genau die Sorte von Selbstbewusstsein hatten, die man als Dirigent braucht, um dem Gegendruck selbst von gutwilligen sechzig oder achtzig Musikern im Orchester Stand zu halten. Alle zusammen im Orchester bringen ja eine mir turmhoch überlegene Summe an Wissen und instrumentaler Spezifikation mit. Und trotzdem muss ich als Dirigent dem auf meine Weise überlegen sein, indem ich vielleicht Dinge über ein Stück weiß, die die allerwenigsten wissen. Dieser Druck auf dem Dirigenten ist auch etwas sehr Heilsames, denn er führte mich selbst nicht selten dazu, dass ich in Zeiten der wilden beruflichen Tätigkeit manchmal zu einem Stück – das ich machen musste – vor den ersten Proben während meiner viel längeren eigenen Vorbereitungszeit kein wirkliches Verhältnis aufbauen konnte, dass dann aber bei der Arbeit zusammen mit dem Orchester dennoch etwas entstanden ist. Diesen Zwang zur Bejahung zu erleben, ist eines der großen Glücksgefühle.
Ausbildungsnester?
nmz: Fünf Bewerber des diesjährigen Deutschen Dirigentenpreises kommen aus Deutschland. Fallen Ihnen hier Hochschulen mit besonders guten Absolventen auf? Gibt es „Nester“ mit besonders erfolgreich arbeitenden Lehrern?
Gülke: Ja, die gibt es. Wir wussten eine Zeit lang, dass aus Berlin, als dort Hans-Dieter Baum unterrichtete [1979 bis 2001] oder jetzt auch bei Christian Ewald [seit 2002], ganz viel kommt. Oder aus Weimar von Gunter Kahlert [ab 1982], der den Dirigierunterricht dort wesentlich geprägt hat, oder von Klauspeter Seibel in Hamburg [seit 1978]. Da gab es immer ein paar Nester, wo man sagte, das wird gut. Da sah man auch eine bestimmte Prägung sehr unterschiedlicher Leute durch einen charakteristischen Lehrer. Aber das wechselt, weshalb es nie dazu führen darf, dass wir auf jeden Fall den aus Weimar nehmen und den aus soundso nicht, weil wir da nichts Gutes gehört haben. Solche Vorurteile gibt es in unserem Wettbewerb nicht.
Zagrosek: Es gibt in Deutschland auch nicht so jemanden wie Hans Swarowsky früher in Wien [1946 bis 1975] oder den Finnen Jorma Pamula [1973 bis 1994 in Helsinki, Stockholm und Kopenhagen] oder den Italiener Franco Ferrara [1947 bis 1981 in Rom], der auch immer in Siena unterrichtet hat. Das waren die großen Dirigierlehrer aus meiner Studienzeit. Auch Zubin Metha hat bei Ferrara gelernt. Ich erinnere mich noch daran, dass Ferrara immer gesagt hat: „Dieser Indianer“ statt Inder.
Gülke: Swarowsky selbst war kein überragender Dirigent.
Zagrosek: Nein, überhaupt nicht. Er hat nur ein starkes künstlerisches Ethos vermittelt, das war seine ganz große Stärke. „Die Partitur ist unsere Dienstanweisung“, das war einfach sein Wort, darüber hinaus gab es für ihn nichts.
Mehr Frauen in der Jury
nmz: In vielen Bereichen des Berufslebens werden Frauen gegenwärtig besonders gefördert. Beim Deutschen Dirigentenpreis gibt es dieses Jahr unter zwölf Bewerbern jedoch nur eine einzige Dirigentin. Warum?
Zagrosek: Es haben sich nur ganz wenige Frauen angemeldet, nur etwa zehn Prozent aller Bewerber. Und man kann natürlich nicht einfach jemanden nehmen, nur weil es sich um eine Frau handelt. Wir hatten zwei Frauen in der Auswahl, von denen wir der festen Überzeugung waren, dass sie im Wettbewerb ganz weit kommen. Doch eine hat abgesagt, so dass jetzt nur eine übrig geblieben ist. Wir haben aber mehr Frauen in der Jury, und ich habe auch den Beirat des Dirigentenforums so verändert, dass wir dort jetzt viele sehr kompetente Frauen haben.
nmz: Ist im Hinblick auf die Studierenden an den Hochschulen das Dirigieren immer noch eine Männer-Domäne?
