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Olympisches Höher – Schneller – Weiter? Oder gemeinsam musizieren? Teilnehmerin vor Jury beim Bundeswettbewerb Jugend musiziert 1972. Foto: Bernd Böhner
Olympisches Höher – Schneller – Weiter? Oder gemeinsam musizieren? Teilnehmerin vor Jury beim Bundeswettbewerb Jugend musiziert 1972. Foto: Bernd Böhner
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Competition heißt gemeinsam streben

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Um die Wette: Gedanken zum Phänomen des Musikwettbewerbs
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Der Wikipedia-Artikel „Musikwettbewerb“ ist kurz und suggeriert, dass es sich bei dieser Erscheinung in der Musikwelt um etwas Normales und Selbstverständliches handelt. Und die angebotenen Links bestätigen, dass der Normalfall Legion ist: Das Musikinformationszentrum (miz) des Deutschen Musikrats listet allein in Deutschland 350 Musikwettbewerbe jeglicher Art auf. Musikwettbewerbe richten sich meist an junge Talente.

Der Wiki-Autor referiert die Mechanik: Die Teilnehmendenzahl „wird kontinuierlich reduziert, bis nur noch wenige ... übrig bleiben.“ Und „üblicherweise werden – wie auch bei sportlichen Wettbewerben – die drei Ersten ausgezeichnet.“ Das „öffentliche Publikum“, das Wiki für ein Wesensmerkmal des Musikwettbewerbs hält, wird vor allem in dessen „neuerer Form“, nämlich „Cas­tingshows im Fernsehen“, massiert. Zwischen den Zeilen liest sich der Normalfall so: „Ein Musikwettbewerb exhibiert vor allem junge Menschen, die sich mit musikalisch-sportiven Darbietungen in einer öffentlichen Arena vor einem mitfieberndem Publikum von über jedes Urteil erhabenen Richtern dezimieren lassen, bis drei von Ihnen das Siegertreppchen erklimmen dürfen.“ Rechnet man Aufnahmeprüfungen an Musikhochschulen sowie Bewerbungsvorspiele um Orchesterstellen oder Vorsingen an Opernhäusern hinzu, ist zu konstatieren, dass dieses Filterinstrument im professionellen Sektor der Klassikwelt ganz selbstverständlich etabliert ist und von den Kombattanden auch fraglos als das Tor zum beruflichen Einstieg akzeptiert wird. Und nach fast 60 Jahren „Jugend musiziert“ ist der Musikwettbewerb auch ein Verfahren, dem sich die Nachwuchstalente von klein auf und in der Regel erfolgreich gestellt haben. 

Zum 50. Jubiläum von „Jugend musiziert“ 2013 begann Bundespräsident Joachim Gauck als Schirmherr seine Glückwunschrede mit den Worten: „Ein halbes Jahrhundert Musik als Wettbewerbskultur.“ Dass er damit nicht meinte, die Kultur der Musik nähme im Wesentlichen durch Wettbewerbe Gestalt an, ergibt sich aus dem Kontext seiner Rede. Allein, die Selbst-verständlichkeit eines solchen präsidialen Wortes gibt zu denken. Aber seine Rede verortete den Musikwettbewerb – nein  d i e s e n  Musikwettbewerb – im Umfeld musikalischer Jugendbildung, und mit dessen Teilnehmervolumen, der Bekanntheit, Akzeptanz und vielleicht Beliebtheit  von „Jugend musiziert“ nutzte der Präsident, um mit diesem Leuchtturm nachdrücklich fordern zu können: „Musikalische Bildung in Deutschland [verdient] eine höhere Wertschätzung in der Gesellschaft.“ Dabei brauche es beides, „die Breite und die Spitze“, und „Wer Kunst in der Breite fördert, der findet auch immer wieder die Spitzentalente.“ 

