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Du warst einer der Ersten in den 60er-Jahren, der mit dem Aufsatz „Kommentare zur Rockmusik“ das neue Phänomen zur Kenntnis nahm. Hast du das bereut?
Der Komponist Lorenzo Ferrero traf sich in Luciano Berios Geburtshaus in Oneglia anlässlich dessen bevorstehenden Geburtstages am 24. Oktober 2000 zu einem Interview mit dem älteren Kollegen. Ferrero wurde 1955 in Turin geboren und wird zu den wichtigen italienischen Komponisten der mittleren Generation gerechnet. Sein Interview beschreibt den Blick Berios auf die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts: sachlich, offen, manchmal leicht ironisch. Es ist der Blick eines Klassikers. Im Rahmen der europäischen Kooperation zwischen der neuen musikzeitung, „Giornale della Musica“ und „Le monde de la musique“ drucken wir das Gespräch der Komponisten ab. Giornale della musica: Beginnen wir mit deinem Studium in Mailand. Luciano Berio: Durch Faschismus und Krieg hatte ich immens viel Zeit verloren. Es drängte mich zu lernen und zu entdecken. Dabei versuchte ich, da ich nicht aus einer wohlhabenden Familie kam, meinen Unterhalt selbst zu verdienen. Seitdem – vielleicht ist das eine Form von Narzismus – fühlte ich mich eher von Musikern angezogen, die arbeiten mussten, um zu überleben. In wenigen Jahren schloss ich das Studium am Mailänder Konservatorium ab und hatte sogar dazu beigetragen, dort den Lehrstuhl für Schlagzeug zu gründen. GdM: Waren deine „Schulkameraden“ wie du? Luciano Berio Foto: Charlotte Oswald Berio: Vielleicht war ich etwas anders – rastloser. Da waren Castiglioni, Donatoni – aber ich sah sie kaum. Ich arbeitete als Pianist an der Scala, beim Ricordi-Verlag, ich dirigierte manche Oper, ich spielte sogar im Teatro Lirico di Milano Pauke in einer Revue mit Wanda Osiris. In den frühen 50er-Jahren begann ich, Musik für das Theater zu machen, für den Rundfunk, später auch für das Fernsehen. Dann kam Bruno Maderna. Die Zusammenarbeit war sehr schön. Da war eine analytische Haltung zu jeder Form von musikalischer Erfahrung, auch bei der Bühnenmusik, die man ganz brutal für Geld machte. Wir hatten das, was man eine leichte Hand nennt, in wenigen Minuten schrieben wir ich weiß nicht wie viel Musik. Aber es gab immer ein Element der Suche. Wir lernten viel. Es ist schade, dass es heute weniger Gelegenheiten gibt, solche Erfahrungen zu machen. Es scheint mir weniger Kreativität zu geben, auch weil die Musik mit Keyboards und Samplern gemacht wird. GdM: Wie hast du von den berühmt-berüchtigten Darmstädter Ferienkursen erfahren? Berio: Als ich anfing, mich mit elektroakustischer Musik zu beschäftigen, hörte ich von Stockhausen, den ich bereits 1953 in Zürich getroffen hatte, von Meyer-Eppler und Eimert. Bruno Maderna sagte mir dann: „Luciano, du musst nach Darmstadt kommen“. Also fuhr ich hin, 1954, und Bruno führte „Nones“ für Orchester auf. Ich habe die Bekanntschaft mit Stockhausen vertieft und Boulez kennen gelernt, mit dem ich noch gut befreundet bin. Darmstadt bedeutete vieles, es war auch eine Art zoologischer Garten voller Missgunst, Spannungen und Emotionen, oft ohne wahren musikalischen Grund und dafür voll infantiler ideologischer Programme. Aber es gab eine sehr schöne kreative Dimension und Spannung, vor allem dank Boulez, Stockhausen und ein bisschen auch Pousseur. Man entdeckte zum Beispiel Webern als einen der wichtigsten heimlichen Bezugspunkte für die Musik des Jahrhunderts. Ich sage heimlich, weil die letzten Werke Weberns das Hören zu transzendieren scheinen: sie neigen zu einer rein konzeptionellen und spirituellen Sublimation der musikalischen Prozesse. GdM: Hattest du nie Angst, dass diese Passion für einen engen Bereich der Musik des 20. Jahrhunderts die Gefahr mit sich brachte, euch in einer beschränkten Perspektive einzuschließen? Berio: Du meinst die 2. Wiener Schule? Das war eine der reichsten, komplexesten Erfahrungen unserer Kultur, nicht nur musikalisch. Sicher, für viele junge Musiker damals und einige mutmaßliche Lehrer heute wurde sie zu einer in sich abgeschlossenen, obsessiven Erfahrung. Ich glaube fest an die Dialektik der Komplementarität. Der Adorno’sche ideologische Gegensatz zwischen Strawinsky und Schönberg zum Beispiel hat mich immer kalt gelassen. Was wäre ein 20. Jahrhundert mit Strawinsky, aber ohne Schönberg, oder mit Schönberg ohne Strawinsky! 60er- bis 80er-Jahre GdM: Du warst einer der Ersten in den 60er-Jahren, der mit dem Aufsatz „Kommentare zur Rockmusik“ das neue Phänomen zur Kenntnis nahm. Hast du das bereut? Berio:(lacht) Nein. Rockmusik war eine großartige Erfindung. ...die Beatles näherten sich der Avantgarde, Revolution Nr. 9... Weißt Du, einmal sprach ich auf einer Konferenz in London über „Laborintus II“. Auch Paul McCartney war da. Ich fragte ihn: „Warum bist du gekommen?