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Der Architekt des Überschwangs

Untertitel
Zum 200. Geburtstag des Komponisten César Franck · Von Hans-Jürgen Schaal
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César Francks Experimente mit Simultanmelodik erinnern an frühere revolutionäre Avantgardismen, wie sie einst der Komponist Anton Reicha versucht hat. Interessanterweise war Reicha der erste Kompositionslehrer Francks in Paris.

Man hat ihn gelegentlich den „belgischen Bruckner“ genannt, den „belgischen Brahms“. Einige Parallelen zum fast gleichaltrigen Komponistenkollegen Anton Bruckner drängen sich in der Tat auf. Wie dieser galt César Franck als ein etwas weltfremder, frommer, (zu) gutmütiger Einzelgänger; einer, der eigenbrötlerisch gewaltigen kompositorischen Vorstellungen nachging, ohne ihre theoretischen Grundlagen groß zu kommunizieren; einer, der eng dem Orgelspiel und der Orgelimprovisation verbunden war, also einer eher „einsamen“ Kunst. Mit seinem belgisch-germanischen Hintergrund war Franck außerdem ein ähnlich „provinzieller“ Außenseiter in Paris wie der Oberösterreicher Bruckner in Wien. Nicht zuletzt fällt auf, dass beide ihre großen, bedeutenden Werke erst in späten Jahren schufen. Franck gilt regelrecht als „Spätmeister“: Viele seiner Kompositionen wurden erst nach seinem Tod bekannt, manches (auch Frühes) ist heute noch weitgehend unentdeckt. Sein Orchesterwerk „Ce qu’on entend sur la montagne“ zum Beispiel, vielleicht die erste Sinfonische Dichtung der Musikgeschichte, wurde erst 1986 veröffentlicht. Seine Oper „Hulda“ erlebte ihre erste Inszenierung im deutschen Sprachraum 2019.

Doch wenn nicht alles täuscht, waren einige Grundzüge von Francks Komponieren schon in frühem Alter gefestigt. Bereits seine ersten Klaviertrios, die er mit 18, 19 Jahren schrieb (die Opuszahlen 1 und 2), zeigen typisch Franck’sche Charakteristika: die zyklische (satzübergreifende) Form, die intervallmotivische Geschlossenheit, die wuchernde Anlage, die an ihre Grenzen drängende Tonalität. Franz Liszt war es, der im Finale von Op. 1, Nummer 3 (in h-Moll) etwas so Eigenständiges erkannte, dass er dem jungen Kollegen nahelegte, diesen Satz doch für sich allein zu stellen – als Opus 2. Franck komponierte daraufhin für sein Opus 1,3 einen neuen Schlusssatz, eine Doppelfuge. Der Franck-Spezialist Klauspeter Bungert rechnet diese beiden Werke zu den „wagemutigsten Triokompositionen vermutlich aller Zeiten“.

Biografische Brüche

Francks Besonderheit als Komponist ist kaum zu trennen von seinem ungewöhnlichen, mehrfach gebrochenen Lebensweg. Der Vater hatte davon geträumt, ein pianistisches „Wunderkind“ großzuziehen, das die ganze Familie ernähren würde. Doch dieser Traum erfüllte sich nicht. Trotz seines großen Talents und seiner großen Hände verweigerte sich César als junger Erwachsener allen weiteren Versuchen, eine Pianistenkarriere anzustreben. Das gewinnende Brillieren am Instrument war einfach nicht seine Sache – schon früh war ihm das Komponieren viel wichtiger. Als er sich auch noch zur Heirat entschloss, wurde er vom Vater endgültig verstoßen; selbst den Kontakt zur geliebten Mutter musste er aufgeben.

