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Salvatore Accardo mit Paganinis Violine, „Il Cannone“. Foto: Dynamic
Salvatore Accardo mit Paganinis Violine, „Il Cannone“. Foto: Dynamic
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Den eigenen Mythos überlebt

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Eine Ausstellung und eine Gesamtausgabe zu Ehren des großen Geigers Niccolò Paganini
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Noch bis zum kommenden März ist in Genua die Ausstellung „Paganini Rockstar“ zu besichtigen. An den großen Geigenvirtuosen und Komponisten erinnert das Label Dynamic mit der ers­ten Gesamtedition seiner Werke. Auf den Aufnahmen ist auch Paganinis Lieblingsvioline „Il Cannone“ zu hören.

Ein warmer, runder Geigenklang erfüllt den kleinen Saal im Palazzo Doria Tursi in der Altstadt von Genua. Konzentriert streicht die chinesische Geigerin Bin Huang den Bogen über die Saiten der Lieblingsvioline von Niccolò Paganini. 1743 von Giu­seppe Guarneri „del Gesù“ in Cremona gebaut, zählt sie zu den bedeutenden historischen Streichinstrumenten aus Italien, die noch heute gespielt werden. Und gerade in diesem Fall können sich die Zuhörer kaum dem Eindruck entziehen, eine Reliquie vor sich zu haben. „Il mio cannone violino“, wie Paganini seine Geige wegen ihres mächtigen Klangvolumens taufte, ist das wichtigste Erbstück, das er seiner Heimatstadt überlassen hat. Wann sie genau in seinen Besitz gelangte, ist nicht zweifelsfrei belegt. Wahrscheinlich erhielt er sie 1802 in Livorno als Geschenk von einem französischen Edelmann. Für den Rest seines Lebens begleitete sie ihn auf ausgedehnten Tourneen, bei denen er in Italien und vielen weiteren Ländern Europas gefeiert wurde.

Drei Jahre vor seinem Tod 1840 verfügte der Virtuose und Komponist tes­tamentarisch, dass „Il Cannone“ dauerhaft in Genua aufbewahrt werden solle. In dem prächtigen Palast, der gemeinsam mit über 40 Genueser Adelsresidenzen als UNESCO-Weltkulturerbe geschützt wird, ist das kostbare Stück normalerweise in einer Vitrine zu betrachten. In der Sala Paganini sind außerdem Hinterlassenschaften wie Autografen, Notenständer sowie ein Schachbrett nebst Figuren ausgestellt. Anders als etwa die „Dornröschen“-Stradivari von 1704, seit über 20 Jahren das Hauptinstrument der Geigerin Isabelle Faust, kommt „Il Cannone“ mittlerweile nur gelegentlich zum Einsatz. Die zuständigen Konservatoren würden sie sogar noch häufiger in der Vitrine belassen. „Diese Violine ist besonders empfindlich, weil der ursprüngliche Lack nie erneuert worden ist“, erklärt der stellvertretende Kurator Alberto Giordano, der in Genua eine Geigenbauwerkstatt betreibt. Er spricht von einem „großartigen Instrument mit einem außergewöhnlichen Klang“. „Obwohl es sich eigentlich um ein Museumsstück handelt, kann es ein guter Geiger augenblicklich zum ‚Singen‘ bringen. Der Zustand der Violine ist gut, aber wir müssen immer darauf achten, dass die Oberfläche nicht durch Hitze und Schweiß beschädigt wird“, sagt er. „Wer besonders sauren Schweiß hat, sollte lieber die Finger davon lassen.“

