Beim Musikfest „Heidelberger Frühling“ gab es im April 2006 eine Art kompositorisches „Drei-Kaiser-Treffen“: Aribert Reimann, Wolfgang Rihm und Jörg Widmann traten da als dominierende Komponisten auf, Widmann zusätzlich noch als Klarinettist – und plötzlich schienen sie imaginär nicht nur miteinander vernetzt, sondern auch mit der Vergangenheit.
So war es durchaus kein Zufall, dass einem der Titel des mittleren der drei Stücke Ligetis für zwei Klaviere in den Sinn kam: „Selbstportrait mit Reich und Riley (und Chopin ist auch dabei)“. Und leicht hätte sich das auf Widmann, „composer in residence“, ummünzen lassen: „Selbstportrait mit Rihm und Reimann, und Schubert ist auch dabei“. Oder aber auch, aus Reimanns Perspektive: „Selbstportrait mit Rihm und Widmann, und Mendelssohn ist auch dabei“. Zumindest beim Heidelberger Festival waren die drei Musiker auch interpretatorisch verbunden – durch die fabelhafte Sopranistin Mojca Erdmann, deren extrem sprungsichere Stratosphärenflüge die Komponisten in Begeisterung versetzten.
Gewiss, Reimann, Rihm und Widmann schreiben so lustvoll wie souverän für Stimmen – und dies nicht zuletzt auf der Basis höchst anspruchsvoller, mitunter introvertiert-hermetischer Lyrik. In dieser Fixierung aufs Vokale, aufs Lied, also auf Literatur-„Vertonung“, kann man einen deutlichen Traditionsbezug, ja einen Romantik-Reflex erkennen. Zumal, wenn man Helmut Lachenmanns skeptische Überlegung im Gedächtnis hat: „Im Singen liegt ein tonales Element.“
Überdies teilen die drei die Abneigung gegen „Technizismus“ aller Art, serielle Starre, exponierte Elektronik, extreme Klangverfremdung, Übergänge zu anderen Medien oder Popular-Musik. Am „Werk“-Begriff zweifeln sie nicht, Rihm zumindest immer weniger. Doch damit sind die Gemeinsamkeiten zwischen den drei Komponisten – über die wechselseitige Wertschätzung, sogar Verehrung hinaus – schon stark begrenzt. Denn Reimann erweist sich letztlich noch am stärksten dem verpflichtet, was man „Avantgarde“ nannte: postseriell extrem komplex elaborierte, „zersplitterte“ Partitur-Bilder, weitintervallig gezackte Führung der Singstimmen, oft in Septimen und Nonen, kaum historische Anspielungen oder gar Zitate, Stilkopien oder Allusionen. Reimann macht es seinen Hörern keineswegs leicht, entführt sie jedenfalls nicht in behaglich postmoderne Gefilde. Und gerade, weil seine Musik nicht aus einer Protest- oder Verweigerungshaltung heraus lebt, wirkt sie so unabweisbar unmittelbar intensiv.
Dass sie allerdings zumindest selten spröde wirkt, liegt nicht nur an seiner eminenten Erfahrung mit Aufführungsapparaten verschiedener Art, sondern auch an seinem jahrzehntelangen intensiven Engagement als Interpret. Aribert Reimann war von Jugend an ein überaus gesuchter Lied-Pianist. Als Solist freilich hat er sich, gerade in eigener Sache, zurückgehalten, aber immerhin Schönbergs Klavier-Œuvre für LPs eingespielt. Das Lied freilich blieb ihm nahe, in der sensiblen Amalgamierung von Gedicht und Musik, Stimme und Instrument, dem unerhört reichen traditionellen Repertoire wie in seinen riskanten Grenzerweiterungen – und nicht zuletzt im Schreiben auf die besonderen Qualitäten ihm vertrauter Sängerinnen und Sänger hin: Fischer-Dieskau, Barry McDaniel, Catherine Gayer. Speziell für Stimmen zu schreiben, versteht er wie wenige andere.
Das könnte die Vermutung nahelegen, Reimann sei in erster Linie ein Sensibilist der kleinen Form. Doch dem widersprechen allein schon acht große abendfüllende Opern, zusätzlich drei ausgedehnte Ballett-Kompositionen. Die Bühne hat ihn immer wieder in ihren Bann gezogen, die Interaktion von „autonomer“ Musik, Text und szenischer Konkretion, von Orchestralem und Vokalem – ein reiches System vielschichtiger Beziehungen. Züge eines Glasperlenspielers mögen ihm nicht ganz fremd sein; doch vergleichbar mit dem ähnlich aufs Theater fixierten Henze sucht Reimann die Reibung zwischen Stoff, Kompositionstechnik und Apparat – einschließlich des mehrfach zu „ergreifenden“ Publikums. Deshalb ist ihm noch weit über die sublime Lyrik hinaus an großen Stoffen gelegen, an dramatischen Fragen nach der condition humaine, am Streben nach Identifikation mit exemplarischen Unglücksfiguren, leidenden Außenseitern. So gesehen, kann man ihn gewiss als nachdrücklichen Verfechter der „Literatur-Oper“ bezeichnen.
