Der Hamburger Instrumentalwettbewerb „TONALi“ macht vieles anders als herkömmliche Wettbewerbe. Elitenförderung? Ja bitte – aber dann soll diese Elite der klassischen Musik den Weg in die Zukunft weisen. Ein Bericht.
Bei diesem Wettbewerb ist für die Teilnehmer erstmal Zuhören angesagt. Zwölf junge Geiger treten bei „TONALi 14“ an, doch die Uraufführung am Eröffnungsabend in der Kulturkirche in Hamburg-Altona bestreitet eine Kollegin, während die zwölf im Publikum sitzen. Hannah Burchardt, selbst noch Musikstudentin, hat sich „bipolar for violin solo“ von Martin Sadowski erarbeitet und trägt das komplexe, überaus geigerisch gedachte Stück umwerfend lebendig vor. Bevor einer der Teilnehmer einen Ton gespielt hat, wird schon ein Preisträger geehrt: Sadowski bekommt den Kompositionspreis, den TONALi ausgeschrieben hat, um das Werk als Pflichtstück ins Programm des Instrumentalwettbewerbs zu nehmen.
Zwölfmal wird „bipolar“ am nächsten Tag in der Vorrunde A erklingen. Dann werden die zwölf Geiger spielen, als Konkurrenten. An diesem Abend aber umarmen sie einander wie alte Freunde und drängen sich mit ihren Geigenkästen in eine Kirchenbank, möglichst dicht beisammen. Freundschaft gehört gewissermaßen zum Konzept bei diesem etwas anderen Wettbewerb. Die Organisatoren und Gründer Amadeus Templeton und Boris Matchin, beide selbst gestandene Cellisten, beschränken sich eben nicht darauf, Kandidaten und Juroren so lange in ein Schulgebäude zu stecken, bis ein Sieger feststeht und den anderen nur bleibt, im Stillen ihre Wunden zu lecken. Der Wettbewerb ist für sie ein Mittel zum höheren Zweck. „Der Zukunft Gehör verschaffen“, dieser Slogan leuchtet in TONALi-Pink bei all den Veranstaltungen, die sich in diesen Tagen durch die Stadt ziehen.
Dem Menetekel des Konzertbetriebs, das Publikum sterbe aus, begegnen Templeton und Matchin mit geradezu radikaler Entschlossenheit. „Die klassische Musik hat sich viel zu lange ausgeruht. Wenn sie relevant sein will, muss sie ihre Aktualität beweisen“, sagt Templeton. „Jeder Musiker muss das immer wieder tun. Das geht nur aus der gemeinschaftlichen Kraft heraus.“
Deshalb schmieden sie die Teilnehmer zusammen, so eng es geht. Wer einmal bei TONALi mitgemacht hat, bleibt dem Netzwerk verbunden. „Tonalisten“ nennen sich die jungen Musiker augenzwinkernd. Deshalb spielt Hannah Burchardt, die 2010 am Violinwettbewerb teilnahm, beim Eröffnungsabend; deshalb führen die Gewinner der vorigen Wettbewerbsjahrgänge als Klaviertrio gemeinsam mit dem Ensemble Elbtonal Percussion eine fulminante Bearbeitung von Schostakowitschs 15. Sinfonie auf.
Die Vorjahressiegerin Elisabeth Brauß ist tags darauf bei einem Preisträgerkonzert der besonderen Art zu erleben. In einer Filiale der Hamburger Drogeriekette Budnikowsky verschmelzen die Klavierklänge zunächst mit dem Kassenklingeln und dem Rauschen der Rolltreppe. Aber diese hier kommen nicht vom Band. Zwischen Regalen voller Seife und Kräuterteesorten spielt eine junge Frau an einem Stutzflügel eben keine Salonschmonzetten, sondern Haydn und Liszt.