Vom Mangel zum Boom

„Jugend musiziert“ kann beanspruchen, der größte Musikwettbewerb in Deutschland zu sein: 2019 nahmen 15.000 junge Musiker*innen auf Regionalebene teil, 7.400 gelangten zu einem Landeswettbewerb, 2.700 zum Bundeswettbewerb. Gemessen an den 750.000 Instrumental-Musikschülern*innen und 3.5 Millionen jugendlichen Amateurmusizierenden sind selbst solch hohe Wettbewerbszahlen „spitze“. Weil der Wettbewerb aufsetzt auf einem einzigartigen Fundament musikpädagogischer Angebote der Musikschulen, freier Musiklehrer*innen und anderer, kann er mit seinem Leistungssteigerungsprinzip ein wichtiger Impuls musikalischer Bildung sein: Wettbewerb ist Herausforderung, mobilisiert stille Reserven, manchmal ungeahnte Potenziale, lässt den Menschen im besten Falle über sich hinauswachsen. Insofern Wettbewerb in der Musik eine solche als positiv, begeisterungssteigernd und die Welt- und Selbstwahrnehmung erweiternd erlebte Reaktion bei jungen Musikern*innen auslöst, ist er eine methodisch legitime Maßnahme im musikalischen Bildungs- und Ausbildungsprozess und kann auf diesen auch positiv wieder zurückwirken.Das war nicht immer so: Als die Musikalische Jugend Deutschlands (MJD) 1960 einen ersten bundesweiten Klavierwettbewerb für die Jugend ausschrieb, kam wenig später eine Studie des Deutschen Musikrats heraus, die aufzeigte, „dass es so gut wie keinen Nachwuchs im Bereich der Streicher oder Holzbläser in Deutschland gab,“ erinnert sich Eckart Rohlfs, 1951 Gründungsmitglied der JMD und damals ihr Generalsekretär. „Daraufhin fasste man den Entschluss, einen Wettbewerb für Streicher auszurichten. Dazu hat man sich neben dem Tonkünstlerverband nach Partnern umgeschaut. Das waren in erster Linie die Musikschulen, die damals aber keineswegs Ausbildungsstätten für den Instrumentalistennachwuchs waren“. 

Zum ersten Mal fand Jugend musiziert dann im Jahr 1963/64 statt, organisiert von Eckart Rohlfs, der 1970 den bis dahin parallel laufenden Klavierwettbewerb eingliederte und 1971 dann von der JMD ganz zum Musikrat wechselte, wo er Bundesgeschäftsführer für „Jugend musiziert“ bis 1996 blieb. Mit dem raschen Ausbau des Musikschulwesens und dessen Instrumentalunterricht wurde auch der Wettbewerb zum Erfolgsmodell. Sicher war er auch umgekehrt ein Stimulus für die fortschreitende Qualifizierung der „Breitenförderung“, und die Grundintention seiner Gründer, auch den Orchesternachwuchs sicherzustellen, hat sich mehr als erfüllt. 

Dass ausgerechnet die JMD bis heute stets ein gespaltenes Verhältnis zu diesem allgemein gefeierten Spross ihrer frühen Jahre hatte, ist vielleicht verständlich, wenn man von ihrem ideellen Wertekern her die dem Musikwettbewerb als solchem innewohnende Widersprüchlichkeit gewahr wird, die sich bei „Jugend musiziert“ im einzelnen sehr volatil darstellt, in der Summe aber immerhin die Waage hält. Das Leitbild der JMD postuliert bis heute: „.Der Mensch ist Mittel- und Ausgangspunkt aller Musik.“ Daraus leitet sich ein Anspruch an die individuelle Authentizität des Umgangs mit Musik, also auch des Musizierens,  als einer sehr persönlich erlebten und weiter zu vermittelnden Begegnung mit Musik, die Garant für deren Lebendigkeit und Wahrhaftigkeit ist. Der daraus erwachsende weitere Anspruch ist der einer humanen Persönlichkeitsbildung im Wachsen an der Auseinandersetzung mit Musik mit einem hohen Qualitätsbewusstsein. An dritter Stelle geht es um die menschenverbindende Kraft der Musik und um die Gemeinschaft, die gerade bei Musizieren entstehen kann. Wer weiß, ob die JMD bis heute bei „Jugend musiziert“ geblieben wäre, wenn es nicht gelungen wäre, die Kategorie Kammermusik zu etablieren; oder wenn nicht die Be-ratungsgespräche als wohlwollendes Feedback an die jugendlichen Teilnehmenden eingeführt worden wären; oder wenn nicht in den ausrichtenden und damit auch Jury-einsetzenden Regionalausschüssen verantwortungsbewusste Musikpädagogen*innen überwögen?