Doch eben dieser Begriff besagt noch nicht allzu viel. Denn auch wenn Reimann an erhabenen Vorlagen festhält, am Prinzip der Text-Vertonung und des linear-narrativen Handlungsfortgangs, so lässt sich doch kaum von „Veroperung“ sprechen. Denn schlicht am Text entlang komponiert sind seine Opern kaum, die Musik behält stets ihre Eigengesetzlichkeit. Deshalb gibt es unter ihnen auch keine, gar heiteren, Nebenwerke, erst recht keine für den politischen oder pägagogischen „Gebrauch“, wie mitunter bei Henze.
Reimanns Wirken fürs Musik-Theater beginnt schon 1965 mit dem „Traumspiel“ nach Strindberg, setzt sofort mit einem geheimnisvoll-unheimlichen Stück und großem Menschheits-Aplomb ein. Geradezu ein Erfolgs-Stück wurde „Melusine“ (1971), nach Yvan Golls Metamorphose des „Undine“-Stoffs: Die Koloratur-Gespinste der Titelfigur, die magischen Klang-Oszillationen des Orchesters sind erstaunlich wenig gealtert.
Schwerstgewichtiges Zentrum des Opernwerks ist zweifellos „Lear“: Shakespeare-Adaption tosender Exzesse um die verblendet-verstoßene Vaterfigur, überdimensional sowohl im hyperexpressionistischen „O Mensch“-Aufruhr als auch in den vokalen wie orchestralen Eruptionen und Ansprüchen. Wieder Strindberg wandte sich Reimann mit der „Gespenstersonate“ zu, eher kammertheatralisch dimensioniert, während sich in den „Troades“ die Klagen der Trojanerinnen zum gigantischen Welt-Lamento auftürmen, permanenter Leidensüberdruck zu bisweilen heikler Identifikations-Verdopplung führt. Im „Schloß“, nach Kafkas Roman, geht es wieder hauptsächlich um den Schmerzensmann, doch auch burlesk-groteske Nebenfiguren treiben hier ihr irrlichterndes Unwesen.
Zwischen der siebten und achten Reimann-Oper liegen immerhin zehn Jahre, doch beide thematisieren gleichermaßen das krasse Unglück entrechteter Frauen: Sind es in „Bernarda Albas Haus“ (2000), nach Lorca, die Eingeschlossenen von Andalusien, so ist es in „Medea“ (2010), nach Grillparzer, die Ausgestoßene von Korinth. Reimanns Streben nach spanisch-schattenloser Härte, auch ein wenig Lorca-Klischee, äußert sich in der Reduktion des Apparats: vier Flügel, Bläser, Celli – ein quasi nackter, atmosphäreloser Klang. Während in „Medea“ das Orchester wieder weit reicher tönt, die Behandlung der Stimmen indes bisweilen durch Höhen-, Koloratur- und Sprung-Opulenz okkupiert wird – fast analog zu den Zwitscher-Sopranen in Rihms „Dionysos“.
Dennoch: Reimanns Opern-Œuvre ist weit gefächert, die Werke unterscheiden sich eklatant – und sie konzedieren dem Hörer kaum etwas. Vergessen darüber sollte man nicht, dass Reimann etwa in seinen Mendelssohn-Adaptionen „…oder soll es Tod bedeuten?“ für Sopran und Streichquartett Eigenes und Fremdes sublim verschränkt, ohne darüber zum Zitat-Komponisten zu werden.
P.S. Dass Reimann nun, zu seinem 75. Geburtstag, den Ernst von Siemens Musikpreis erhält, ist nur zu berechtigt, in seiner und seines Werkes Bedeutung begründet. Warum dies jedoch erst jetzt geschieht, lässt sich durchaus fragen. Noch mehr freilich wundert, dass seit 1974 nur einmal eine Frau honoriert wurde; und dann ausgerechnet Anne-Sophie Mutter. Müssen es partout immer nur die „großen“ alten Herren sein? Hätte man nicht auch einmal etwa an die Pianistin Yvonne Loriod denken können, oder an die Cellistin Natalia Gutman, an Elisabeth Schwarzkopf, Christa Ludwig, Birgit Nilsson, Joan Sutherland? Und: War die Schauspiel- wie Opern-Regisseurin, zudem Choreografin Ruth Berghaus nicht ebenso eine zentrale Figur des musikalischen Theaters?
Überblickt man die Preisträger-Liste, so erscheinen Assoziationen mit dem Heroen-Kult des 19. Jahrhunderts gar so abwegig nicht.