Eine Geige unter Polizeischutz

Das Kuratorenteam unter Leitung des US-amerikanischen Experten Bruce Carlson ist streng darauf bedacht, dass „Il Cannone“ nicht überstrapaziert wird. „Ein Musiker möchte möglichst oft ein Instrument in Händen halten, auf dem er den bestmöglichen Klang erzeugen kann. Wir wollen es dagegen in erster Linie für die Zukunft erhalten.“ Im Zuge seiner Recherchen hat Giordano genau dokumentieren können, wie sich das Äußere der Vio­line im Laufe der Jahre verändert hat. „Vergleicht man den heutigen Zustand mit dem frühesten Archivfoto von 1875, stellt man eine erhebliche Abnutzung fest.“ Bereits zu Paganinis Lebzeiten war „Il Cannone“ von dem Pariser Geigenbauer Jean-Baptiste Vuillaume repariert worden. In den 1960er Jahren wurde sie den modernen Spielbedingungen angepasst, wie Giordano in einer Expertise für das Auktionshaus Tarisio ausführte. 2004 wurden Griffbrett, Stimmwirbel, Steg und Saitenhalter nach originalen Vorbildern erneuert und unumsponnene Darmsaiten aufgezogen.

Unter Polizeischutz wurde „Il Cannone“ 1995 in das damalige Aufnahmestudio des Plattenlabels Dynamic gebracht. In der historischen Villa Quartara in den Hügeln über der Stadt, wo Dynamic bis heute seinen Geschäftssitz hat, spielte der weltbekannte Geiger Salvatore Accardo mit der Pianistin Laura Manzini Stücke für das Album „Paganini’s violin, its history, sound and photographs“ ein.

Eine CD-Gesamtausgabe

Zu seinem 40. Geburtstag brachte das Label kürzlich die erste Gesamtausgabe der Werke Paganinis in einer Box mit 40 CDs heraus. Darin enthalten sind nicht nur bekannte Stücke für Solo-Violine wie die „Capricci“, sondern auch Orchesterwerke und Kammermusik, etwa für Geige und Gitarre. Ein Großteil von Paganinis Kompositionen sei der breiten Öffentlichkeit bisher nicht bekannt, heißt es in dem Begleittext. Viele seiner Manuskripte gehörten demnach lange Zeit einem privaten Sammler, der Forschern keinen Zugang dazu gab. Und die verfügbaren Werkeditionen waren oft nicht verlässlich. Erst 1970 kehrten die unter Verschluss gehaltenen Dokumente nach Italien zurück. Die italienische Regierung erwarb alle Autografen, die seitdem in der Biblioteca Casanatense in Rom aufbewahrt werden. Sie bildeten die Grundlage für die Aufnahmen, die im Laufe mehrerer Jahrzehnte entstanden sind.

Dynamic-Geschäftsführer Alberto Dellepiane, der Klavier und Gesang studiert hat, kam vor einem Vierteljahrhundert über seine Frau in die Firma. Sein Schwiegervater Pietro Mosetti Casaretto, ein Chirurg und passionierter Geiger, hatte 1978 von dem Musikwissenschaftler Edward Neill ein unabhängiges kleines Label übernommen, das bis dahin nur sporadisch Platten veröffentlicht hatte. Unter der neuen Leitung machte sich Dynamic bald mit Instrumentalaufnahmen aus dem 18. und 19. Jahrhundert international einen Namen. „Viele Künstler gingen bei uns ein und aus, sie gehörten praktisch zur Familie“, sagt Dellepiane. Auf der ersten LP erschienen Paganinis „Variationen über Barucabà“, interpretiert von Salvatore Accardo. Andere Werke wurden beispielsweise mit den Geigern Leonidas Kavakos und Massimo Quarta, dem Bratscher Luigi Alberto Bianchi und dem Gitarristen Maurizio Preda eingespielt. Auch Bin Huang, die 1994 den Premio Paganini gewann, ist im Katalog des Labels vertreten. „Il Cannone“ hat sie seit ihrem Wettbewerbssieg mehrmals gespielt, unter anderem im Jahr 2000 in Tokio. Damals habe sie etwa eine halbe Stunde gebraucht, um das Instrument „aufzuwecken“, erklärt sie. Doch dann habe die Geige so wunderbar geklungen, wie sie es nie zuvor erlebt habe.

