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Computer, Technodome und Lagerfeuer

Untertitel
David Toop surft in einem futuristischen Meer der Klänge
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David Toop: Ocean of Sound. Klang, Geräusch, Stille. Hannibal Verlag, St. Andrä-Wördern 1997, 320 Seiten, 35 Mark.Eine Reise in die Welt der Klänge, verspricht uns David Toop, der Autor des Standardwerks „Rap Attack“. Klänge, das sind für ihn Signale, die durch den Äther reisen. Die Musiker seien zu virtuellen Reisenden geworden, zu Schöpfern von Klangtheatern, die all diese Signale übertragen. Das treffe auf Debussy oder die javanischen Musiker des letzten Jahrhunderts genauso zu wie auf Edgar Varèse, Charlie Parker, John Cage, Miles Davis, Brian Eno, Sun Ra oder Brian Wilson. Sie alle hätten uns auf den „elektronischen Ozean“ des nächsten Jahrhunderts vorbereitet. Im Internet jedenfalls sind viele von Toops Helden mit eigener Webside vertreten, was seine These untermauern könnte. Du mußt Caligari werden!, hieß es in den Zwanzigern, heute kann das bedeuten: Du mußt Brian Wilson werden! Wer will, kann sich Wilsons unvollendetes „Smile“-Sound-Universum, das ihn in den Sixties an den Rand des Wahnsinns getrieben hat, heute selbst im Cyberspace zusammenbasteln und sich dabei in den „Beach Boy“ verwandeln. Ein Weg zur Entkörperlichung, den das „Netz“ unterstützt: „Indem man den Körper verläßt oder sich in einem Informationsnetz – sei es nun ein Videospiel, elektronische Spektakel, akustische und optische Versenkung, Träume oder sogenanntes Pflanzenbewußtsein – verliert: In jedem Fall fängt der nichtkörperliche Aspekt des Menschseins an, die konventionelle Vorstellung, daß das Bewußtsein im Kopf untergebracht ist, in Frage zu stellen.“ Von der Zukunft kündet Toops schamanistische Reise. Und vom neuen Menschen, dem Modernen Primitiven, wie ihn Pat Califa fordert: „Wir müssen Mittel und Wege finden, die Rhythmen der Natur mit unseren elektronischen Leben zu synchronisieren. Ein wirrköpfiges, sentimentales Verlangen nach einer bukolischen Utopie schützt uns nicht vor Giftmüll und Atomwaffen. Wir brauchen eine Welt, wo wir beides haben können, Computer und Lagerfeuer.“ Willkommen im Technodome der „vierten Welt“! Der Musiker Jon Hassell allerdings rät zu Bescheidenheit: „Man sollte angesichts unseres geringen Wissens darüber, wie sich Dinge verbinden und vermischen, sehr bescheiden und respektvoll sein ... Da bringt es viel, andere Kulturen zu betrachten, kleine Kulturen, und sich einen opus operandi für das neue Zeitalter zu überlegen, nicht für das New Age.“ Durchgeknallt waren sie alle, die genialen Soundtüftler des 20. Jahrhunderts, die das Gesicht der Pop-Musik in Trance entscheidend geprägt haben: Phil Spector, der Vater des „Wall of Sound“; der Surf-Melancholiker Brian Wilson oder der „Dub“-Zauberer Lee „Scratch“ Perry. Spector verschanzte sich mit seinem Revolver hinter dem Mischpult; „Beach Boy“ Brian war der „Idiot der Familie“ Wilson gewesen, der zwei Jahre lang nur im Bett verbrachte; Perry hat sein eigenes Studio geflutet und es dann niedergebrannt. David Toop beschreibt diese Pop-„Lunatics“ in seiner (von Diedrich Diederichsen vorzüglich übersetzten) brillanten Sound-Studie als Brüder Roderick Ushers: „Hat der Versuch, das Aufnahmestudio von seinem alten Zweck als Ort der Dokumentation zu einer wahren Wunderkammer umzufunktionieren, so viele kreative Produzenten in die Leere jenseits der Grenzen der Selbstbehauptung gestoßen? Die Grenze zwischen den Stimmen, die verwirrte oder gestörte Menschen quälen und verfolgen, und den noch nicht existierenden Klängen von nirgendwo, die man sich in Tagträumen vorstellt, und die der Abenteurer des Klangs zu duplizieren versucht, um sie greifbar zu machen, scheint nur eine sehr dünne Linie zu sein.“

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