Brauß erzählt ihrem Zufallspublikum, dass Czerny die fröhlich-virtuosen Variationen über Schuberts Sehnsuchtswalzer schrieb, nachdem er vom Tod des Kollegen erfahren hatte. Und die Leute halten inne, sie setzen sich, die Einkaufstüten auf dem Schoß. Mit dem tiefen Ernst ihres Tuns, ihrer sprechenden Artikulation, einer Agogik wie hingegossen gelingt es der jungen Pianistin, ihre Hörer zu ergreifen. „Sie spielt wunderschön“, sagt eine Frau selbstvergessen. Vom Wettbewerb wusste sie noch gar nichts, aber als sie geht, klemmt das Programmbuch unter ihrem Arm.
Wie stark die Wirkung der Musik von der Beziehung zwischen Interpret und Zuhörern abhängt, zeigt sich besonders in der Vorrunde B im Miralles-Saal der Jugendmusikschule. An den beiden anderen Tagen zeigen die Teilnehmer – viele von ihnen in jungen Jahren international preisgekrönt – ihr beachtliches geigerisches Niveau; jetzt sollen sie dem Publikum, darunter 24 Schüler aus 12 Hamburger Schulen, ein Werk nahebringen. Welches und wie, das steht ihnen frei. Was die Sache nicht leichter macht, auch wenn sie im Frühjahr bereits einen TONALi-Workshop in Sachen Musikvermittlung absolviert haben. Der eine bringt den Saal zum Lachen, indem er alle Anwesenden gleichzeitig ihre Namen rufen lässt. Als er dann zu Gounods „Ave Maria“ über musikalische Epochen doziert, lässt die Aufmerksamkeit der Schüler spürbar nach. Der Südkoreaner Alexander Kim erzählt federleichte, persönliche Aperçus rund um „Li-Na im Garten“ von seinem Landsmann Isang Yun. Bei ihm stimmen Timing und Kontakt. Doch als der erst 17-jährige Leonard Fu die Bühne betritt, scheint ein Windhauch durch die Reihen der Zuhörer zu gehen, noch bevor Fu mit fast kindlichem Charme und viel Esprit ein selbstverfasstes Gedicht über den Puls der Musik vorträgt und sein Thema mit dem Eingangssatz aus der g-Moll-Solosonate von Bach illustriert.
„Ich würde mir nicht Unmengen an Klassik runterladen“, sagt Moritz Rohde, der die zehnte Klasse eines Hamburger Gymnasiums besucht. „Aber wenn im Konzert alle ganz still zuhören, zieht die Musik einen schon in den Bann. Eine Geige ist so ein kleines Instrument, aber da kommt so viel raus!“ Moritz ist ein Schülerjuror, wie es bei TONALi heißt. Das ist wieder so ein Kniff: Wir wollen die Klassik in die nächste Generation tragen? Dann soll sie auch aktiv dabei sein.
„Ich bin so neugierig, was ihr entschieden habt“, sagt die Geigerin Natalia Prishepenko bei der Feedbackrunde am Abend. Prishepenko, ehemals Primaria des Artemis Quartetts, gehört der illustren siebenköpfigen Jury an. Auch die Agentin Sabine Frank ist dabei, der Londoner Geigenbauer Florian Leonhard und die Geigerin Baiba Skride. Aber den Musikvermittlungspreis verleiht nicht die Jury, den verleihen die Schüler. Und zwar, das war zu ahnen, an Leonard Fu, Jungstudent bei Tanja Becker-Bender an der Hamburger Musikhochschule.
Jeder Teilnehmer hat die Patenschaft für eine der zwölf Schulen übernommen und gibt während seines TONALi-Jahrs dort Konzerte. „Es war toll, zu sehen, wie aufmerksam die Kinder waren, die sonst am lautesten sind oder nicht auf den Lehrer hören“, erzählt Rajika Nagpal von der Stadtteilschule Süderelbe. Ihre Familie kommt aus Afghanistan; mit westlich klassischer Musik ist sie erst durch den Schulchor in Berührung gekommen. „Musikhören entspannt mich“, beschreibt sie die Wirkung klassischer Musik auf sie. „Da denkt man mal nach.“ Wie Nagpal sind viele Schüler aus weniger privilegierten Stadtteilen mit fühlbarer Begeisterung dabei. Insgesamt ist das Echo auf das Angebot freilich gemischt. Aus dem humanistischen Gymnasium Christianeum etwa wird kolportiert, das Ganze sei den Schülern zu uncool.