Rund 30 Jahre lang hat Franck danach praktisch nichts mehr für „sein“ Instrument, das Klavier, geschrieben – der Bruch, die Verletzung gingen offenbar sehr tief. Überhaupt kam die Komponiertätigkeit für einige Zeit weitgehend zum Erliegen. Um seine junge Familie ernähren zu können, gab Franck Unterricht, arbeitete als Kirchenorganist, studierte Chorwerke ein. Mit 35 Jahren wurde er Chorleiter an der damals ganz neuen Pariser Basilika Sainte-Clotilde. Nach dem Einbau einer Orgel von Cavaillé-Coll übernahm Franck dort auch das Organisten-Amt. In dieser mittleren Lebensphase komponierte er vor allem für die Orgel und die Kirche.

Die letzte, die wichtigste Zäsur in seinem Leben erfolgte kurz nach dem Deutsch-Französischen Krieg. Franck erhielt (offenbar überraschend) eine Stelle als Orgelprofessor und damit die materielle Sicherheit, um sich wieder ganz dem Komponieren zuwenden zu können. Gleichzeitig war er Mitbegründer der Société Nationale de Musique, die eine Erneuerung der französischen Musik durch eine bewusste Ernsthaftigkeit vorsah. Francks Orgelunterricht am Konservatorium war im Grunde mehr ein Kompositionsunterricht und begründete eine „neufranzösische“ Komponistenschule. D’Indy, Chausson, Vierne, Tournemire und andere gehörten zu Francks Studenten.

In seinen letzten Jahren entstanden seine (heute) bekanntesten Werke. Darunter sind die d-Moll-Sinfonie, die Sinfonischen Variationen für Klavier und Orchester und mehrere sinfonische Dichtungen („Les Éolides“, „Le Chasseur maudit“, „Les Djinns“, „Psyché“). Außerdem: die beiden Klavier-Triptychen, die großen Orgelwerke („Trois Pièces“, „Trois Chorales“) und die wichtigsten Kammerwerke (Streichquartett, Klavierquintett, Violinsonate).    

Die Simultanmelodik

Francks Musik empfinden wir als typisch spätromantisch. Sie ist wuchtig, schwergewichtig, vielschichtig, besitzt eine geradezu wuchernde Dichte. Dahinter verbirgt sich bei Franck aber ein höchst originelles klangarchitektonisches Konzept. Dieser Komponist arbeitet selten mit Haupt- und Nebenthemen, die einander kontrastieren würden. In der Regel entspringt ein Franck’sches Werk vielmehr einer einzigen Ton- oder Intervallfolge, aus der sich alle Motive (oft satzübergreifend) entwickeln. Anstatt Themen nebeneinander zu stellen, legt Franck immer neue Themenvarianten übereinander. So entsteht ein simultanmelodischer Ablauf, der ständig komplexer wird, der klanglich und dynamisch anschwillt. Die Ausgangstonart fächert sich auf, die thematischen Gestalten werden geschichtet, ohne dass eine von ihnen eindeutig dominiert. Die daraus resultierende Harmonik ist überreich, tendiert zu Dissonanz und chromatischer Statik und sprengt die tonalen Grenzen. Das hat schon etwas von visionärer Ingenieurskunst – aber auch von rauschhafter Passion. Für Klaus­peter Bungert war Franck ein „besessener Architekt psychedelischer Musik“.

In Francks Werken verschluckt das wuchernde Simultanereignis alle anderen formalen Anlagen, die nur noch ansatzweise erkennbar sind. Die eigentliche formale Anlage ist die Dynamik einer langsam sich voranwälzenden Lawine, die immer mehr Kraft aufhäuft, immer mehr Metamorphosen und Episoden durchläuft, einem Ziel entgegenstrebt. Der Ausdruck dieser Musik hat fast immer etwas Ekstatisches und Leidenschaftliches – die Musikwissenschaftlerin Renate Groth nannte das einmal Francks „Überschwang im Experimentieren“. Anstatt von einem klaren Thema auszugehen, wachsen bei Franck die thematischen Varianten geradezu pilzartig. Seine „Musikwalzen“ kennen dabei nur eine Richtung – Wiederholungen oder Reprisen sind weitgehend ausgeschlossen. Die Entropie wächst – wie in einem thermodynamischen System. Der Prozess ist zeitlich nicht umkehrbar.