Gülke: Ich würde sagen, es ist eines der Verdienste, die sich das Dirigententum ein bisschen auf sein Konto buchen kann, dass sich bei den Orchestern der Sinn für dirigierende Frauen sehr verändert hat. Ich weiß noch genau, wie es vor dreißig Jahren gegenüber Dirigentinnen einen frotzeligen oder auch anzüglichen Ton in den Orchestern gab, was die armen Frauen – ich hatte in meinen Klassen immer auch Studentinnen – natürlich wahnsinnig eingeschüchtert hat. Das war zum Teil ziemlich schlimm, so dass ich manchmal mächtig dazwischen- gedonnert habe. Das gibt es heute nicht mehr, denn die Musiker haben gemerkt, dass Dirigieren doch nicht so leicht ist. Da steht nicht nur einer oder eine und sortiert Luft.
Zagrosek: Die Widerstände gegenüber Frauen kamen meiner Erfahrung nach vor allem von den Frauen im Orchester. Die waren besonders bissig gegen Dirigentinnen. Die Männer waren amüsiert, interessiert, aber die Frauen haben es denen nicht gegönnt, dass sie da vorne stehen. Das habe ich immer wieder erfahren.
Partner statt Untergebene
nmz: Auch die Zusammensetzung der Orchester hat sich in den letzten dreißig Jahren ja sehr verändert, gerade auch was den Anteil von Frauen in allen Instrumentalgruppen betrifft, so dass auch Dirigentinnen viel selbstverständlicher erscheinen.
Zagrosek: Inzwischen wird das Spiel im Orchester ja ein richtiger Frauenberuf. In der Jungen Deutschen Philharmonie gab es bei einem Jahrgang in der ersten Geige überhaupt keinen einzigen Mann mehr. Hinzu kommen Ensembles wie das Ensemble Modern, die auf ganz andere Art und Weise funktionieren. Diese Ensembles haben bewiesen, dass Dirigent und Musiker vollkommen auf Augenhöhe miteinander Musik machen können. Das hat dazu geführt, dass sich auch in den Kulturorchestern das Verhältnis zwischen Dirigent und Musikern etwas verschoben hat. Ich selbst empfinde es als eine große Erleichterung, wenn ich als Dirigent im Orchester einen Partner habe und den auch als einen richtigen Partner behandeln kann, statt nur Untergebene darin zu sehen, die umgekehrt im Dirigenten jemanden in der Hierarchie höherstehenden wahrnehmen.
nmz: Inwiefern hat sich das Selbst- und Berufsbild des Dirigenten in den letzten Jahren verändert?
Gülke: Das hat sich von zwei Seiten verändert. Auf der einen durch die erstaunlichen Ergebnisse was Aufführungspraxis betrifft. Die besten Resultate sind ja zunächst dadurch erzielt worden, dass Musiker Dinge miteinander ausprobiert haben. Wenn ich als Dirigent ein schweres Programm mit Stücken von Mozart in wenigen Proben einstudieren muss, dann bin ich von vorneherein unter Zeitdruck. Bei gleichberechtigten Verhältnissen zwischen Ensemble und Dirigent kommt es aber vielleicht nicht so darauf an, ob wir auch einmal länger zusammen sitzen und dann eben noch dies oder jenes ausprobieren können. Die andere Sache ist die zeitgenössische Musik. Wenn ich ein Werk von LutosÅ‚awski dirigiere, dann kann ich nicht mehr jeden Musiker kontrollieren, im Unterscheid zu einer Brahms-Symphonie, wo ich sagen kann, der zweite Oboist ist zu tief. Schon von der Konstellation her ist in vieler neuer Musik gegenseitiges Vertrauen aller Mitwirkenden mitgesetzt. Ich kann an lauten Stellen einer aleatorischen Komposition kaum erkennen – was schon vorgekommen ist –, dass einer in aller Seelenruhe „Hänschen klein“ reinspielt.
Zagrosek: Das haben Musiker sogar in Bayreuth unter Boulez gemacht, als sie ein Stück aus „Carmen“ reingespielt haben und Boulez es nicht bemerkt hat. Das Bild des Dirigenten ist dem gleichen gesellschaftlichen Prozess unterworfen wie alle anderen Berufe. Durch die große Aufmerksamkeit, die Medien auf Dirigenten richten, wird deren Bild total überhöht. Zugleich ist die Gesellschaft aber demokratischer, offener, durchlässiger und toleranter geworden. Das setzt dann auch voraus, dass der Dirigent nicht bloß auf seinen Titel „Generalmusikdirektor“ pochen kann, sondern dass er Überzeugungsarbeit leisten muss.
nmz: Sehen Sie etwas Generationsspezifisches, das den heutigen Dirigentennachwuchs verbindet?