Es bleibt harte Arbeit, die nächste Generation zu erreichen. Und das ist nicht das Einzige. Templeton und Matchin werben unablässig um Förderer. Seit TONALi 2010 zum ersten Mal stieg, haben die beiden eine beachtliche Riege von Sponsoren gewinnen können. „Wir hatten nichts als einen Zettel und unsere Überzeugung“, erinnert sich Matchin. Mit ihren Ideen und einem hochprofessionellen Businessplan knackten sie manches Kaufmannsherz. Die Hans-Kauffmann-Stiftung ermög-licht die Durchführung, die Oscar und Vera Ritter-Stiftung gibt die 10.000 Euro für den Hauptpreis. Aber obwohl die Unterstützerliste im Programmbuch eine Doppelseite einnimmt, ist das Gesamtbudget nach wie vor ein Bruchteil von dem anderer Wettbewerbe – und die bestreiten davon nicht auch noch ganzjährig Begleitprogramme.
Die Workshops, Projekte und kleinen Konzerte sind der Stoff, aus dem die Gemeinschaft der Teilnehmer entsteht. Beim Warten auf die Bekanntgabe der Finalisten hocken die zwölf auf einem Mäuerchen vor dem Miralles-Saal wie auf dem Schulhof und versuchen, ihre Nervosität zu überspielen. Die Mädchen kichern und halten Händchen, einer wirft sich in die Brust und mimt einen Salon-Paganini. Doch als sie auf der Bühne stehen, die zwölf, da kann man geradezu anfassen, wie es zwischen Freundschaft und Rivalität knirscht. „Ihr habt uns in den vergangenen Tagen wunderbare musikalische Geschenke gemacht“, sagt Amadeus Templeton. Alexander Kim, Leonard Fu und die Amerikanerin Mayumi Kanagawa dürfen ins Finale, die anderen stehen daneben und bemühen sich sichtlich, ihre Gesichtszüge zu kontrollieren.
Zwei Tage später nehmen die neun fröhlich ihre Plätze in der ersten Reihe im Großen Saal der Laeiszhalle ein. Der Saal summt vor Erwartung, auch wenn es den Schulen nicht gelungen ist, den Saal ganz auszuverkaufen – auch das wieder ein Wettbewerb: Beim „TuttiContest“ gewinnt diejenige Schule, die die meisten Tickets verkauft. Seit Wochen ist der Stand des Kartenverkaufs in Echtzeit auf der Website zu verfolgen.
Kanagawa und Kim haben sich beide das Violinkonzert von Tschaikowsky ausgesucht. Der direkte Vergleich ist ebenso aufschlussreich wie aufregend: Kanagawa präsentiert sich als vollendet souveräne, fast abgeklärte Interpretin; Kim gestaltet anrührend persönlich, kämpft aber mit Gedächtnislücken und auch mit einigen Spitzentönen. Und nach der Pause kommt Leonard Fu. Tritt auf, geigt und gewinnt, was es an diesem Abend zu gewinnen gibt: den Hauptpreis, eine wertvolle Geige als Dauerleihgabe und auch noch den Publikumspreis. Seine unbekümmerte Hingabe an die Musik hat ihn bis ins Finale getragen. Während er Mendelssohns Violinkonzert musiziert, mit Esprit und samtpfötchenhafter Einfühlsamkeit begleitet von der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen unter Alexander Shelley, strahlt Fu übers ganze Gesicht und gleicht mit seiner Spielfreude aus, dass er trotz seiner beeindruckenden Leistung geigerisch noch Boden gutmachen muss, um an die beiden anderen Finalisten anzuschließen.
Schade, dass für die so gar keine Ehrung abfällt. Für die elf Übrigen muss es bittersüß sein, mit all den Juroren, Stiftern und Rednern auf der Bühne zu stehen, während der Saal den Publikumsliebling Fu feiert. Aber wer Solist werden will, muss auch solche Momente aushalten. Wenn es nach TONALi geht, bleiben die Teilnehmer untereinander verbunden. Der Termin für den nächsten Workshop steht schon fest. Erst einmal aber gehen sie alle miteinander tanzen.