Auch dann bleibt das Wettbewerbs­prinzip – im Blickwinkel eines so beschriebenen Idealistentums – ambivalent. Geht es doch beim Wettkampf (das kriegerische Wort sei einmal ge-braucht) anthropologisch-archaisch immer um Sieg und Niederlage – eine existenzielle Angelegenheit von Leben und Tod, „survival of the fittest“, der Musikwettbewerb als Kultur-Darwinismus, dessen Keule für den „Ausscheid“ das „Knock-out“-Prinzip ist. Wobei nicht nur der sportive Fitness-Aspekt für allzu Viele ein missverstandenes Wettbewerbsziel sein kann, sondern auch die „Angepasstheit“, deren Gefahr eine daran, was die Jury vermeintlich gerne hören will, konditionierte Exekution der Musik ist. Und was bleibt nicht an musikalischem Reichtum auf der Strecke, wenn ein Unterrichtsjahr lang „JuMu“-Repertoire geübt wird? Solche und andere bei einem Wettbewerb dieser Größe vorkommenden Irritationen wird ein „Jugend musiziert“ dauerhaft begleitendes Thema sein, und das Gegensteuern gegen diese „naturgegebenen“ Tendenzen muss eine Qualitätsforderung aus dem Anspruch musikalischer Jugendbildung bleiben. 

In der Musik könnten andere Auffassungen von Wettbewerb eine Rolle spielen, die von Begriffen inspiriert sind wie „competition“ (lat. gemeinsam streben) oder dem französischen „Concours“ (lat. gemeinsam laufen). Die kleine Vorsilbe „com“ trägt ein positives, ungemein motivierendes Verständnis in Wettbewerbssituationen, welches nicht das Trennende, sondern die „Kollegialität“ (lat. miteinander verbunden sein) in den Vordergrund stellt und damit auch dem Wesen der Musik als „Kommunikation“ (lat. sich verständigen) viel näher steht. 

Nachhaltig konkurrieren

Beim Bundeswettbewerb „Jugend komponiert“ für Schülerinnen und Schüler im Alter von 12 bis 21 Jahren kommen sehr individuelle Ergebnisse zusammen, die kaum messend miteinander verglichen werden können. Natürlich gibt es eine Jury, die aus 200 Einsendungen auswählt. Aber es werden 30 Preisträger*innen gekürt, ohne Siegertreppchen und Preisgeld. Alle bekommen ein Stipendium für eine der beiden jährlichen „Kom-positionswerkstätten Schloss Weikersheim“. Hier beschäftigt man sich untereinander und mit gestandenen Komponisten ernsthaft und kollegial mit den Werken, von denen junge Pro-fimusiker live eine professionelle Studio-Einspielung machen. 

Für die „Internationale Opern­akademie Schloss Weikersheim“ werden aus 200 Bewerbern*innen ca. 20 Solisten*innen ausgewählt. Hier im Jung-Profi-Bereich zählt der „Ausscheid“ schon zum Berufsalltag. Umso erfreulicher, dass es hier nicht um „fertige“ Leistungen geht, sondern um förderungswürdige Potenziale. Hier gibt es statt des 5-Minuten-Vorsingens vor einer anonymen Jury einen ganzen Workshoptag für Szene und Stimme und kollegiale Interaktion, hier interessiert die ganze Persönlichkeit, und man „gewinnt“ nicht als Einzelkämpfer. Auch wer keine Rolle bekommt, geht nicht mit leeren Händen und Herzen, ist vielmehr dankbar für dieses besondere Coaching.  

Der „Deutsche Jugendorchesterpreis“ stellt die Gemeinschaft des Orchesters in den Mittelpunkt, eventuelles Preisgeld kommt in die Orchesterkasse. Die teilnehmenden Orchester müssen ihre Konzertprojekte in drei Kategorien vorbildlich erarbeiten: musikalische Qualität, Attraktivität des Programms in Bezug auf ein selbst gewähltes Thema, das Teamwork der Orchestermitglieder in der selbstständigen Entwicklung und Umsetzung. Unterwegs können sie ein eintägiges Coaching bei der JMD bestellen. Am Ende überzeugen sie mit einem Konzert und einer Dokumentation ihrer gemeinsamen Arbeit. Auch wer keinen Preis bekommt, hat unendlich viel gelernt und die Orchestergemeinschaft belebt und einen musikalischen Sprung gemacht. Mitmachen heißt hier gewinnen. 

Von solchen Ideen geleitet kann auch ein Musikwettbewerb musikalische Jugendbildung im besten Sinne sein, als ein aufregender Weg zur authentisch erlebten Einheit von Menschen, Musik und Gemeinschaft. 

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