Die Umsetzung von Francks architektonischen Schichtungen in ein überzeugendes, überwältigendes Klangerlebnis stellt die Interpreten immer wieder vor Probleme. Im Grunde verlangt die Simultanmelodik, dass jede motivische Gestalt des Organismus für sich hörbar bleibt und allenfalls die jeweils neu hinzutretende Melodievariante stärker betont wird. Die Balance zwischen all diesen Stimmen zu halten ist nicht leicht, gerade im gro­ßen Orchester oder in der Registrierung der Orgelwerke. Aber auch in der Kammermusik ist die Gewichtung der Einzelstimmen ein diffiziles Unterfangen. Die Wirkungskraft von Francks Kompositionen hängt außerdem stark von der Wahl der Tempi ab. Fast scheint es, als wachse der musikalische Effekt noch durch einen gemächlicheren Vortrag. Dabei sind Francks wuchernde Werke ohnehin schon auf große Dimensionen angelegt.

Die Konsequenzen

Vielfach wurde vermutet, dass César Francks simultanmelodischer Stil – vor allem in den Spätwerken – vom Orgelspiel inspiriert ist. Dieser Komponist war in der Tat ein leidenschaftlicher Improvisator an der Orgel. Das fast endlose Verarbeiten, Verändern und Variieren von Motiven gehörte offenbar zu seinen großen Stärken. Die registerreichen Cavaillé-Coll-Orgeln, die zu Francks Zeit die Kirchen von Paris eroberten, lassen sich in diesem Sinn beinahe als Ein-Mann-Orchester beschreiben – es sind sinfonische Klangmaschinen. Auch Francks späte Orgel-Triptychen – oder Orgelsinfonien? – sind geprägt vom Druck der anwachsenden Klanggewalt, der expressiven Wucht polyphoner Motivschichtung. Die breiten Tempi – jeder der drei späten Orgelchoräle dauert rund 17 Minuten – unterstreichen die rauschhafte Wirkung. In seinen etwa gleichzeitigen Klavier-Triptychen hat Franck versucht, diese Ästhetik auf ein einziges Manual zu übersetzen. Speziell „Prélude, Choral & Fugue“ in h-Moll stellt in seiner Verdichtung höchste Anforderungen an den Pianisten. Alfred Cortot nannte diese Komposition „eines der zehn Stücke der Klavierliteratur, die ich mit auf eine einsame Insel nehmen würde“. 

Der „sinfonische Organist“ César Franck ist zum Modell geworden für Generationen französischer Musiker. Vierne, Pierné, Tournemire, Langlais, Guilmant, Messiaen, Widor, Dupré, Gigout, Boëllmann und andere führten wie Franck ein Doppelleben als Komponisten und Kirchenmusiker. Mit seinen späten Werken hat Franck der französischen Instrumentalmusik überhaupt einen enormen Schub verpasst. Seine Sinfonischen Dichtungen prägten den Impressionismus, seine Simultanmelodik inspirierte auch Kollegen wie Magnard und Roussel.

Dass die kaum mehr definierbare Tonalität der Franck’schen Wucherungen die schwebende Harmonik von Debussy vorbereitet hat, ist ohrenfällig. Wie Franck in vielen seiner Werke aus einer intervallischen Ausgangsgestalt eine Vielzahl von Motiven gewinnt, weist zudem bereits auf Schönbergs Reihentechnik voraus. Die Franck-Forschung hat außerdem Entwicklungslinien auch zu Skrjabin, Strawinsky, Ives oder Bartók gefunden.

Leseempfehlung

  • Klauspeter Bungert: César Franck. Eine analytische und interpretative Annäherung an sein Werk, Hamburg 2019

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