“ „To get ideas“, antwortete er mir. Dann gab er mir ein Autogramm für meine Tochter: „From a fan of your father“. Hattest du auch den Eindruck, dass diese Musik das traditionelle Gleichgewicht zwischen E- und U-Musik durcheinander bringen könnte? Nein. Die Produktions- und Verbreitungskriterien waren besondere. Typisch für Gebrauchsmusik, wenn auch von großer Qualität und vor allem großer Originalität. Einer der charakteristischen Züge deiner Musik in den 60er-Jahren war, umfassend zu sein, Erfahrungen aufzunehmen, die außerhalb der Strenge der Avantgarde standen – Jazzelemente in „Laborintus II“ (’65), die „Folk Songs“ (’64), bis zu Mahler in „Sinfonia“ (’68). Ich wollte immer Kulturen gründlich kennen lernen, analysieren, ohne unbedingt philologisch gelehrten Kriterien zu folgen. Zum Beispiel sind meine „Folk Songs“ elf Lieder völlig verschiedener Herkunft – nein, neun, zwei „Volkslieder“ hatte ich als Junge geschrieben – und jedes Mal ist da der Wunsch, ein kleines instrumentales Gefüge in einer „kulturellen“ Weise zu behandeln, die die Wurzeln dieser Lieder beschwört. Mit Mahler im dritten Teil von „Sinfonia“ ist es ganz anders, das war eine harmonische Reise an Bord des Schiffes Mahler durch einen langen Abschnitt der europäischen Geschichte. Anfang der 70er-Jahre trat eine neue Komponistengeneration auf. War das eine Überraschung? Nein. Damals habe ich viel unterrichtet. Einige von ihnen waren meine Schüler, wie Andriessen, Reich und andere. Ich erinnere mich, dass du zuerst nicht sehr überzeugt von dem warst, was Steve Reich machte. Es gab einen Moment des Unverständnisses, denn seine Arbeit schien mir zu stark anekdotisch, aber das dauerte nicht lange. Mir gefällt seine Integrität, seine Strenge, seine Beharrlichkeit. Er hat etwas Meta-Expressives, das über die unmittelbare Ausdruckskraft hinausgeht. Ich erinnere mich, dass ich mit einer enormen Partitur kämpfte und er zu mir sagte: „Ich habe Lust, in C-Dur zu schreiben“. Ich antwortete: „Also schreibe in C-Dur!“ Aber die zeitliche Dimension seines C-Dur ist ziemlich komplex und originell. Ich habe enorme Achtung vor ihm. Wenn Komponisten eine Sprache verwendeten, die deiner ähnlicher war, schienen sie dir dann nicht interessanter? Ich habe nie in diesen Begriffen gedacht. Vielleicht ist es ein Privileg von mir, mich einer Partitur sachlich nähern zu können, ohne meine Poetik durchsetzen zu wollen. Der Minimalismus als solcher hat dich nie interessiert? Der Minimalismus als Manier nicht. Wenn er auf einer breiteren Skala aufbaut, kann er eine interessante Denkform sein. Man sagte mir kürzlich, dass ein Konservatoriumslehrer irgendwo Kurse in Minimalismus und neoromantischer Musik einrichten wolle. Das scheint mir Blödsinn. Andererseits gibt es in Amerika Schenker-Schulen und sterile hyper-serielle Schulen, die von einem etwas dummen intellektuellen Fanatismus herrühren... Vom Minimalismus kann man etwas über die Periodizität lernen, die kleinsten Verschiebungen im zeitlichen Verhältnis. Aber das reicht nicht, wenn die unauslöschlichen Wurzeln, mit denen wir zu tun haben, Bach, Mozart, Beethoven sind... Dein pianistisches Werk besteht aus kurzen, schlichten Stücken. Die Sequenz für Klavier dauert nicht länger als zehn Minuten. Wie kommt das? Das Klavier ist eins der Instrumente, die von der Musikgeschichte am meisten besetzt wurden. In gewissem Sinne ist alles, was du am Klavier machst, historisch markiert. Im Grunde sahen Stockhausen und Boulez dieses Problem nicht... Ich habe einen anderen Zugang zum Instrument. Sie haben eine formale, strukturelle Sicht. Das Instrument löst ein bestimmtes konzeptionelles Problem. Mein Verhältnis zum Instrument ist anders, idiomatischer, es ist nicht transkribierbar. Man kann es nicht ausbauen. Man kann es erweitern mit „Reisegefährten“ wie meinen „Chemins“, aber die Sache an sich bleibt an die Natur des Instruments gebunden. Du fürchtest also, da du das Instrument viel gespielt hast, dass man durch das Schreiben langer Werke damit endet, die Hände in zu präzise Richtungen zu bringen? In jeder historischen Epoche werden die Hände in einer bestimmten Art bewegt. In der Romantik gab es eine unglaubliche Einheit zwischen der Formulierung von Ideen, Expressivität, Rhetorik und Technik. Ich würde gern das technische, digitale Verhalten von der mentalen Seite trennen, eine Art Schizophrenie zwischen beiden Dimensionen erarbeiten. Aber ich weiß nicht, ob ich das schaffe – aber es interessiert mich. Also wird dein Werkverzeichnis bald ergänzt? Durch eine Sonate, eine sehr lange, die Lucchesini spielen wird.