Live war die Musik des vielseitigen Künstlers jetzt den gesamten Oktober über bei Konzerten des Paganini Genova Festivals zu hören. Teil dieser Hommage waren auch Vorträge, Workshops und Stadtführungen, die zu Orten führten, die mit seiner Vita eng verbunden waren. Das Haus in der Altstadt, in dem er 1782 zur Welt kam, fiel zwar in den 1970er Jahren dem Sanierungswahn zum Opfer. Erhalten ist dagegen das mit Barockgemälden und Goldstuck reich ausgeschmückte Klos­ter San Filippo Neri, in der Paganini mit elf Jahren zum ersten Mal als Solist auftrat. Im Dezember 1794 spielte er auch in der Kirche Santa Maria delle Vigne, wo sich das Grab des Komponisten Alessandro Stradella befindet. Der notorische Frauenheld war mehr als hundert Jahre vorher in einer nahegelegenen Gasse von einem Auftragskiller ermordet worden, offenbar wegen einer seiner zahlreichen amourösen Eskapaden. Auch Paganini, dessen virtuose Fähigkeiten von vielen Zeitgenossen damit erklärt wurden, er habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, verfehlte seine Wirkung auf Frauen offenbar nicht. Der Ansturm auf seine Konzerte lässt rasch an Auftritte heutiger Pop- und Rockidole denken.

Ein Ravioli-Rezept

So wundert es nicht, dass eine multimediale Ausstellung mit dem Titel „Paganini Rockstar“ im Palazzo Ducale dem Mythos auf neuen Wegen nachspüren will. Um ein breites Publikum anzuziehen, das nicht unbedingt mit klassischer Musik vertraut ist, wird Paganini dem Kultgitarristen Jimi Hendrix gegenübergestellt. Niccolò Paganini sei ein echter Rockstar gewesen, und zwar bereits in einer Zeit, in der es solche Musik noch gar nicht gab, erklären die Ausstellungsmacher. „Il Cannone“ wird von ihnen gar mit Hendrix’ Fender Stratocaster-Gitarre verglichen. Beide Künstler hätten durch Virtuosität an ihrem Instrument überzeugt und in ausverkauften Sälen gespielt, heißt es. Die Ausstellung wird noch bis zum 10. März 2019 geöffnet sein. In Restaurants der Stadt kann man sich zwischendurch mit Ravioli stärken, die nach einem handschriftlich überlieferten Rezept des Komponisten zubereitet werden.

Für Paganini-Experten greift dieses auf Massentauglichkeit angelegte Konzept allerdings etwas zu kurz. Dem Musikwissenschaftler Danilo Prefumo geht es eher um eine vertiefende Betrachtung jenseits griffiger Klischeevorstellungen. Das Interesse an Paganinis Musik sei seit Jahren ungebrochen, sagt er. CDs verkauften sich weiterhin gut, vor allem, wenn unbekanntere Werke vorgestellt würden. „Früher konzentrierten sich die Leute mehr auf diabolische Aspekte, die durch Mythen und Legenden mit seiner Person verbunden wurden. Seit der Entdeckung von Werken in den 1950er und 1970er Jahren hat sich die Sicht auf Paganini verändert. Hoffen wir also, dass er mit der Zeit als großer Komponist anerkannt wird, der die Epoche der Romantik entscheidend beeinflusst hat. Schon jetzt kann man sagen, dass Paganini seinen eigenen Mythos gut überlebt hat.“


Niccolò Paganini: Complete Edition. Massimo Quarta, Salvatore Accardo, Franco Mezzena u.a.; Carlo Felice Theatre Orches­tra, London Philharmonic Orchestra u.a.; Charles Dutoit, Franco Tamponi, Antonio Plotino u.a. (40 CDs). Dynamic (Naxos)

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