Zagrosek: Ich spüre, dass bei jungen Dirigenten Berührungsängste mit der Unterhaltungs- und Popmusik, die bei mir ganz stark sind, kaum mehr eine Rolle spielen. Da wird gerne etwas ausprobiert und werden aus meiner Sicht ganz nonchalant auch rote Linien überschritten.
Gülke: Ich fühle mich für diese Seite der Musik inzwischen fast mit Wonne inkompetent, aber akzeptiere das, obwohl es nichts für mich ist. In meiner Anfangszeit als Dirigent habe ich noch Leute kennen gelernt, die haben in der sogenannten Stadt-Pfeife gelernt und neben dem Orchesterdienst alles u u gemacht, auf Tanzböden gespielt oder auch im Posaunenchor im Gottesdienst. Heute sind es eben Leute, die auch mal Jazzen. Ich schätze diese Musiker sehr, weil sie oft eine Lockerheit und Unmittelbarkeit mitbringen in der musikalischen Äußerung, die ich ganz toll finde. Ich stehe nicht im Ruf, diese Sachen zu begünstigen, aber ich erfreue mich daran.
Zagrosek: Das betrifft die ausführenden Musiker, nicht die Dirigenten. Ich selbst habe schon Probleme, zum Beispiel Stücke von John Adams zu machen oder Ähnliches. Ich finde, das gehört nicht in den Konzertsaal. Das gab es jetzt sogar in der Münchner musica viva. Was hat solche Musik in dieser Konzertreihe zu suchen?
nmz: Den ersten Deutschen Dirigentenpreis 2017 gewann Hossein Pishkar. Er wurde 1988 in Teheran geboren und kam 2012 zum Studium bei Rüdiger Bohn an die Robert Schumann Hochschule Düsseldorf. Haben Sie verfolgt, was aus ihm geworden ist?
Zagrosek: Ja, nachdem er zum Beispiel bei Riccardo Muti einen Kurs gemacht hat, ist er von diesem sofort zu einem Festival eingeladen und für Opernproduktion und alles Mögliche engagiert worden. Außerdem hat er hier in Köln beim WDR-Sinfonieorchester und einer Reihe von anderen Orchestern Engagements gehabt. Allerdings haben es noch nicht alle Orchester, die sich zum Wettbewerb bekannt haben, hingekriegt, den ersten Preisträger auch wirklich einzuladen. Das lag manchmal an beiden Seiten, wo dem Preisträger Programme vorgeschlagen wurden, die er dann zurückgewiesen hat, woraufhin ihm gesagt wurde: Dann eben nicht. Es ist aber das Recht eines jungen Dirigenten, dieses oder jenes nicht zu machen, weil ein so starker Fokus auf seinem jungen Berufsleben liegt. Wenn jemand dreimal Lachenmann macht, dann ist er für sein restliches Leben ein Dirigent für Neue Musik. Dass man gerade am Anfang der Karriere nicht so abgestempelt sein will, kann ich total verstehen. Hossein Pishkar macht einen erfreulichen Weg. Ich habe ihn damals ganz toll gefunden und mich von Anfang an hundertprozentig für ihn eingesetzt.
nmz: Was wünschen Sie den jetzigen Wettbewerbsteilnehmern?
Gülke: Viele Gelegenheiten, zu dirigieren. Das klingt banal, ist aber die Hauptsache. Mir hat der alte Kurt Sanderling immer gesagt, als ich einmal völlig resigniert und zeitweilig auch aus diesem Beruf ausgestiegen war: „Dirigieren lernt man nur vom Dirigieren.“
Zagrosek: Ein Wettbewerb soll nicht dazu führen, dass jemand, der nicht gewinnt, resigniert. Der soll im Gegenteil den Vorwärtsgang einlegen und sagen: „Jetzt erst recht!“ Und diejenigen, die gewinnen, sollen keinen Übermut zeigen, weil sie wissen müssen, dass das nur ein erster Schritt in die richtige Richtung auf dem beruflichen Weg ist, sie dann aber ganz alleine weiter machen müssen. Es hilft einem kein Mensch und auch der Preis im Rücken nichts, wenn man sich nicht selbst total einbringt.
Interview: Rainer Nonnenmann